III. Heimsuchung Sagradowkas. Gewitterschwüle vor dem Sturm. — Der Einfall: Überraschung und Vernichtung. — Gedanken über Ursache und Wirkung.

In Sagradowka wussten die Mennoniten damals noch nicht, was ihnen drohte. Seit einer Woche lag allerdings eine vorahnend drückende Stimmung auf den Gemütern. Man hatte allerlei munkeln gehört. Post, Telegraph und Verkehr gab es nicht nach auswärts, und daher konnten sie nichts Bestimmtes von der Außenwelt wissen. Aber Gerüchte waren in allen Dörfern im Umlauf. Eines schauerlicher als das andere. In der Kronauer Wollost sollten bewaffnete Banditen in einem Dorfe die Hofbesitzer zu einer Beratung zusammengerufen, sie in eine Scheune gesperrt und mit Säbeln zerhackt haben. So lautete das Gerücht. Tatsächlich sind dort aus Rache dafür, dass bei ihnen raubende Banditen erschossen wurden, mehrere Kolonisten ermordet worden.

Die Aufregung war daher allenthalben groß in Sagradowka. Reitende Späher suchten die Verbindung zwischen den einzelnen Dörfern aufrecht zu erhalten, um beim Erscheinen irgendwelcher Fremden sich gegenseitig vor Überrumpelung zu warnen.


Solchem Dienste war der nebelige Herbsttag des 29. Novembers 1919 sehr ungünstig. Gegen Mittag erschienen plötzlich viele Reiter und Droschken in dem kleinen Dorfe Gnadenfeld.

In wenigen Augenblicken war jeder Hof besetzt. Man hörte Schüsse, Wehgeschrei, dann vernahm man ein Knistern und Krachen im Gebälk, Rauch füllte die Straße und die Höfe und drang in die Gärten. Die Häuser brannten. Menschen lagen erschlagen, verwundet und verstümmelt umher.

Das war das grausige Werk einer kurzen Stunde. Und nur einigen Männern gelang es zu entkommen und ihr Leben zu retten.

Ebenso überraschend erschienen diese Unnennbaren im nächsten Dorfe Reinfeld. Auch hier wiederholte sich dieselbe grausame Begebenheit.

Darauf begaben sie sich in das größte Dorf Sagradowkas, Orloff. Im Nu waren die 41 Höfe besetzt und die Straßenausgänge von Reitern gesperrt. Niemand durfte mehr hinaus. Es kam kaum zu dramatischem Wortwechsel. Man verlangte Waffen, Geld, Speisen, dann das Leben. Oft hieben die Wilden, ohne jemand anzureden, beim Eintritt in das Haus mit Säbeln auf den Wirt ein. Sie schändeten Frauen und Mädchen, wobei auch 13jährige nicht verschont blieben. Weigerte sich ein Mädchen, wurde es getötet. In Orloff sind zwei Jungfrauen Opfer ihrer keuschen Gesinnung geworden.

Die Möbel wurden umgeworfen, zerschlagen und in den meisten Fällen als Trockenholz benutzt, um den Brand zu entfachen.

Männer, Frauen und Kinder sah man in die Gärten und auf die Felder fliehen, verfolgt von schrecklichen Reitern, die auf sie Jagd machten, wie auf Wild.

Als die Banditen dieses Dorf nach zwei Stunden wieder verließen, lagen 44 Tote und viele Verwundete in den Häusern oder auf den Höfen herum.

In gleicher Weise wurde hierauf in Tiege gehaust. Der Abend brach herein. Die wilden Gesellen ließen auch dieses Dorf in Flammen zurück und setzten ihren Hunnenzug in der Richtung auf Münsterberg fort.

Es waren hier schon am Tage Reiter gewesen, die aus dem nahen Russendorfe gekommen waren. Sie hatten sich für Weißgardisten ausgegeben, um das Verhalten der Kolonisten zu prüfen. Es war eine List, die schon viel geübt und allbekannt war. Die Reiter erwarteten offenbar, dass die Münsterberger sie als Weißgardisten mit besonderer Freude aufnehmen und sich somit als ihre Gegner verraten würden. Allein die Mennoniten verhielten sich neutral.

Niemand in Münsterberg vermutete, was darauffolgen würde. Auf dieses Hofdorf aber war es offenbar ganz besonders abgesehen.

In den vier erwähnten Dörfern wurden hauptsächlich Männer gemordet. Vereinzelt waren auch Frauen ums Leben gekommen. In Münsterberg dagegen wurden grundsätzlich alle getötet: vom Wiegenkinde an bis zum letzten Greife. Am Abend des 29. Novembers konnten sich allerdings noch manche retten. Wer sich rechtzeitig im Schilfe des Flusses oder hinter Büschen in den Gärten verstecken konnte, oder wer gar im Schutze des Nebels die Schluchten in der Nähe des Dorfes erreichte — kam mit dem Leben davon. Eine Familie gar hatte sich in den Schornstein geflüchtet, wo sie die Nacht über ausharrte.

Am 30. November kamen die Banditen aus dem Nachbardorfe noch einmal zurück, weil am Vortage wegen der feuchten Witterung nicht alle Häuser in Feuer aufgegangen waren. Es wird erzählt, die Bewohner des Nachbardorfes hätten die Banditen um die gänzliche Austilgung Münsterbergs gebeten.

Die Räuber fanden aber nicht leere Häuser. Viele Flüchtlinge waren frierend aus ihren nächtlichen Verstecken zurückgekehrt und hatten geglaubt, nun gerettet zu sein. Diesmal konnten die meisten nicht mehr entrinnen und wurden Opfer der mordenden Rotte. Einzelne wagten in Kähnen die Flucht, um das andere Ufer des Flusses zu erreichen und im russischen Dorfe bei Bekannten Schutz und Rettung zu finden. Aber nur wenige von ihnen sind am Leben geblieben. Sie wurden verraten und erbarmungslos niedergemetzelt. Das spricht wieder für die Annahme, dass die Bewohner dieses Russendorfes den Mennoniten Münsterbergs nicht wohlgesinnt waren, sonst hätten sie die Geflüchteten vor den Machno-Banditen gerettet.

Vereinzelt waren Flüchtlinge aus Münsterberg in Altonau und Blumenort angekommen. Wie ein Lauffeuer ging durch die übrigen elf Dörfer die Kunde, dass auch ihnen das Schicksal Münsterbergs drohe. In aller Eile wurden Wagen bespannt, und dann jagten die Geängsteten davon. Bald sah man auf allen Landstraßen fliehende Kolonisten. Die Armen suchten Zuflucht in den großen Russendörfern Pawlowka und Michajlowka. Häuser und Höfe waren fortan dem plündernden Raubgesindel preisgegeben.

Das Gemetzel sollte tatsächlich weitergehen.

Nicht in Altonau und Rosenort erschienen jetzt die Machnowze, wie erwartet worden war, sondern ganz überraschend in Schönau. Auch hier waren die Mennoniten fluchtbereit. Dennoch wurden sie überrumpelt.

Die großen Strohhaufen gingen in Flammen auf, und von dem Feuer wurden auch bald die Häuser ergriffen. Damit nicht genug. Auch morden wollten die Wüstlinge. Alles ergriff die Flucht. Aber die Machnowze sprengten auf ihren Pferden hinterher und machten nieder, wen sie erreichten.

Die übrigen Dörfer blieben verschont. Warum? Welcher Umstand rettete sie? Es ist nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln. Wahrscheinlich trifft die Vermutung zu, dass Weißgardisten aufgetaucht sind und durch ihr plötzliches Erscheinen die Unholde zur Flucht veranlasst haben. Übermäßig groß war die Zahl der Machnowze nicht. Augenzeugen schätzten sie auf etwa 300.

Wenig glaubwürdig ist jedoch die Annahme, dass die Freiwilligen Denikins den Kolonisten zu Hilfe geeilt seien. Wäre es in ihrer Absicht gewesen, die Mennoniten zu schützen, so hätten sie es aus der Zentrale der lutherischen Wollost tun können, wo sie in genügender Stärke lagen. Alles spricht dafür, dass die Denikin-Offiziere, die auch während des großen Krieges als Nationalisten erbitterte Feinde der fremdstämmigen Kolonisten waren, mit Schadenfreude zugesehen haben, wie jene Bestien unter den Mennoniten häuften.

Diese Ansicht wurde später des öfteren bestätigt von Leuten, die vorher den Freiwilligen großes Vertrauen entgegengebracht hatten.

Die Ereignisse seit 1914 hatten viele Anhänger des alten Regimes in nichts belehrt. Sie blieben, wie sie waren: egoistisch, rücksichtslos und dem Volke feindlich.

Dafür ein Beispiel. Einige Zeit später nahm ich einen fliehenden Offizier über Nacht in meinem Hause auf. Er sprach sich offen aus: „Wir können natürlicherweise die Fremdstämmigen nicht lieben, aber die Klugheit gebietet uns jetzt, sie für uns zu gewinnen.“ Ich verriet, dass ich ebenfalls kein Russe sei und erwiderte ihm: „Sie meinen, wenn der Mohr seine Pflicht getan hat, kann er gehen?“ Ein Achselzucken war die Antwort.

Wahrlich, die Wiederkehr des alten Regimes wäre für uns sehr wenig verheißungsvoll!

Am 29. und 30. November hatte sich das furchtbare Geschick an Sagradowka erfüllt. 214 Menschen waren umgekommen und 6 Dörfer in Asche gelegt. Verstümmelte und Geschlechtskranke blieben noch lange traurige Zeugen jenes furchtbaren Geschicks. Am meisten hatte Münsterberg gelitten. Hier waren 84 Menschen umgekommen, davon 18 Frauen und 36 Kinder. Von etwa 30 Höfen war nur einer vom Feuer verschont geblieben. Aber die russischen Nachbarn, deren Mitgefühl man hätte erwarten sollen, zerstörten auch diesen letzten Hof noch und schleppten Dach und Boden davon.

Als Münsterberg vernichtet war, beanspruchten sie das gesamte Gebiet dieses Dorfes. An der Austilgung sind sie offenbar interessiert gewesen. Es sollen auch einige bei dem Überfall mitbeteiligt gewesen sein.

Warum lag ihnen so viel an dem Dorfe Münsterberg? Die Erklärung liegt auf der Hand. Die bolschewistische Revolution erfüllte den Traum des russischen Bauern: das Land wurde gleichmäßig unter die ackerbautreibende Bevölkerung verteilt. Die Mennoniten Sagradowkas mussten dieser Neuregelung gemäß einen Teil ihres Landes abtreten. Anfangs hatten sie sich dagegen empört, denn in ihren Augen war diese Landaufteilung eine Ungerechtigkeit. Aber allmählich kam ihnen die Erkenntnis, dass sie ohne fremde Hilfe und ohne ausreichende Pferdekraft ihr Land nicht wie bisher bearbeiten konnten, denn Landarbeiter gab es nicht mehr. Ein jeder arbeitete jetzt auf seiner eigenen Scholle.

Sollte diese Besitzregelung für immer so bleiben? Diese Frage trat jedoch bald zurück vor einer anderen. Die Russen beanspruchten von den Mennoniten den Teil ihres Landes, der ihren Wohnplätzen möglichst nahelag. Das war bei der Lage der Dörfer nicht angängig. Ein zusammenhängendes Gebiet konnte die Wollost nicht abtreten. Jedes Dorf überließ innerhalb seiner Grenzen die vorgeschriebene Fläche.

Münsterbergs Untergang findet seine teilweise Erklärung in dem Streit um die Ackernähe: die Russen verdross der weite Weg, den sie nehmen mussten, um inmitten der mennonitischen Wollost Sagradowkas ihre Felder zu bestellen. Niemals jedoch hatten die Mennoniten gedacht, dass man ganze Dörfer austilgen würde, um diesen Zustand zu ändern, obwohl dergleichen Drohungen gefallen waren. Und sicherlich hätten sich die Nachbarrussen niemals zu solch einem grausamen Vorgehen entschlossen, wenn sie nicht durch fremde Hilfe ihre Ansprüche hätten befriedigen können.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mennonitentum in der Ukraine