II. Die Mennoniten Sagradowkas unter dem Einfluss der Revolution und Okkupation, Arglosigkeit der Mennoniten beim Ausbruch der Revolution. — Einfluss der Okkupation: Die Bewaffnung der Mennoniten, eine Torheit und Gefahr. — Entwaffnung und spürbare Folgen der Militarisierung. — Landfrage. — Das Verhältnis der Mennoniten zu den Weißen. Aufstand gegen die Weißen: Machno!
Die Mennoniten Sagradowkas sahen die Revolution in Russland kommen, ohne zu wissen, welche Umstände sie notwendig gemacht hatten, noch zu ahnen, wohin sie führen würde. Sie löste bei ihnen, wie bei allen deutschsprechenden Kolonisten der Ukraine, zuerst reine Freude aus: Das Enteignungsverfahren gegen sie wurde aufgehoben. Die Zarenregierung, die den skrupellosen Erlass der Enteignung und Verbannung aller Deutschrussen des Südens herausgegeben hatte, war gestürzt worden. Jeder durfte bleiben, wo er bisher gewohnt hatte. Dankbar begrüßten das die Mennoniten Sagradowkas. Sofern die Revolution ihnen günstig war, wurde sie von ihnen begriffen. Alles weitere Geschehen war ihnen unfassbar. Die Landfrage, die für den russischen Bauer so brennend war, bewegte sie zunächst nicht. Die elementare Wucht der Revolution schreckte die ahnungslosen Mennoniten. Begreiflicherweise, denn bald war es leidenschaftliche Rohheit eines verarmten und geknechteten Volkes mit niedrigem Bildungsstand, die vorherrschend wurde. Als dann die deutschen und österreichischen Truppen durch die Besetzung der Ukraine die Revolution unterbrachen, begrüßten die Mennoniten die neuen Machthaber, in deren Gunst fie bald geraten sollten. In Sagradowka hatte man sich ebensowenig um Weltpolitik gekümmert, wie in irgendeiner anderen Kolonie der Ukraine. Man ahnte daher nicht, dass die deutsch-österreichische Herrschaft nur kurz und vorübergehend sein würde.
Die Okkupationsmächte ihrerseits taten alles, um ihnen den Glauben an eine Dauer ihrer Herrschaft zu erhalten. Dies gelang ihnen umso besser, je mehr sie sie in besondere Gunst nahmen. Da die Zarenregierung die Kolonisten wegen ihrer fremden Abstammung verfolgt hatte, nahmen sie die neuen Machthaber in besonderen Schutz. Überdies waren die Mennoniten keine Revolutionäre, von denen ihnen Gefahr drohte. Waren sie doch selbst unter dem Zarenregime stets folgsame Bürger geblieben, getreu dem Spruche: „Seid Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat!“
Den Kolonisten sollte wirtschaftlich aufgeholfen werden, versprachen die Okkupationsmächte.
Die russischen Bauern dagegen sahen sich um den Erfolg der Revolution, die ihnen die Einteilung des Landes bringen sollte, betrogen. Sie waren unzufrieden, und die Gärung ging weiter. Deshalb führten die Okkupationsbehörden ihre Entwaffnung streng durch.
Den deutschen Kolonisten aber gaben sie Waffen und Munition und unterwiesen sie im Gebrauch der Waffen und in der Kriegführung. Auch Mennoniten ließen sich bewaffnen. In Sagradowka war es damit nicht anders als in der Molotschnaja und in der Altkolonie. Als ich um Weihnachten 1918 nach langen Jahren wieder nach Sagradowka kam, starrten die Kolonien von Waffen. Man hätte ausrufen mögen: „Herr, vergib ihnen, denn sie willen nicht, was sie tun!“
Sie hätten es wissen müssen! Es gab Stimmen, die ihnen den Widerspruch zum Vorwurf machten.
Durch 400 Jahre hin hatten sie sich zum Grundsatz der Wehrlosigkeit bekannt. 400 Jahre lang! Noch während des Weltkrieges war ihnen heilige Wahrheit gewesen: „Du sollst nicht töten!“ Verbrieften Rechten gemäß hatten sie ferngestanden vom blutigen Frontkampfe. In andrer Weise, in harter produktiver Arbeit, hatten sie dem Vaterlande gedient.
Für die Verweigerung des Waffendienstes haben unsere Vorfahren gekämpft und gelitten. Der Grundlatz der Wehrlosigkeit war den Mennoniten stets heilig. In ihm sehe ich die geschichtliche Bedeutung des Mennonitentums schlechthin.
Wer so dachte, hat damals mit blutendem Herzen dem Waffentreiben der Mennoniten zugesehen. ich kam damals aus deutscher Gefangenschaft zurück, wo ich den Zusammenbruch des Militarismus erlebt hatte. Hier nun sah ich, wie derselbe Geist wiedererstand. Sollte sich hier vielleicht dasselbe traurige Drama abspielen wie in Deutschland?
Jeder Militarismus ist herausfordernd, so auch hier. Freilich sollte die Bewaffnung nur ein Schutz gegen Überfälle sein. Aber die russischen Nachbardörfer fühlten sich verletzt, und die alte Feindseligkeit lebte wieder auf. Sie war im Kriege von russischen Nationalisten angefacht worden. Und die Militarisierung Sagradowkas trug nicht zur Versöhnung bei.
Das Spiel mit den Waffen machte die mennonitische Jungmannschaft, die sich von altpreußischen Offizieren drillen ließ, keck und teilweise sogar abenteuerlustig. Der Gedanke eines Kleinkrieges schien manchem Jungen geradezu verlockend.
Die russischen Bauern spürten dieses Verhalten der Kolonisten heraus, besonders, wenn es hier und da vorkam, dass deutsche Soldaten sich von Mennoniten führen ließen, so oft es galt, aufrührerische Elemente festzunehmen, die sich in Russendörfern versteckt hielten.
Als dann die unvermeidliche Niederlage Deutschlands kam, als infolgedessen auch die Ukraine geräumt werden musste und die unterbrochene Revolution mit heftiger Leidenschaft weitergeführt wurde — da sahen sich die Mennoniten in Sagradowka, wie die Kolonisten fast überall, bald gänzlich vereinsamt und umbrandet von dem Hass der russischen Nachbarn. Anfangs glaubten sie, ein Häuflein, die Banden abwehren zu können. Weil aber auch diese sich einen politischen Anstrich gaben, konnte man kaum mehr unterscheiden zwischen Banden und politischen Kampforganisationen, umso weniger, als auch letztere es an Disziplin durchaus fehlen ließen. Begreiflicherweise kamen die bewaffneten Mennoniten in Verdacht, gegen politische Parteien die Waffe erhoben zu haben und dadurch in den Bürgerkrieg eingetreten zu sein. Weil die Kolonisten nie revolutionär gewesen waren, am wenigsten die Mennoniten, galten sie jetzt umso sicherer für Anhänger des alten Regimes.—
Eines Tages sahen sich die Mennoniten Sagradowkas einem Zusammenschluss von elf angrenzenden russischen Landbezirken gegenübergestellt, die gebieterisch die Entwaffnung verlangten, weil sie angeblich sich bedroht fühlten. Da gingen den Mennoniten die Augen auf, und sie erkannten die Hilflosigkeit ihrer vereinsamten Stellung. Der investierte Militarismus war ohnehin schon vielen unheimlich geworden infolge seiner Tendenz des Über- und Unterordnens, weil er den Geist der Brüderlichkeit untergrub. Er schien ihnen für die Seele mehr Schaden zu bringen, als die Waffen Nutzen brachten für die Erhaltung ihres Lebens und der materiellen Güter. Sie atmeten daher befreit auf, als die Waffen ausgeliefert wurden.
Seitdem raubten die Banden bei den Mennoniten mehr denn je. Wir litten darunter in Sagradowka. Aber Unrecht leiden ist besser, als Unrecht tun.
Arme Russen holten sich Pferde, Kleider, Maschinen und vor allem Landbesitz, weil der Grund und Boden nationalisiert worden war. Es hieß, das Land gehöre der Allgemeinheit, und jeder, der vom Ackerbau leben wolle, habe seinen Teil daran. Gemäß dieser Verordnung mussten die Mennoniten einen Teil von ihrem Landbesitz abtreten. Ebenso erging es der benachbarten lutherischen Kolonie von elf Dörfern. Überall fügten lieh die Kolonisten nur mit großem Widerwillen dieser staatlichen Neuordnung. Sie liebten ihre neuen Ackernachbarn nicht. Es war ein bedauerliches Verhältnis zwischen ihnen. Man kann sogar von einem gegenseitigen Hass reden.
Inzwischen wogte der Bürgerkrieg auf und ab. Die Petljurowze wurden von den Bolschewiki verdrängt. Dann folgten kleinere und größere Aufstände, und schließlich im Sommer 1919 drangen die Weißen oder Freiwilligen, unterstützt von Auslandsmächten, siegreich vor.
Als auch über Sagradowka die „Weiße Welle“ kam, begingen die Mennoniten hier dieselbe große Torheit wie ihre Glaubensbrüder an der Molotschnaja: sie ließen sich als Freiwillige von den Weißen anwerben und traten damit, obgleich nicht offiziell, so doch deutlich genug zu den Gegnern der russischen Bauern über.
Aber bald genug wurde offenbar, dass die Anhänger des Generals Denikin Russland auf die Dauer nicht beherrschen würden. Sie waren reaktionär und trieben als furchtbare Rächer mit jedem neuangezündeten Dorfe die Bauern in hellen Haufen zum Aufstand. Beamte und Polizisten verfuhren derart rücksichtslos mit dem Volke, dass es den Hass der Vertreter des alten Regimes deutlich empfand. Dieser Hass aber wurde aufs heftigste erwidert.
Es waren bei den Kolonisten zumeist junge, leicht entflammte Draufgänger, voll Abenteuerluft, die sich zu den Freiwilligen schlugen. Sie begriffen weder die Seele des russischen Volkes, noch hatten sie politisches Verständnis für die Geschehnisse der Umgebung. Töricht handelten sie, denn unter dem Zarenregime waren es diese Reaktionäre gewesen, die gegen die Kolonisten mit allen Mitteln gehetzt hatten. Aber auch die Alten widerletzten sich nicht mit Entschlossenheit. Als ich vor dem Anschluss an die Weißen warnte, fand ich bei den Jungen kein Gehör und bei den Alten keine Unterstützung. Später hat man mir recht geben müssen, aber die traurige Wirkung der unbedachten Stellungnahme war da. und erwies sich verhängnisvoller als je einer ahnen konnte.
Von Tag zu Tag nahm die Aufstandsgesinnung gegen die Weißen zu. Auch in der Umgebung von Sagradowka. Weißgardisten, die in dem lutherischen Nachbarbezirk stationiert waren, nahmen Erschießungen vor in den aufrührerischen Russendörfern. Es wird erzählt, Kolonisten seien dabei beteiligt gewesen: man habe deutsche Freiwillige zu den Erschießungen kommandiert. Mennoniten sind es wohl kaum gewesen, weil zu jener Zeit niemand von ihnen sich dort befand. Es hat allerdings auch Mennonitensöhne gegeben, die unter Anführung eines hasserfüllten Großgrundbesitzersohnes, namens Wieland, bei Strafexpeditionen an Aufstandsführern Rache genommen haben. Irgendeinem Mennoniten Sagradowkas ist jedoch eine solche Handlungsweise nicht nachzuweisen.
Tadeln kann man die Mennoniten Sagradowkas dafür, dass sie zu den Waffen gegriffen haben, statt an dem Grundsatz der Wehrlosigkeit festzuhalten. Als gute Christen durften sie ihren Nächsten nicht halfen. Sie mussten ihn lieben, auch wenn er ihnen Leid zufügte. Sie aber machten gemeinsame Sache mit einer Soldateska, die wild raubte und mordete, obwohl wir den jungen Mennoniten nicht die gleiche Zügellosigkeit zutrauen dürfen. Vielen von ihnen sind über diesem wüsten Treiben die Augen aufgegangen. Sie waren unter Menschen geraten, deren Leben ihren Sittlichkeitsbegriffen widersprach.
Plötzlich flammte der Aufstand in allen Teilen der Ukraine auf. Ein ausgewiegt schlauer Räuber, der sich Anarchist nannte, machte sich diese Situation zunutze und stellte sich an die Spitze der Bewegung. Er war früher von den Weißen nach Wolhynien hinein verdrängt worden. Kühn durchbrach er jetzt die Linie der Freiwilligen und durchzog die Ukraine in raschem Zuge, überall die Fackel der Rache erhebend.
Es war Machno. Leicht fand er in den durch Krieg und Revolution demoralisierten Massen, die gründlich begriffen hatten, dass sie bisher immer und überall betrogen worden waren, solche Anhänger, die vor keiner Grausamkeit mehr zurückschreckten, am allerwenigsten jetzt, nachdem sie die Rache ihrer Gegner ausgekostet hatten.
Nun löste Machno den General Denikin in der Herrschaft ab. Es war im Herbst 1919. Machno hatte einen ungeahnten Zulauf von Bauern, die mit Denikin unzufrieden waren. Dieser hatte ihnen das Land wieder abgenommen und sie zur früheren Armut verdammt. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen.
Unter Machno, dem Anarchisten, war jedes Verbrechen erlaubt. Den Anarchismus begriff man als schrankenlose Freiheit und handelte danach. Jetzt flammte die Rache auf der Gegenseite auf.
Die oben erwähnten Erschießungen, die in einem Nachbardorfe unfern der lutherischen Wollost stattfanden unter angeblicher Beteiligung von Deutschen, sind Anlass einer Tragödie geworden. Wahrscheinlich haben die Bewohner jenes Dorfes diese Begebenheit ausgenutzt, um den aufgespeicherten Groll gegen die Deutschen jetzt zu entladen und haben die Machnobanditen herbeigerufen.
In einem Aufruf las man um jene Zeit in Chortitza, die Kolonisten bei Apostolowo hätten sich aufgelehnt gegen die Partisanen, wie die Banditen sich nannten, und Batjko Machno habe eine Expedition ausgesandt, jene Kolonisten schonungslos zu bestrafen.
Die Okkupationsmächte ihrerseits taten alles, um ihnen den Glauben an eine Dauer ihrer Herrschaft zu erhalten. Dies gelang ihnen umso besser, je mehr sie sie in besondere Gunst nahmen. Da die Zarenregierung die Kolonisten wegen ihrer fremden Abstammung verfolgt hatte, nahmen sie die neuen Machthaber in besonderen Schutz. Überdies waren die Mennoniten keine Revolutionäre, von denen ihnen Gefahr drohte. Waren sie doch selbst unter dem Zarenregime stets folgsame Bürger geblieben, getreu dem Spruche: „Seid Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat!“
Den Kolonisten sollte wirtschaftlich aufgeholfen werden, versprachen die Okkupationsmächte.
Die russischen Bauern dagegen sahen sich um den Erfolg der Revolution, die ihnen die Einteilung des Landes bringen sollte, betrogen. Sie waren unzufrieden, und die Gärung ging weiter. Deshalb führten die Okkupationsbehörden ihre Entwaffnung streng durch.
Den deutschen Kolonisten aber gaben sie Waffen und Munition und unterwiesen sie im Gebrauch der Waffen und in der Kriegführung. Auch Mennoniten ließen sich bewaffnen. In Sagradowka war es damit nicht anders als in der Molotschnaja und in der Altkolonie. Als ich um Weihnachten 1918 nach langen Jahren wieder nach Sagradowka kam, starrten die Kolonien von Waffen. Man hätte ausrufen mögen: „Herr, vergib ihnen, denn sie willen nicht, was sie tun!“
Sie hätten es wissen müssen! Es gab Stimmen, die ihnen den Widerspruch zum Vorwurf machten.
Durch 400 Jahre hin hatten sie sich zum Grundsatz der Wehrlosigkeit bekannt. 400 Jahre lang! Noch während des Weltkrieges war ihnen heilige Wahrheit gewesen: „Du sollst nicht töten!“ Verbrieften Rechten gemäß hatten sie ferngestanden vom blutigen Frontkampfe. In andrer Weise, in harter produktiver Arbeit, hatten sie dem Vaterlande gedient.
Für die Verweigerung des Waffendienstes haben unsere Vorfahren gekämpft und gelitten. Der Grundlatz der Wehrlosigkeit war den Mennoniten stets heilig. In ihm sehe ich die geschichtliche Bedeutung des Mennonitentums schlechthin.
Wer so dachte, hat damals mit blutendem Herzen dem Waffentreiben der Mennoniten zugesehen. ich kam damals aus deutscher Gefangenschaft zurück, wo ich den Zusammenbruch des Militarismus erlebt hatte. Hier nun sah ich, wie derselbe Geist wiedererstand. Sollte sich hier vielleicht dasselbe traurige Drama abspielen wie in Deutschland?
Jeder Militarismus ist herausfordernd, so auch hier. Freilich sollte die Bewaffnung nur ein Schutz gegen Überfälle sein. Aber die russischen Nachbardörfer fühlten sich verletzt, und die alte Feindseligkeit lebte wieder auf. Sie war im Kriege von russischen Nationalisten angefacht worden. Und die Militarisierung Sagradowkas trug nicht zur Versöhnung bei.
Das Spiel mit den Waffen machte die mennonitische Jungmannschaft, die sich von altpreußischen Offizieren drillen ließ, keck und teilweise sogar abenteuerlustig. Der Gedanke eines Kleinkrieges schien manchem Jungen geradezu verlockend.
Die russischen Bauern spürten dieses Verhalten der Kolonisten heraus, besonders, wenn es hier und da vorkam, dass deutsche Soldaten sich von Mennoniten führen ließen, so oft es galt, aufrührerische Elemente festzunehmen, die sich in Russendörfern versteckt hielten.
Als dann die unvermeidliche Niederlage Deutschlands kam, als infolgedessen auch die Ukraine geräumt werden musste und die unterbrochene Revolution mit heftiger Leidenschaft weitergeführt wurde — da sahen sich die Mennoniten in Sagradowka, wie die Kolonisten fast überall, bald gänzlich vereinsamt und umbrandet von dem Hass der russischen Nachbarn. Anfangs glaubten sie, ein Häuflein, die Banden abwehren zu können. Weil aber auch diese sich einen politischen Anstrich gaben, konnte man kaum mehr unterscheiden zwischen Banden und politischen Kampforganisationen, umso weniger, als auch letztere es an Disziplin durchaus fehlen ließen. Begreiflicherweise kamen die bewaffneten Mennoniten in Verdacht, gegen politische Parteien die Waffe erhoben zu haben und dadurch in den Bürgerkrieg eingetreten zu sein. Weil die Kolonisten nie revolutionär gewesen waren, am wenigsten die Mennoniten, galten sie jetzt umso sicherer für Anhänger des alten Regimes.—
Eines Tages sahen sich die Mennoniten Sagradowkas einem Zusammenschluss von elf angrenzenden russischen Landbezirken gegenübergestellt, die gebieterisch die Entwaffnung verlangten, weil sie angeblich sich bedroht fühlten. Da gingen den Mennoniten die Augen auf, und sie erkannten die Hilflosigkeit ihrer vereinsamten Stellung. Der investierte Militarismus war ohnehin schon vielen unheimlich geworden infolge seiner Tendenz des Über- und Unterordnens, weil er den Geist der Brüderlichkeit untergrub. Er schien ihnen für die Seele mehr Schaden zu bringen, als die Waffen Nutzen brachten für die Erhaltung ihres Lebens und der materiellen Güter. Sie atmeten daher befreit auf, als die Waffen ausgeliefert wurden.
Seitdem raubten die Banden bei den Mennoniten mehr denn je. Wir litten darunter in Sagradowka. Aber Unrecht leiden ist besser, als Unrecht tun.
Arme Russen holten sich Pferde, Kleider, Maschinen und vor allem Landbesitz, weil der Grund und Boden nationalisiert worden war. Es hieß, das Land gehöre der Allgemeinheit, und jeder, der vom Ackerbau leben wolle, habe seinen Teil daran. Gemäß dieser Verordnung mussten die Mennoniten einen Teil von ihrem Landbesitz abtreten. Ebenso erging es der benachbarten lutherischen Kolonie von elf Dörfern. Überall fügten lieh die Kolonisten nur mit großem Widerwillen dieser staatlichen Neuordnung. Sie liebten ihre neuen Ackernachbarn nicht. Es war ein bedauerliches Verhältnis zwischen ihnen. Man kann sogar von einem gegenseitigen Hass reden.
Inzwischen wogte der Bürgerkrieg auf und ab. Die Petljurowze wurden von den Bolschewiki verdrängt. Dann folgten kleinere und größere Aufstände, und schließlich im Sommer 1919 drangen die Weißen oder Freiwilligen, unterstützt von Auslandsmächten, siegreich vor.
Als auch über Sagradowka die „Weiße Welle“ kam, begingen die Mennoniten hier dieselbe große Torheit wie ihre Glaubensbrüder an der Molotschnaja: sie ließen sich als Freiwillige von den Weißen anwerben und traten damit, obgleich nicht offiziell, so doch deutlich genug zu den Gegnern der russischen Bauern über.
Aber bald genug wurde offenbar, dass die Anhänger des Generals Denikin Russland auf die Dauer nicht beherrschen würden. Sie waren reaktionär und trieben als furchtbare Rächer mit jedem neuangezündeten Dorfe die Bauern in hellen Haufen zum Aufstand. Beamte und Polizisten verfuhren derart rücksichtslos mit dem Volke, dass es den Hass der Vertreter des alten Regimes deutlich empfand. Dieser Hass aber wurde aufs heftigste erwidert.
Es waren bei den Kolonisten zumeist junge, leicht entflammte Draufgänger, voll Abenteuerluft, die sich zu den Freiwilligen schlugen. Sie begriffen weder die Seele des russischen Volkes, noch hatten sie politisches Verständnis für die Geschehnisse der Umgebung. Töricht handelten sie, denn unter dem Zarenregime waren es diese Reaktionäre gewesen, die gegen die Kolonisten mit allen Mitteln gehetzt hatten. Aber auch die Alten widerletzten sich nicht mit Entschlossenheit. Als ich vor dem Anschluss an die Weißen warnte, fand ich bei den Jungen kein Gehör und bei den Alten keine Unterstützung. Später hat man mir recht geben müssen, aber die traurige Wirkung der unbedachten Stellungnahme war da. und erwies sich verhängnisvoller als je einer ahnen konnte.
Von Tag zu Tag nahm die Aufstandsgesinnung gegen die Weißen zu. Auch in der Umgebung von Sagradowka. Weißgardisten, die in dem lutherischen Nachbarbezirk stationiert waren, nahmen Erschießungen vor in den aufrührerischen Russendörfern. Es wird erzählt, Kolonisten seien dabei beteiligt gewesen: man habe deutsche Freiwillige zu den Erschießungen kommandiert. Mennoniten sind es wohl kaum gewesen, weil zu jener Zeit niemand von ihnen sich dort befand. Es hat allerdings auch Mennonitensöhne gegeben, die unter Anführung eines hasserfüllten Großgrundbesitzersohnes, namens Wieland, bei Strafexpeditionen an Aufstandsführern Rache genommen haben. Irgendeinem Mennoniten Sagradowkas ist jedoch eine solche Handlungsweise nicht nachzuweisen.
Tadeln kann man die Mennoniten Sagradowkas dafür, dass sie zu den Waffen gegriffen haben, statt an dem Grundsatz der Wehrlosigkeit festzuhalten. Als gute Christen durften sie ihren Nächsten nicht halfen. Sie mussten ihn lieben, auch wenn er ihnen Leid zufügte. Sie aber machten gemeinsame Sache mit einer Soldateska, die wild raubte und mordete, obwohl wir den jungen Mennoniten nicht die gleiche Zügellosigkeit zutrauen dürfen. Vielen von ihnen sind über diesem wüsten Treiben die Augen aufgegangen. Sie waren unter Menschen geraten, deren Leben ihren Sittlichkeitsbegriffen widersprach.
Plötzlich flammte der Aufstand in allen Teilen der Ukraine auf. Ein ausgewiegt schlauer Räuber, der sich Anarchist nannte, machte sich diese Situation zunutze und stellte sich an die Spitze der Bewegung. Er war früher von den Weißen nach Wolhynien hinein verdrängt worden. Kühn durchbrach er jetzt die Linie der Freiwilligen und durchzog die Ukraine in raschem Zuge, überall die Fackel der Rache erhebend.
Es war Machno. Leicht fand er in den durch Krieg und Revolution demoralisierten Massen, die gründlich begriffen hatten, dass sie bisher immer und überall betrogen worden waren, solche Anhänger, die vor keiner Grausamkeit mehr zurückschreckten, am allerwenigsten jetzt, nachdem sie die Rache ihrer Gegner ausgekostet hatten.
Nun löste Machno den General Denikin in der Herrschaft ab. Es war im Herbst 1919. Machno hatte einen ungeahnten Zulauf von Bauern, die mit Denikin unzufrieden waren. Dieser hatte ihnen das Land wieder abgenommen und sie zur früheren Armut verdammt. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen.
Unter Machno, dem Anarchisten, war jedes Verbrechen erlaubt. Den Anarchismus begriff man als schrankenlose Freiheit und handelte danach. Jetzt flammte die Rache auf der Gegenseite auf.
Die oben erwähnten Erschießungen, die in einem Nachbardorfe unfern der lutherischen Wollost stattfanden unter angeblicher Beteiligung von Deutschen, sind Anlass einer Tragödie geworden. Wahrscheinlich haben die Bewohner jenes Dorfes diese Begebenheit ausgenutzt, um den aufgespeicherten Groll gegen die Deutschen jetzt zu entladen und haben die Machnobanditen herbeigerufen.
In einem Aufruf las man um jene Zeit in Chortitza, die Kolonisten bei Apostolowo hätten sich aufgelehnt gegen die Partisanen, wie die Banditen sich nannten, und Batjko Machno habe eine Expedition ausgesandt, jene Kolonisten schonungslos zu bestrafen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mennonitentum in der Ukraine