1769–1785

Die neue Periode für Mendelssohns schriftstellerische Leistungen beginnt mit den Angriffen auf seine religiöse Stellung und mit den Zumutungen, welche christlicherseits an ihn gerichtet wurden, bei der von ihm kundgegebenen Anschauung die väterliche Religion zu verlassen und das Christentum offen zu bekennen. Der Ausgang des Jahres 1769 bildet die Grenzscheide zwischen der Periode, in welcher Mendelssohn sich der Erörterung von religiösen Fragen allgemein menschlichen Interesses überlassen und derjenigen, in welcher er den jüdisch-theologischen, zum Teil apologetischen Arbeiten seine Muße widmete. Damals war es Lavater, welcher zuerst durch einen offenen Brief den befreundeten Philosophen auch als einen christlichen Genossen zu gewinnen versuchte, indem er ihm seine Übersetzung von Bonnets „Beweise für das Christentum“ zueignete. Der Versuch misslang, aber er und was ihm folgte, wurde die Veranlassung, dass Mendelssohn von nun an der Darstellung und Verteidigung der jüdischen Religion seine Kräfte weihte. Die Begierde, sich ein System „in einander begründeter Begriffe“ zu bilden, wich nun dem Streben, das überlieferte System seiner väterlichen Religion zu begründen. Wie Goethe in seinem Leben erzählt, dass sich an seinen Prometheus die Erklärung Lessings über wichtige Punkte des Denkens und Empfindens angeschlossen und dass dieses Gedicht zum Zündkraut einer Explosion gedient, welche die geheimsten innern Verhältnisse der hervorragendsten Männer zur Sprache brachte, so kann man auch sagen, dass das Schreiben Lavater's Mendelssohn zuerst zum Aussprechen seiner innersten Überzeugungen über Judentum und Christentum bewogen habe und dass wir ohne diese und daran sich knüpfende ähnliche Veranlassungen von Mendelssohn wohl keine Schrift oder nähere Erklärung über das positive Judentum erhalten hätten.

Das erste Produkt dieser Anregung, die Antwort an Lavater selbst, verhält sich allerdings noch lediglich abwehrend und bietet, außer dem Nachweise, dass den mosaisch-jüdischen Grundsätzen der Geist der Bekehrung ganz fern und fremd sei, noch keine Aufstellung positiver Ansichten. In dem Briefwechsel mit Bonnet hingegen und in den Betrachtungen über dessen Palingenesie kommen Auslassungen zum Vorschein, welche schon auf bestimmtere Weise die Mendelssohn'sche Glaubenssphäre charakterisieren und uns zu den Gründen hinführen, aus welchen ihm die ererbte Religion im Hinblick auf das Christentum so wert und teuer blieb. Bonnet hatte die Wunder Jesu denen eines Moseh an die Seite gestellt und behauptet, wie man infolge der mosaischen Wunder an das mosaische Gesetz geglaubt habe, so sei auch die Lehre Christi durch seine göttlichen Zeichen beglaubigt. Hierauf erwidert Mendelssohn (9. Februar 1770) im Wesentlichen Folgendes: Wunder sind keine untrüglichen Beweise der Wahrheit und der göttlichen Sendung (Deuter. 13, 2. 3. 4; Matth. 24, 24.). Die Sendung Mosehs beruht auf einem weit sichereren Grunde. Die gesamte Nation war Augen- und Ohrenzeugin der Berufung. Die Israeliten sind zwar angewiesen worden, dem wundertuenden Propheten zu gehorchen, wenn er ihnen die Gesetze Gottes verkünden wird, aber dies ist ebenso ein positives Gebot, wie dasjenige auf die Aussage zweier Zeugen zu entscheiden. Sowie diese nicht untrüglich, so auch jener; aber das positive Gesetz muss in solchen Fällen tranchieren, damit wir eine bestimmte Richtschnur haben. Der Glaube durch Wunderwerke gründet sich also nicht auf Überzeugung, sondern ist Gesetz.*) — Stellt man hiermit mehrere zerstreut vorkommende Andeutungen und die obige Äußerung zusammen, dass dem Stifter des Christentums alle Hochachtung gebühre, inwiefern er nur Gott die Ehre habe zuwenden wollen, so ergibt sich die Anerkennung des auf die Belebung der erstarrten jüdischen Religion gerichteten Tätigkeit Jesu, hingegen die Abweisung aller Ansprüche, inwiefern dieselben gegen die bestimmte Erklärung Deut. 13, 2. 3. 4 erhoben werden. In den Betrachtungen über Bonnet's Palingenesie wird dieser Gedanke weiter ausgeführt und die Worte und Handlungen, durch welche von Seiten des Christentums das mit deutlichen Worten Verkündete in den Gesetzen Moseh's solle aufgehoben werden, als für diesen Zweck unzureichend bezeichnet. In der Sendung Moseh's kommen alle Zeugnisse, so sehr sie sich auch sonst widersprechen mögen, überein. Ich habe also eine Geschichtssache, an die ich mich sicher halten kann. Was ihr widerspricht, ist Unwahrheit. Gott hat in einer großen öffentlichen Erscheinung vernehmliche Worte gesprochen, er würde in einer ebenso großen öffentlichen Erscheinung durch vernehmliche Worte sein Gesetz aufgehoben haben. Die Lehrer der christlichen Religion wollen aber durch unbestimmte Worte und Handlungen aufgehoben wissen, was mit ausdrücklichen Worten verkündet worden, ist, sie wollen Glauben für Tatsachen, bei denen Zeugnis gegen Zeugnis steht. Mit demselben Rechte könnte man Sabbathai Zevi als Messias anerkennen, der Tausende von Anhängern in unsern (Mendelssohns) Zeiten gewonnen, welche Alle die Wunder desselben mit eignen Augen gesehen haben wollen. Betrachtet Mendelssohn aber den Inhalt der neuen Verkündigungen, abgesehen von der Form ihres Auftretens, so stört ihn von vornherein das Verlangen des Glaubens als Bedingung zur Seligkeit. Er wolle alle unter dem Zeugnis des Wunders gegebenen Wahrheiten glauben, die der Vernunft nicht widersprechen, so insbesondere die künftige Glückseligkeit der Menschen, welche das Christentum in Übereinstimmung mit den alten Propheten lehre, aber nicht, dass diese Glückseligkeit nur diejenigen haben werden, welche, das historische Zeugnis davon annehmen. Das sei eine Last, darunter die menschliche Vernunft zu Boden liege. Das Judentum lehre, dass alle Menschen selig leben, wenn sie dem Gesetze der Vernunft gehorchen (den 7 noachidischen Geboten)**) und dass Gott nur den Israeliten befohlen habe, nach ganz besondern zu leben. Die besondere Gesetzgebung für ein bestimmten Volk zu bestimmten Zwecken sei hingegen mit der Vernunft vereinbar.***) Ebenso erklart Mendelssohn die übrigen Dogmen des Christentums nicht annehmen zu können. Gott, Vorsehung und Gesetzgebung sind die drei Hauptgrundlagen des Judentums, auf denen es sich mit Befriedigung ruhen lässt. Die Gerechtigkeit, welche von Christo zu Gunsten der Gnade aufgehoben worden, ist die Gnade und Güte selbst; denn die Strafe gehört zum natürlichen Wohl des Sünders. Noch stärker lautet die Erklärung an den Erbprinzen von Braunschweig: „Wenn ich diese Lehren (des spezifischen Christentums) im Alten Testament fände, so würde ich auch das A. T. verwerfen müssen, und wenn ein Wundertäter, sie zu bewähren, vor meinen Augen alle Toten erweckte, so würde ich sagen: der Wundertäter hat Tote erweckt, aber seine Lehre kann ich nicht annehmen.“ Nach Mendelssohn wäre demnach derjenigen Seite des Christentums Anerkennung zu schenken, welche das althergebrachte Judentum zu verjüngen, zu beleben und in die Herzen derer einzuführen unternahm, die es nur äußerlich bekannten. Nicht minder haben ihm die universellen Bestrebungen des Christentums, die jüdische Lehre zum Gemeingut mit den Heiden zu machen, gerechten Anspruch auf den gewonnenen Ruhm und den Dank aller Zeiten. Allein im Gefolge des Christentums treten außer der veränderten Grundanschauung, der Dreieinigkeit, Glaubenszwang, Erbsünde, Genugtuung des Sohnes Gottes für die sündige Menschheit, Sakramente, als ebenso viele die Vernünftigkeit des jüdischen Dogmas alterierende Dogmen auf. Die jüdischen Religionswahrheiten hingegen bestehen als strenge Folgerungen aus den Grundbegriffen der Vernunft selbst.


*) Vergl. „An die Freunde Lessings“ III.. 13: Das Judentum befiehlt

**) 1. Enthaltung vom Götzendienst; 2. von Gotteslästerung; 3. von Blut, vergießen; 4. von Blutschande; 5. von fremdem Gute; 6. die Handhabung der Gerechtigkeit; 7. das Verbot, von lebendigen Tieren zu essen.

**) III., l45: Er hat den Israeliten eine Offenbarung gegeben, nicht, weil die Menschen als Menschen ohne Offenbarung nicht glückselig sein könnten; sondern weil es seine weisen Absichten so erforderten, dieses besondere Volk einer besonderen Gnade zu würdigen.


Sie seien eigentlich überhaupt nichts weiter als die zur Sprache gebrachten Wahrheiten der natürlich-menschlichen Denkkraft und was im Judentum über die natürliche Religion hinausgehe, sei nicht geoffenbarte Religion, denn diese besäßen alle Menschen, sondern geoffenbartes Gesetz, „Ich glaube nicht, dass die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlich sind und dass Gott ihnen solche auf übernatürliche Weise habe offenbaren müssen,“ Dieser dem „Jerusalem“ entnommene Satz führt uns auf die Konstruktion des Judentums, wie sie dort in ausführlicher Weise gegeben ist,*) Nachdem im ersten Teile die Behauptung aufgestellt und erwiesen worden, dass es keine andere „religiöse Macht“ gebe als Belehrung und Ermahnung, dass nur der Staat und auch dieser nur zu gemeinnützigen Handlungen zwingen könne, nicht aber die Religion, deren einzige Waffen Gründe und Überzeugungsmittel seien und die nicht zeitiges Gut als Lohn, nicht zeitige Entziehung als Strafe reiche, knüpft der zweite Teil an gewisse Einwürfe, insbesondere an die Äußerung eines gewissen Mörschel an, welcher Mendelssohn jeden Offenbarungsglauben absprach, weil dieser in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Manasseh ben Israels Rettung der Juden von den ewigen Wahrheiten der Religion geredet, Toleranz für alle Glaubensrichtungen gefordert und namentlich geäußert hatte, dass das Andachtshaus der Vernunft keiner verschlossenen Türen bedürfe und Niemandem den Eingang zu verhindern habe. Ich muss seinem spähenden Blick Gerechtigkeit widerfahren lassen, erwidert Mendelssohn, er hat zum Teil nicht unrecht gesehen. Es ist wahr: ich erkenne keine andre ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könne dieses nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dies vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion und glaube, dass diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitigen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Moseh auf eine wundervolle und übernatürliche Weise geoffenbart worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbart der Ewige uns wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. Nun wird der Unterschied zwischen ewigen Wahrheiten, d. h. den Wahrheiten der Vernunft und Natur, von denen die einen aus dem göttlichen Verstande, die andern aus dem göttlichen Willen entspringen, und zwischen zeitlichen oder Geschichtswahrheiten entwickelt. Sowie sie ihrer Natur nach verschieden sind, sind sie auch in der Art, wie die Menschen zur Überzeugung davon gelangen, verschieden. Der Unterricht über Vernunftwahrheiten bestehet, wie Sokrates gar wohl gesagt, in einer Art Geburtshilfe. Wir können in den Geist nicht hineinlegen, was er nicht schon hat, wir können ihm nur die Anstrengungen erleichtern, die es kostet, das Verborgene an das Licht zu bringen. Zu den Wahrheiten der Natur gelangen wir durch Beobachtung und Versuch, es sind die Gesetze, welcher der Schöpfer nach seiner Weisheit der Natur vorgeschrieben hat. Von den Geschichtswahrheiten hingegen können sich, die nicht Augenzeugen sind, nur durch Zeugnisse überführen. Zu den ersten oder notwendigen Wahrheiten hat Gott den Menschen den erforderlichen Grad der Vernunft, zur Erkenntnis der zweiten oder der Naturgesetze den Geist der Beobachtung verliehen; soll eine Geschichtswahrheit aufbehalten werden, so bestätigt er ihre Gewissheit, indem er die Glaubwürdigkeit der Erzähler über alle Zweifel setzt. Nur in Absicht auf Geschichtswahrheiten ist es der allerhöchsten Weisheit anständig, die Menschen auf menschliche Weise, durch Worte und Schrift, zu unterrichten und zur Bewährung ihrer Glaubwürdigkeit außerordentliche Dinge und Wunder in der Natur geschehen zu lassen. Jene ewigen Wahrheiten hingegen lehrt Gott auf eine der Gottheit gemäßere Weise, durch die Schöpfung selbst und ihre innerlichen Verhältnisse, die allen Menschen leserlich und verständlich sind. Nach den Begriffen des wahren Judentums sind alle Bewohner der Erde zur Glückseligkeit berufen und die Mittel dazu so ausgebreitet als die Menschheit selbst. So oft es nützlich war, hat die Vorsehung weise Männer aufstehen lassen, mit hellerem Auge begabt, um ihre Erkenntnisse Andern mitzuteilen. In allen Zeiten ist dem Irrtum die Berichtigung gefolgt und in dem nach entgegengesetzten Seiten hin Übertriebenen ist immer das Vorurteil von der Wahrheit getrennt worden, damit letztere Bestand habe, wenn ersteres verworfen werde. Mendelssohn erklärt geradezu von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sein verewigter Freund Lessing sich habe einbilden lassen, keinen Begriff zu haben. Der Fortgang ist nur für den einzelnen Menschen, aber dass auch das Ganze sich vervollkommnen soll, scheint mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu sein. Der Mensch geht weiter, aber die Menschheit schwankt beständig und hat in allen Perioden ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion und Irreligion. Das Judentum rühmt sich daher keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind, keiner geoffenbarten Religion, sondern geoffenbarter Gesetzgebung.**) Diese Gesetze nun gründen sich auf Geschichtswahrheiten wie auf jene: ich bin der Ewige Dein Gott, der Dich aus Ägyptens Sklaverei geführt, oder auf Vernunftwahrheiten, die an uns selbst appellieren, oder sie sind gegeben, um zum Nachdenken über beide zu erwecken. Alle drei Kategorien aber lauten: du sollst thun oder nicht thun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine andern Befehle an als die den Weg der Überzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Tatkraft des Menschen gerichtet; Belohnung und Strafe gelten den Handlungen, die in des Menschen Willkür stehen, nicht dem Glauben und Zweifel, die von dem Maße unsrer Erkenntnis abhängen. Daher hat auch das alte Judentum keine symbolischen Bücher, keine Glaubensartikel. Das Cerimonialgesetz, welches die Geschichte zum Grunde, die Erweckung des Nachdenkens zum Zwecke hat, ist eine lebendige Geist und Herz erweckende Art von Schrift, Alles ein Fingerzeig auf religiöse Lehren und Gesinnungen. Diese Sprache war aber jedenfalls zweckmäßiger als die gangbare Zeichen- und Schriftsprache, aus welcher sich durch Missverständnis; der Götzendienst gebildet hat, indem man das Zeichen der Bilderschrift für die Sache selbst nahm und so die Verehrung, die man beispielsweise den Eigenschaften von Macht und Weisheit zu zollen hatte, welche unter der Gestalt eines Bären und einer Schlange dargestellt wurden, nun auf diese Tierbilder oder Tiere selbst übertrug. Wirklich legte die Geschichte einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten zurück, in denen Menschen, Tiere und Pflanzen als Gottheiten verehrt und der Götzendienst zur herrschenden Religion auf Erden geworden, weil die Bilder ihren Wert als Zeichen verloren hatten. Man schlachtete, nach der Antithese des Propheten, Menschen, um sie dem angebeteten Vieh zu opfern. Darum fasste eine gewisse Schule der Weltweisen den Entschluss, die abgesonderten Begriffe der Menschen an solche Schriftzeichen zu binden, die für nichts Anderes genommen werden konnten, an Zahlen. Aber der Missverstand suchte dann wieder in diesen Zahlen alle Geheimnisse der Natur und der Gottheit und schrieb ihm allerlei wundertätige Kraft zu. Abraham aber und seine Nachkommen sind dem Ewigen treu geblieben und suchten ihre lautern Religionsbegriffe bei ihren Nachkommen zu erhalten. Deshalb ward diese Nation von der Vorsehung ausersehen, eine priesterliche Nation zu sein und durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch ihre Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veränderungen immer auf gesunde unverfälschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinzuweisen. Um aber den Mängeln abzuhelfen, welche in der zum Götzendienst verleitenden Bilderschrift, aber auch in unsrer alphabetischen Schreiberei liegen, die uns wieder zu spekulativ macht oder uns der Mühe des Forschens ganz überhebt und die zwischen Lehre und Leben eine gar zu weite Trennung bewirkt, gab der Gesetzgeber jener Nation das Cerimonialgesetz. Die große Maxime dieser Verfassung scheint gewesen zu sein: die Menschen müssen zu Handlungen getrieben, zum Nachdenken nur veranlasst werden. Daher jeder vorgeschriebene Gebrauch seinen gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Erkenntnis der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung stand und den Wahrheitstrieb dazu hinleitete. Die Handlungen sind vorübergehend, können also nicht wie die Bilderschrift durch Missbrauch zur Abgötterei führen. Das Cerimonialgesetz war das Band, welches Handlung mit Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte. Die Vergehungen gegen die mosaischen Gesetze wurden aber deshalb von der Obrigkeit bestraft, weil Staat und Religionsgemeinschaft zusammenfiel. Staat und Religion waren in dieser ursprünglichen Verfassung nicht vereinigt, sondern eins; nicht verbunden, sondern ebendasselbe. Gott war zugleich der König dieser Nation. Daher gewann das Bürgerliche ein heiliges und religiöses Ansehen und bis auf die geringste Polizeianstalt war Alles gottesdienstlich. Mit Zerstörung des Tempels jedoch haben, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, alle Leib- und Lebensstrafen, ja auch Geldbußen, insoweit sie bloß national sind, aufgehört Rechtens zu sein. In dieser traurigen Zeit, da fortwährende Kollisionen zwischen Staat und Religion eintraten, gab der Stifter des Christentums den vorsichtigen Bescheid: gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gotte, was Gottes ist. Und noch jetzt kann dem Hause Jacobs kein weiserer Rat erteilt werden, als eben dieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut ihr könnet! In der Tat sehe ich nicht, wie diejenigen, die in dem Hause Jacobs geboren sind, sich auf irgend eine gewissenhafte Weise vom Gesetze entledigen können. Es ist uns erlaubt, über das Gesetz nachzudenken, seinen Geist zu erforschen, hier und da, wo der Gesetzgeber keinen Grund angegeben, einen Grund zu vermuten, der vielleicht an Zeit und Ort und Umstände gebunden gewesen, vielleicht mit Zeit und Ort und Umständen verändert werden kann — wenn es dem allerhöchsten Gesetzgeber gefallen wird, uns seinen Willen darüber zu erkennen zu geben, so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als Er das Gesetz selbst gegeben hat. So lange dieses nicht geschieht, so lange wir keine so authentische Befreiung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernünftelei nicht von dem strengen Gehorsam befreien, den wir dem Gesetze schuldig sind, und die Ehrfurcht vor Gott ziehet eine Grenze zwischen Spekulation und Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten darf.***) So hat auch Jesus von Nazareth selbst nicht nur das Gesetz Mosehs, sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu sein scheint, stimmt, genau untersucht, nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit der Überlieferung völlig überein Er hat augenscheinlich den rabbinischen Grundsatz angenommen: Wer nicht im Gesetz geboren ist, darf sich an das Gesetz nicht binden; wer aber im Gesetze geboren ist, muss nach dem Gesetze leben und sterben.

*) Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Berlin, bei Friedrich Maurer, 1783.

**) a. An die Freunde Lessings S. 13: Das Dasein und die Autorität des höchsten Gesetzgebers muss durch die Vernunft erkannt werden und hier findet nach den Grundsätzen des Judentums — keine Offenbarung und kein Glaube statt. — b. Hierher gehört auch die Bemerkung im Jerusalem S. 319 f. die Stimme auf Sinai habe nicht gerufen: Ich bin der Ewige, das notwendige selbständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt. Dieses wäre allgemeine Menschenreligion, ohne welche man weder tugendhaft noch glückselig werden könne. Solche Sätze müssten vielmehr vorbereitend vorangegangen und durch menschliche Gründe außer Zweifel gesetzt sein, damit die Geschichtswahrheit: Ich bin der Ewige, Dein Gott, der Dich aus der Sklaverei Mizraim's geführt — habe wirksam belehren können.

***) Was die Gesetze Mosehs betrifft, so glauben wir, dass sie in Absicht auf uns im strengsten Verstande verbindlich sind. — Wir wissen zum Teil ihren Nutzen nicht mehr? Ganz recht! Wo hat aber der Gesetzgeber erklärt, dass sie nicht länger verbindlich sein sollen, als uns ihr Nutzen bekannt sein wird? Menschliche Gesetze können von Menschen umgeändert werden, die göttlichen bleiben unverändert, bis eine völlige Überzeugung da ist, das Gott ihre Abänderung bekannt gemacht habe. (III., 166.)


Den Schluss des Buches bildet die Beantwortung der Frage, wie denn nun aber der Satz des Propheten, dass dereinst nur ein Hirt und eine Herde sein soll, könne verwirklicht werden. Dieser Satz wird nicht in dem Sinne erklärt, als ob einst alle Menschen dieselben Religionsbegriffe erhalten müssten, sondern in dem Sinne der gegenseitigen Achtung und Liebe auf dem Grunde der Anhänglichkeit an den Vater aller Menschen. Glaubensvereinigung sei der ächten Duldung gerade entgegengesetzt und es solle keine Übereinstimmung erlogen werden, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung sei. –

Wir haben den Gedankengang des „Jerusalem“ geflissentlich mit größerer Ausführlichkeit dargelegt, weil in ihm die Summe der Mendelssohn’schen Religionstheorie gegeben ist und weil sich fast an jeden der angeführten Sätze später wird anknüpfen lassen. Zunächst ist zu bemerken, dass auch dieses Werk, inwiefern in ihm rationelle Grundlagen für religiöse Vorstellungen enthalten sind, noch ganz auf den Voraussetzungen der Leibnitz’schen Spekulation, des englischen Deismus und des Reimarus’schen Vernunftglaubens ruhet, obgleich Lessing bereits ganz neue Gesichtspunkte hatte blicken lassen. Ohne diese zu würdigen ergänzt und berichtigt Mendelssohn nur das Frühere. So klingt von vorherein die Stelle über Ewige und Vernunftwahrheiten ganz wie eine verbesserte Umarbeitung jener Einteilung in Leibnitz, discours de la cobformité de la foi avec la raison §. 2.

Diese Auseinandersetzung hat offenbar derjenigen Mendelssohns (III., 312) vorgelegen und er reproduziert sie, nur dass er mit größerem Recht die ewigen Wahrheiten das Allgemeine und die Vernunft- und Naturwahrheiten ihre Teile sein lässt, während Leibnitz Ewige und Naturwahrheiten unter die Rubrik der vernünftigen bringt. Ebenso ist seine Meinung über die Offenbarung der mosaischen Gesetze entschieden auf den von Hermann Samuel Reimarus behaupteten Satz, zurückzuführen, dass die mosaischen Gesetze nicht gegeben sind, nm l eine Religion zu offenbaren.*) Reimarus hatte zu diesem Zwecke nachgewiesen, dass in denselben die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, von Belohnung und Bestrafung nach dem Tode fehle. Mendelssohn nimmt auch diesen Satz an, erweitert ihn jedoch, indem er, wie wir gesehen haben, ausführt, eine Religion, inwiefern sie Vernunftwahrheiten enthalte, könne überhaupt gar nicht offenbart werden. Dies sei Gott nicht anständig, sondern die beseligenden allgemein gültigen Wahrheiten schreibe er ins Herz und teile sie aller Welt mit, jedem nach seinem Maße und Verständnis, durch die Natur und ihre offenbaren Verhältnisse. Nur Geschichtswahrheiten mache er durch Wort und Schrift bekannt und bestätige ihre Glaubwürdigkeit durch Wunder. Das System endlich, wonach ursprünglich die wahre und ächte Religion Eigentum der ganzen Menschheit gewesen, durch Verderb und Pfaffenlist jedoch in Götzendienst umgeschlagen sei, gehört den Engländern an. Hettner im dritten Kapitel seiner Literaturgeschichte,**) wo er die englischen Deisten Collins und Toland bespricht, sagt von letzterem: Toland hat, wie alle seine Zeitgenossen, keinen Begriff vom Wesen der geschichtlichen Entwickelung. Er fühlt nicht, dass die gesamte Geisteswelt, und also auch die Welt der Religion, sich erst allmählich und stufenweise aus dunkeln Anfangen zur hellen Erkenntnis herausarbeiten muss, sondern er haftet an der beschränkten Ansicht, dass, was er selbst für Wahrheit erkannt hat, nun auch zu allen Zeiten und an allen Orten von den Verständigen als Wahrheit erkannt war. Findet er also nichts desto weniger sehr verschiedene, und von dem, was er als Wahrheit erkannt hat, sehr abweichende Religionen, so hat er für diese unleugbare Erscheinung nur einen einzigen Erklärungsgrund. Er bezeichnet diese Religionen alle für eitel Trug, von Priestern und Politikern eigens erfunden, um die blinden Massen zu lenken und zu zügeln.“ Von einer solchen Beschränktheit kann man auch Mendelssohn nicht freisprechen, der jene Ansicht gleich den übrigen Popularphilosophen teilt,***) so sehr er auch sonst an Tiefe der Auffassung dieselben übertrifft. Aber auch hier wieder macht er eine weitergehende Anwendung, indem er dem Judentum eben die Eigenschaft zuschreibt, durch seine ganze Verfassung und insbesondere durch das Cerimonialgesetz auf den Weg der Wahrheit zurückgeführt zu haben und durch letzteres auf ihm zu erhalten.

Aus diesen Zusammenstellungen sollen diejenigen meiner Leser, welche anzunehmen gewöhnt sind, dass Mendelssohn nur aus der Lehre des Judentums heraus seine Ansichten über diese Religion selbst geschöpft habe, erkennen, wie er vielmehr erst mit Hilfe der demselben ganz abgekehrten Theorien, welche die Zeitansicht reproduzierten, seine religiöse ihn selbst befriedigende Stellung gefunden und wie die Apologie des Judentums bei ihm in engster Verknüpfung mit der auf fremden Gebieten erworbenen Einsicht gestanden habe.

Was die später erschienenen Schriften betrifft: die Sache Gottes oder die gerettete Vorsehung 1784, Morgenstunden 1785, An die Freunde Lessings 1786, so genüge hier von ihnen bemerkt zu haben, dass sie zwar wie gesagt auf die Lehre des Judentums Rücksicht nehmen und mit der Sache desselben in engern Zusammenhang gebracht sind, aber doch insofern an die Schriften der ersten Periode sich anschließen, als sie den ausgesprochenen Zweck verfolgen „die Wahrheiten der natürlichen Religion zu verteidigen.“

*) Schon im Anfang zum Phädon bekennt Mendelssohn, die mehrsten Gründe seines dritten Gesprächs aus (Baumgartens Metaphysik und) Reimarus' vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion entlehnt zu haben.

**) Hermann Hettner, Literaturgeschichte des 18ten Jahrhunderts, Erster Teil, die englische Literatur von 1680—1770. Vergl. auch Lechler, Geschichte des englischen Deismus.

***) Da Aberglaube, Pfaffenlist, Geist des Widerspruchs und Sophisterei uns durch so vielerlei Spitzfindigkeiten und Zauberkünste den Gesichtskreis verdreht und den gesunden Menschenverstand in Verwirrung gebracht haben, so müssen wir ihn, wieder zu Hilfe kommen, (III., 15.) Vergl, auch III., 333 und 337, sowie besonders weiter unten den Brief an Herz Homberg vom 22. September 1783.

Lavater, Johann Caspar (1741-1801) reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller aus der Schweiz

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