Vorwort

Man hat in neuerer Zeit die unvergleichlichen Verdienste Lessings um die Selbsterhebung des deutschen Geistes und um die Förderung der deutschen Literatur genau und unparteiisch geschützt und nach ihrem wahren Werte angesetzt. Auch Mendelssohn, der halbvergessene, ist bei solchen Untersuchungen wieder ans Licht getreten und ihm das Accessit neben Lessing, welches er fast verloren hatte, aufs Neue bestätigt worden. Dabei hat man den Einfluss bestimmter nachgewiesen, welchen beide Männer auf gewisse Gestaltungen in unsrer spätern Literatur geübt. Man wies es geschichtlich nach, wie der eine die große und schwere Arbeit übernommen den Boden des neuen Jahrhunderts für das nachkommende Geschlecht kämpfend zu erobern und zu ordnen, aber auch der andre, bei dem bescheideneren und leichtern Geschäfte eines Sämanns, bleibende Verdienste um die Früchte der Folgezeit sich erwarb; dass, wenn die Dichtung seit Goethe und Schiller nur auf dem von Lessing bereiteten Boden Fuß fassen konnte, die reiche Ernte der philosophischen Schule Kants zum Teil wenigstens auf die Samenlegung Mendelssohns zurückzuführen ist. Ebenso sind in Bezug auf das wichtigste menschliche Interesse, das religiöse, die Arbeiten beider näher angesehen und in mancherlei Hinsicht als die grundlegenden für das moderne Bewusstsein erkannt worden. Doch ist nach dieser Richtung hin eine Lücke geblieben. Das Judentum nämlich und seine innern Bewegungen seit dem vorigen Jahrhundert haben bei dieser sonst eingänglicheren und nach Gerechtigkeit strebenden Weise keine Betrachtnahme gefunden. Mendelssohns Verdienste um das Judentum sind zwar in Bausch und Bogen betrachtet längst Gegenstand der allgemeinen Anerkennung und besonders der Geschichtsschreiber desselben; aber auf eine spezielle Erörterung ist man auch bei ihm nicht eingegangen. Lessing hingegen hat man sich gar nicht veranlasst gesehen in ein geschichtliches Verhältnis) zu der innern Entwickelung dieser Religion zu sehen. Und doch ist hier die Einwirkung beider noch weit ersichtlicher als auf den übrigen Gebieten des neuen deutschen Geisteslebens. Müssen auf den letzteren die Fäden des Zusammenhangs mit jenen Männern erst sorgfältig und mit Vorsicht bloßgelegt werden, so treten sie fast von selbst hervor, wenn man deren religiöse Grundsätze mit denen des reformierten Judentums vergleicht.

Die Ausfüllung dieser Lücke nun übernimmt der erste Teil unsrer Geschichte der jüdischen Reformation. Er wird zeigen, wie Mendelssohn und mit ihm seine gebildeten Zeitgenossen, indem sie von den Bestrebungen ihres Jahrhunderts erfüllt wurden, zugleich ohne es zu ahnen von gewissen religiösen Vorstellungen zurückkamen, welche bis dahin im Judentum herrschend geblieben waren. Er wird weiter dartun, wie man zwar bei Mendelssohns humanen Ansichten, besonders bei seinem praktischen Verfahren, nicht aber bei feinem theoretischen, den alten Glauben negierenden Prinzip sich beruhigen und stehen bleiben mochte. Wie diese Unbefriedigtheit auch durch die positive Ergänzung, welche er im „Jerusalem“ seinem System zu geben versuchte, nur teilweise beseitigt, in der Hauptsache sogar verstärkt wurde. Wie zum Teil hieraus ein das Judentum gefährdendes Resultat erwuchs.


Er wird ferner auseinandersetzen, wie dagegen Lessing den richtigen Standpunkt aufgefunden, von welchem aus eine Reformation sich behaupten, dem Alten sein gutes Recht gelassen, dem Neuen seine volle Berechtigung zugestanden werden kann. Wie Lessing im Ganzen, Mendelssohn nur in einzelnen neben dem Hauptprinzip herlaufenden, doch immerhin höchst wichtigen Sätzen den rechten Ausdruck für das neuerwachte Bewusstsein gefunden.

Aber erst in einem später nachfolgenden dritten Teile wird unsre Reformationsgeschichte an Lessing und Mendelssohn wieder anknüpfen. Denn erst was Männer aus der Gegenwart für das Judentum geleistet haben, reiht sich den Arbeiten jener beiden Begründer einer neuen Epoche in demselben ergänzend und ausführend an. Von der Zwischenzeit, mit welcher sich der zweite Teil beschäftigen wird, sind zwar eine Menge von Tatsachen zu berichten, die von dem immer allgemeineren und entschiedenem Eintritt der Juden in die sie umringende Bildung Zeugnis geben. Die äußere Verbesserung des Gottesdienstes, glückliche Veränderungen in Schule und Haus, politische und soziale Umgestaltungen treten in keiner andern Zeit so augenfällig hervor als in ihr. Aber das innere Wachstum, welches der Grund jenes sichtbaren Umschwungs ist, diejenige Reform, welche ihr Motiv unmittelbar in dem religiösen Gedanken selbst hat, kommt erst wieder zur rechten Geltung, nachdem jenen Interessen der Bildung, der gottesdienstlichen Ordnung und der bürgerlichen Verbesserung ein gewisses Genüge geschehen ist. Erst die Männer der jüdischen Wissenschaft wie Zunz und Reggio, Geiger und Jost, und noch unmittelbarer die Männer einer tiefem Erfassung und Begründung des Judentums wie Holdheim und Einhorn, Rebenstein und Stern, kurz, erst Söhne der Gegenwart spinnen den Faden des innern Reformgedankens weiter aus.

Nach diesen kurzen Andeutungen möchte nur noch mit einigen vorläufigen Worten die Stellung gerechtfertigt werden, welche in unsrer Darstellung Lessing, der Christ, als Hauptteilnehmer an dem Begründungswerke der jüdischen Reformation einnimmt. Er selbst spricht sich über den Zusammenhang, welcher zwischen religiösen Bewegungen auf verschiedenen Bekenntnisgebieten stattfindet in folgender Weise aus: Die Fermentation geht durch die ganze Natur, da, wo sie die nämliche Mischung der Bestandteile findet. So auch mit den Religionen. Eine steckt die andere an, eine bewegt sich nie allein. Die nämlichen Schritte zur Verbesserung oder Verschlimmerung, welche die eine tut, tut die andre bald darauf gleichfalls, wie wir in der Reformation gesehen haben, (Über die jetzigen Religionsbewegungen XI., 590.) — Gilt dies nun überhaupt und kann es mit allem Fug auch auf das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum angewendet werden, so möchte man wohl von Lessing speziell nicht sagen wollen, er habe es gleichfalls nur so im Allgemeinen und mittelbar mit dem Judentum zu tun. Vielmehr nimmt er sich desselben in theologischen Schriften wie „auf dem Theater, seiner alten Kanzel“ so geradezu, so eifrig und mit so siegreichen Waffen an, dass man dies kaum von einem Bekenner jener Religion selbst in höherem Maße behaupten kann. Zugleich erscheint aber auch die ganze Zeichnung, die er vom Judentum und dessen Verhältnis zur Religion überhaupt gibt, als beziehungsweise entsprechendstes Vorbild für das Werk, welches später durch die jüdischen Reformatoren Gestalt und Wirklichkeit zu gewinnen angefangen hat und an dessen Vollendung wir noch arbeiten. Lessings Name ist daher gewiss am geeignetsten, um mit dem Einfluss des fortschreitenden Christentums auf das fortschreitende Judentum zugleich im Wesentlichen die Richtung zu bezeichnen, welchen dieser Einfluss unsrer Reformation gegeben hat.