Mendelssohn

Dass man Moses Mendelssohn in der neusten Geschichte des Judentums so bereitwillig den ersten Platz überlässt, rührt zunächst nicht sowohl von der Fülle neuer Gedanken her, die er auf diesem Gebiete entwickelt hat, als vielmehr von dem günstigen und weitgreifenden Einfluss, den er durch sein tätiges Verhalten inmitten der bestehenden religiösen Gegensätze übte, nachdem er auf anderen Gebieten bereits einen bedeutenden Namen errungen. Seine den besondern Fragen der jüdischen Theologie gewidmeten Schriften sind viel späteren Datums und mit Recht als unzureichende Begründungen desjenigen angefochten worden, was er lebend und ausübend so glücklich traf und was er in kleinern Streitschriften so siegreich verteidigte. Aber dies sein Leben und Beispiel, insbesondere die mit hohem Bewusstsein eingenommene friedliche Stellung unter den feindlichen Lagern des Judentums und des Christentums war eine neue fast wunderbare Erscheinung und sie hat das ersprießliche Samenkorn der Verständigung ausgeworfen, dessen Frucht noch heut alle Erleuchteten zu zeitigen bemüht sind. Mendelssohns Leben bietet einen erfreulichen Beweis für die Wahrheit, dass alle Verschiedenheiten und Gegensätze menschlicher Geistesrichtungen, seien sie auch so tiefgehend und so lange genährt als es Judentum und Christentum sind, durch den Adel schöner Menschlichkeit selbst überwunden werden können. Durch die anregende Kraft dieses Beispiels ist es ihm zuerst gelungen, die mächtigen Vorurteile nachhaltig zu erschüttern, welche damals noch wie ein Damm zwischen den Bekennern jener Religionen aufgerichtet waren und den wohltätigen Einfluss beider auf einander verhinderten. An solchen Vorurteilen trugen, wie dies bei leidenschaftlich erregten Parteien gewöhnlich der Fall ist, beide Teile gleiche Schuld und es war daher das dreifache Verdienst Mendelssohns, diese tiefangesetzten Vorurteile für sich selbst mit Kraft besiegt, dann aber nach jeder der beiden Seiten hin seine aufklärende und versöhnende Wirksamkeit ausgeübt zu haben. Freilich kamen ihm dabei außer der eignen Sinnes- und Geistesart auch eine glückliche Zeit und glückliche Verhältnisse zustatten. Wie war er da im Vorteil gegen Maimonides und all die Männer, welche vor ihm jüdischerseits gegen Vorurteile anzukämpfen unternommen hatten! Eben befreite sich Deutschland in seiner Literatur von dem Zwang der hergebrachten und geisthemmenden Formen, welche ihm durch fremdes Muster gegen die eigene Art und Natur waren aufgedrängt worden. In politischer Beziehung zährten durch ganz Europa die Ideen, welche von einem kühnen Volke nicht lange darauf zur Verwirklichung sollten gebracht werden und welche das Bürgerrecht als das höchste, aber auch für Alle in gleicher Weise bestimmte Glück priesen. Für die Religion endlich schien das Zeitalter der Reformation mit seiner ganzen jugendlichen Frische wiedergekehrt zu sein, diesmal jedoch um die Forderungen, welche damals nur der Bekämpfung einzelner Missbräuche gegolten hatten, im Großen zu betreiben und ihnen bis in die innersten Verhältnisse Geltung zu verschaffen. Diese Epoche ist unter dem Namen der Aufklärungsepoche genugsam bekannt und man weiß, wie sie darauf hinarbeitete, in den positiven Religionen das Element des natürlichen und vernünftigen Gedankens gegen das geheimnisvolle Symbol, gegen die äußere Form und das geschichtlich Verhärtete zur Herrschaft zu bringen. — Das neue in Literatur, Politik und Religion erwachte Bewusstsein riss wie ein gewaltiger Strom Alles mit sich fort, was in seiner Mitte lebte. Alle, die nur in irgend einer Berührung mit den herrschenden Ideen der Zeit standen, wurden erfüllt von ihrer erhebenden und befreienden Kraft. Die Juden jedoch fühlten diesen Einfluss nur, inwiefern er ihre drückenden politischen Fesseln zu lösen begann. Sie hatten im Allgemeinen bis auf Mendelssohns Zeit den herrschenden Kulturelementen, welche die gebildete Welt durchdrangen, zu fern gestanden, um den Umschwung darin zu verspüren. Sie führten ein abgesondertes Geistesleben, das in religiöser wie in wissenschaftlicher Beziehung seine einzige Nahrung in den Studien der Bibel oder jener allerdings reichhaltigen Schriften fand, welche als die maßgebenden Erläuterungen jener betrachtet wurden. Wenn auch einzelne Männer der Wissenschaft schon früher aus diesem beschränkten Kreise herausgetreten waren, so wurden sie doch ebendeshalb für zu fliehende Ausnahmen, nicht aber für nachahmungswerte Vorbilder angesehen. Es galt als ausgemacht, dass man in der Regel von dem religiös Judentümlichen ebensoviel verliere, als man sich andre denn talmudische und rabbinische Kenntnisse aneigne. Nicht bloß dass man von einer grundsätzlichen Unterscheidung des israelitisch Vaterländischen und jüdisch Religiösen keine Ahnung hatte, schloss man noch alle alten Sitten, gute oder üble Gewohnheiten aus der Väter Zeit, in den Kreis des Gesetzlichen ein und bildete sich so ein ungeheures Labyrinth von Pflichten, aus dem kein Faden zur Lebensgemeinschaft mit der Gegenwart führte. Insbesondere aber ward als Verächter und Frevler an dem ererbten Heiligtum angesehen, wer noch wo anders als in Schrift und Talmud Erkenntnis der höchsten Wahrheiten zu finden ausging. Wirklich war nicht bloß über religiöse, sondern auch über wissenschaftliche Fragen aller Art im Talmud, wenngleich vom Standpunkt einer längst entrückten Zeit, doch mit ungeheurem Aufwand von Scharfsinn abgeurteilt, so dass die Kenner leicht aller andern Wissensquellen entraten zu können vermeinten. Kenner des Talmuds waren aber verhältnismäßig gar Viele, da man ohne es zu sein dem Gesetze der Tradition kein volles Genüge zu leisten vermochte. Begnügten sich nun zwar Manche mit der aus der Praxis des Lebens gezogenen Kenntnis, so gab es auf der andern Seite Befähigte genug, welche nicht einmal bei den für die Nutzanwendung ausreichenden Auszügen stehen blieben, worin die Gesetzesresultate zur nötigen Orientierung mitgeteilt waren, sondern welche gleich den Rabbinen aus der Quelle selbst auch die Kontroversen kennen lernten, aus denen jene hervorgingen. Die rabbinisch Gebildeten blickten daher mit Stolz um sich. Denn was war gegen eine solche Kenntnis, die auf juridisch genauen und durch ihre Schärfe und Gewundenheit oft höchst interessanten Schlussfolgerungen beruhte, die Religion, welche von keiner verstandesmäßigen Prüfung, sondern einzig und allein von der gläubigen Hinnahme abhing? Von der Religion aber glaubte man das wissenschaftliche Streben untrennbar; daher ein gewisses verächtliches Herabblicken auch auf das letztere.

Moses Mendelssohn, frühzeitig in die gelehrten und ästhetischen Kreise Berlins eingeführt, welches nach dem Muster des großen Königs religiöser Engherzigkeit zu entsagen anfing, konnte eine solche Auffassung nicht lange teilen und sie auch unter seinen Glaubensgenossen zu verdrängen, erschien ihm nun als eine schöne Aufgabe, die er in dem wachsenden Maße gelöst hat, als sein Name in der deutschen Literatur an Geltung zunahm. Es kann nicht geleugnet werden, dass es zunächst der steigende Ruhm des Mannes war, der in immer weitern Kreisen die Einen zur Nacheiferung anspornte, die Andern wenigstens zur Prüfung und nähern Erwägung aufforderte. Da fand man denn auch in profanen Schriften mancherlei Nützliches fürs Leben und für die Bereicherung des Wissens, ohne dass es, wie man gewähnt hatte, zum Abfall verleitete. Ja Mendelssohn berührte sogar im „Phädon“ ein Thema, welches alle Herzen recht nahe anging und das er trotz der Anlehnung an einen heidnischen Philosophen zu ihrer vollen Zufriedenheit ausführte. Aber was ihm so allgemeines Vertrauen erwarb, war unstreitig die offenkundige Liebe, mit welcher er trotz des liefern Eindringens in alle Wissenschaften und trotz des lebhaften Eifers für sie das Judentum und dessen Einsetzungen fortwährend umfasste. Erklärte er doch ausdrücklich, dass, wie er einerseits alle theologisch-philosophischen Gedankenkreise des Altertums und der neuern Zeit nur um der Fortschreitung in der eignen religiösen Erkenntnis willen noch tiefer befestigt habe.*) Indem er nun mitten in den eifrigsten Studien von der traditionell gebotenen religiösen Lebensweise sich nicht im Mindesten entfernte und im Umgange mit den Berühmtesten und Größten des Jahrhunderts weder seine liebenswürdige Bescheidenheit und Zurückhaltung noch die wohlwollende und edelmütige Teilnahme für seine gedrückten Glaubensgenossen verlor, mussten dieselben endlich zur Überzeugung geleitet sein, dass man ein guter Jude von altem bewährten Schlage bleiben könne, auch wenn man an dem Kunst- und Wissenschaftsstreben der übrigen Welt innigen Anteil nehme. Gewiss wären sie auch ohne seine Stimme von dem Außenleben, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer lauter und drängender wurde, aus ihrer Abgeschlossenheit erweckt worden, aber durch sein Zutrauen erweckendes Beispiel gaben sie sich nun mit gespannten Hoffnungen diesem Leben hin und hörten auf, von dem Einfluss desselben auf ihre geliebte Religion so arg zu denken.


*) Vgl. die Antwort an Lavater vom 12. Dezember 1768 (III., S. 40 der von Prof. Mendelssohn besorgten Brockhaus'schen Ausgabe): Ich darf sagen, dass ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. Die Pflicht, meine Meinungen und Handlungen zu prüfen, habe ich gar frühzeitig erkannt, und wenn ich von früher Jugend an meine Ruhe- und Erholungsstunden der Weltweisheit und den schönen Wissenschaften gewidmet habe, so ist es einzig und allein in der Absicht geschehen, mich zu dieser so nötigen Prüfung vorzubereiten (S.41.) Da sie mich aber in dem bestärkten, was meiner Vater ist usw.

Frägt man nun, wie zunächst Mendelssohn selbst seine geläuterten Religionsbegriffe mit den überkommenen habe vereinigen und jene in diesen habe wiederfinden können, so ist vor der Hand zu bemerken, dass er wie alle positive Religion so auch das Judentum hauptsächlich von dem Gesichtspunkt des Einflusses auf die Handlungsweise seiner Bekenner betrachtete. Dass alle Religionen vor allem Andern die praktisch sittliche Förderung des Menschen zum Ziele haben, glaubte er als Voraussetzung annehmen zu können und deshalb unterschied er sie nur nach dem Grade, in welchem sie durch tatsächliche Beeinflussung des Menschen und seines Willens sich im Leben als wirksam erwiesen. Und hierin schien ihm das Judentum obenan zu stehen, in welchem es allerdings durchweg nur auf die rechte Tat, auf Tun und Lassen abgesehen war. Handlungen waren es, die überall geboten wurden, Handlungen nicht bloß als Selbstzweck, sondern auch als Mittel. Diese wurden im Judentum so sehr als das schlechthin Unmittelbare gefordert, dass selbst Denken, Erkennen und Glauben nur als ihr Ergebnis, nicht aber als das sie hervorrufende Frühere erscheinen. Der rechte Glaube tritt als Folge der tätigen Gesetzesbeobachtung ein, nicht als ihr Grund.*) Mit diesem Wohlgefallen an der unmittelbar praktischen Richtung des Judentums hing dann aber auch die Mäßigung zusammen, mit welcher er, der doch selbst theoretisch soweit ging, seine Erkenntnisse über jenes Andere mitteilte. Erst in seinen letzten Lebensjahren entschloss er sich zu einer ausgeführten Kundgebung seines darüber gewonnenen Systems, als von außen und von innen Missverständnisse überhand nahmen. Sonst hielt er diese innere und tiefergehende Erkenntnis gar nicht für so nöthig zur Innehaltung des rechten Wandels, der ja unmittelbar in den Gesetzen gelehrt wurde und fürchtete dagegen von einer offenen Erörterung mehr Schaden als Nutzen. Ja er glaubte sogar religiöse Vorurteile bestehen lassen zu müssen, „wenn sie zu den höhern theoretischen Grundsätzen gehören, die von dem Praktischen zu weit entfernt sind, um unmittelbar schädlich zu sein, eben ihrer Allgemeinheit wegen aber die Grundlage ausmachen, auf welcher das Volk, welches sie heget, das System seiner Sittenlehre und Geselligkeit aufgeführt hat und also zufälligerweise diesem Teile des menschlichen Geschlechts von großer Wichtigkeit geworden sind.“ Solche Lehrsätze öffentlich bestreiten, weil sie uns Vorurteile dünken, meinte Mendelssohn, heißt ohne das Gebäude zu unterstützen, den Grund durchwühlen, um zu untersuchen, ob er fest und sicher ist.**)

*) Scherr (Geschichte der Religion in sechs Büchern), dem man nach seiner ganzen Beurteilung des Mosaismus keine Parteilichkeit für denselben schuldgeben wird, sagt Buch III. S. 105 seiner Schrift: Der Mosaismus in seiner Reinheit ist eine Religion des Lebens wie gar keine andere, nicht eines vorgestellten Lebens, nein, des wirklichen, faktischen, des Erdenlebens. Und S. 119: Denn das ist das bewundernswürdig Großartige des Mosaismus, dass er auf der Grundlage des religiösen Glaubens und der gottesdienstlichen Bräuche ein bis ins Einzelne sorgsamst ausgeführtes System der sozialen Wohlfahrt begründete und für die Betätigung desselben eifrigst wachte. Es ist ein merkwürdig feines und umfassendes Verständnis für die Bedürfnisse der Wirklichkeit in dieser Gesetzgebung, ein energischer Realismus u. s. w.

**) A. a. O. S. 45 f. Vgl. auch Betrachtungen über Bonnets Palingenesie. Daher die Zurückhaltung, die meine Freunde an mir wahrnehmen, so oft ich mich über diese wichtigen Punkte der menschlichen Erkenntnis erklären soll. Diese Fragen gehen unsre Glückseligkeit so nahe an, dass ich immer glaube, in dem Eingeweide meines Nächsten zu wühlen, wenn ich ihn von dieser Seite angreife.


Diese zur Mäßigung und Schonung hinneigende Art, welche ihn immer die enge Mitte dessen einzuhalten lehrte, was er seinen Glaubensgenossen zumuten durfte, verschaffte ihm nun desto gewissere Erfolge bei Beseitigung von Missbräuchen, welche er als wirklich schädlich und das Judentum herabsetzend erkannte und darstellte.*) Da fand er denn schon eine Menge Gleichgesinnter, welche trotz mannigfacher Einwendungen der Rabbinen seine Stange hielten und, wo ein alter Brauch oder Missbrauch in Widerstreit mit den Landesgesetzen oder mit dem allmählich vorgerückten Glaubensbewusstsein der verhältnismäßig Gebildeten trat, zur Beseitigung desselben drängten. Überhaupt suchte er, seiner friedlichen Natur gemäß, das Auffallende und Anstoß Erregende zu vermeiden und wo möglich ohne Kampf zum Ziele des Bessern hinzulenken. Dabei schien ihm der langsamere und stufenweise Fortschritt sicherer dem Rückfall in die überwundene Tiefe der Verirrung ausweichen zu können. Diesen vorsichtigen reformatorischen Bestrebungen trat eine äußere Bedingung glücklich zur Seite. Die Sprachgewandtheit war es, welche Mendelssohns Einfluss bei seinen jüdischen Zeitgenossen mächtig unterstützte. Er schrieb einen trefflichen hebräischen Styl und vereinigte sich schon frühzeitig mit einem gewissen Bock, um in dieser Sprache den Strebenden unter ihnen die Wissenschaft, insbesondere die Fortschritte der Naturkunde, zugänglich zu machen. Bald aber erwarb er sich eine noch größere Meisterschaft in der vaterländischen Sprache. Es war damals etwas Seltenes, dass ein Jude sich in dem gebildeten deutschen Idiom mit genügender Herrschaft auszudrücken wusste. Wie das Neuhebräische seine höchste Vollendung in dem musivischen Stil fand, bei dem man — ähnlich wie die lateinisch schreibenden Gelehrten mit den alten Klassikern verfahren — die biblische Phraseologie derart anwandte, dass soviel als möglich ein Bibelwort an das andere gereiht und sowenig als möglich spätere Ausdrücke gewählt wurden, so gebrauchte man wiederum beim deutschen Sprechen und Schreiben fortwährend der Talmud- und Rabbinensprache entlehnte Wortgefüge, zwischen denen sich das eigentlich Deutsche bunt genug ausnahm. Indem nun Mendelssohn in der Handhabung des letztern eine Gewandtheit und Eleganz erreichte, welche bisher selbst unter den christlichen Gelehrten eine Seltenheit war und den schwierigsten Gedankengängen einen entsprechenden und bequemen, zugleich aber den deutschesten Ausdruck zu geben wusste, eine Eigenschaft, um die ihn selbst der große Kant beneidete, so ward er auch hierdurch als Heros angestaunt und allseitiges Vertrauen zu dem reichbegabten gefasst. Indem man an ihm die Meisterschaft in der Sprache der Schrift und in derjenigen der Philosophie bewunderte, mochte man gern glauben, dass ihm auch die Entscheidung über das rechte Verhältnis beider Gebiete selbst gebühre. Man gewöhnte sich, auf den jüdischen Weltweisen als auf das Vorbild zu blicken, dem man sich nachzurichten habe. Jeder nach Bildung strebende Sohn Israels glaubte, um recht zu tun, einerseits in der Übung des Religiösen soviel bewahren zu müssen als jener, andrerseits mit gleicher Freiheit in das moderne Kulturleben sich wagen zu dürfen. Als nun Mendelssohn eine Übersetzung des Pentateuchs lieferte, welcher später die der Psalmen und des Hohen Liedes folgte, beeiferten sich viele tausend jüdische Jünglinge, daran die Erlernung des rein Deutschen zu üben. Obwohl diese Übersetzung nach Vorgang der Luther'schen als Leistung an sich nichts Großartiges mehr darbieten konnte, wurde sie doch als von Mendelssohn herrührend die Wohltäterin bei dem Erziehungswerk der jüdischen Jugend. Denn wenn eine deutsche Bibel zu gebrauchen schon etwas Ungewöhnliches war, was der Autorität eines so verehrten Mannes bedurfte,**) um nachgeahmt zu werden, so würden der Zulassung einer christlichen damals noch unübersteigliche Hindernisse entgegengetreten sein. Außerdem lies Mendelssohn seine Übersetzung mit hebräischer Schrift drucken, wodurch er nicht nur denjenigen die Anwendung erleichterte, welchen die deutsche unbekannt war, sondern auch denen, welche in der Anwendung profaner Buchstaben zu heiligen Worten einen Anstoß gefunden hätten. Auch so wurde zwar die Übersetzung von den Rabbinen noch angegriffen und besonders ihrer Einführung in die Schulen entgegengearbeitet,, allein schon wurden diese Stimmen von dem Rufe der Zeit übertönt und die maßgebenden Kreise für die neue Richtung mit leichter Mühe gewonnen.

*) So das Bannrecht der Rabbiner, gewisse Beerdigungsgebräuche usw.

**) M. hat bekanntlich diese Übersetzung ursprünglich für den Unterricht seiner Kinder bestimmt. Die Rabbiner in Hamburg und in Fürth legten alle diejenigen in den Bann, welche sich derselben bedienten und auf sie bezieht sich, was er in einem Briefe schreibt: Mögen sie fluchen, ich werde gesegnet sein.


Wie nun Mendelssohn nach dem Gesagten von bedeutendem Einflusse auf seine Glaubensgenossen war, so hat er auch von der andern Seite die Augen des Zeitalters, das ohnehin schon den Ideen allgemeinerer Anerkennung einen geneigten Sinn entgegenbrachte, auf die schlimme und verachtete Stellung der Juden hingelenkt und die Abhilfe dafür mächtig gefördert. Gewiss darf man nicht dem beschränkt-pragmatischen Gesichtspunkt huldigen, welcher wie überall so auch hier von dem Wirken des einzelnen Mannes und einzelner Tatsachen alle, auch die weitgreifendsten Erfolge abhängig machen möchte, aber wenn man ihm gerecht sein will, muss man Mendelssohn für einen guten Teil des bessern Lichtes danken, welches seit ihm auf das Judentum und seine Bekenner gefallen ist. Man war gewöhnt, bei diesen nur Aberglauben, schlechte und unredliche Sitten vorauszusetzen, ihm ist es gelungen, dies Vorurteil zu besiegen oder wenigstens bei Vielen vorerst eine Prüfung zu veranlassen, welche in der Folge zu Gunsten der Geschmähten ausfiel. Mendelssohns eigener Charakter trug anerkannt das Gepräge der ausgebildetsten Sittlichkeit, welche doch immerhin auf dem Grund altjüdischer Lebensgewohnheiten entstanden war und sich zum reinsten Menschentum entwickelt hatte. In allen Beziehungen, an denen der Geschäftsführer, der Schriftsteller und der Vertrauensmann keinen Mangel hatte, bewährte er sich als treuesten, zuverlässigsten und uneigennützigsten Genossen. Durch seinen Zartsinn und seine von einem feinen Gefühl geleitete Wohltätigkeit erwarb er sich allseitige Verehrung. Aber auch das Judentum selbst verfocht er bei jeder Gelegenheit in der obenangedeuteten Weise mit Wärme. In den mannigfachen Kreisen, die sich um ihn bildeten, musste er mit Geschick und Scharfsinn nachzuweisen, dass es im größten Maße und in unübertroffener Weise alle Bürgertugenden hervorzurufen geeignet sei und dass die zahllosen Anschuldigungen, die dasselbe erfahren, auf Missverstand beruhten oder darauf, dass man mit Unrecht die Lehre für jede einzelne Äußerung der Lehrer verantwortlich mache. Wer die erstere im Ganzen und Großen betrachte, müsse zu der Überzeugung gelangen, dass nirgends so starke Hebel der Gerechtigkeit und Gottesfurcht und des für das Staatsleben so wichtigen Gehorsams gegen das Gesetz anzutreffen seien als in ihr. Vor Allem jedoch fand das Zeitalter der Humanität in Mendelssohn seinen Mann, in ihm, dessen humane Bestrebungen eigentlich seine ganze Virtuosität ausmachten. Darum stellte er ja seine eigene Religion so hoch, weil sie dem Menschen nur Menschliches zur Pflicht machte, weil sie mit der Freiheit der Gewissen sich vertrug und kein Glaube darin geboten war. Er, der nur die sittliche Handlung, nicht aber den untersten Glaubensgrund, aus welchem sie hervorgegangen war, angesehen wissen wollte, drang darauf, dass auch bei seinen jüdischen Genossen nur auf die Tat, nicht auf den unter unliebsamen Formen zum Vorschein kommenden Glauben geachtet werde. So kam er selbst allen Andersglaubenden mit echter Toleranz liebevoll entgegen und suchte sich mit ihnen zu der Überzeugung zu vereinigen, dass vielmehr das überwiegend Gleiche bei den von der gesitteten Menschheit bekannten Religionen, nicht die fürs Leben unwesentlichen Unterschiede hervorgehoben werden müssten. „Die wenigen Punkte, die uns etwa noch trennen, können, der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts unbeschadet, noch Jahrhunderte unerörtert bleiben ..... Sind mit diesen besondern Sätzen die Benennungen von Christentum und Judentum verbunden? Was tut dieses? In unsern Ohren würden diese Namen nichts Feindseligeres haben, als die Namen Cartesianer und Leibnitzianer.“ „In welcher glückseligen Welt würden wir leben,“ so ruft er, „wenn alle Menschen die heiligen Wahrheiten annähmen und in Ausübung brächten, die die besten Juden und die besten Christen gemein haben!“*)

Mit solcher Denkungsart und solchem Charakter, ausgestattet, stand er als tätiges Beispiel da, an welchem man lernen mochte, sich bei den verschiedensten Religionsansichten zu vertragen und sich wohlzutun, ohne das Geringste von der eigenen Überzeugung preiszugeben. Gewiss hat auch dies Beispiel beigetragen, die rechte Annäherung zwischen Juden und Christen wenn nicht hervorzurufen, doch zu erleichtern. Er lehrte sie, an die Stelle der bisherigen Geringschätzung wegen des abweichenden Glaubens gegenseitige Werthaltung auf Grund achtbaren Wandels zu setzen. Von ihm selbst sprachen beide mit einer Hochachtung, wie sie so unbedingt noch kein jüdischer Name erfahren hatte. Die Juden erinnerte er an Maimonides,**) dessen Scharfsinn, umfassende Kenntnisse und Gesetzestreue er besaß und der gleich ihm ein helles Licht in das Dunkel seines Jahrhunderts zu bringen versucht hatte, die Christen an Spinoza,***) dessen milde Lebensweisheit und anmutige Toleranz ihm eignete; aber der letztere war den Juden verhasst gewesen, weil er die Synagoge verlassen hatte, der erstere seiner Zeit den Christen, zu welchen er wegen ihres damaligen Fanatismus in einem besonders feindseligen Verhältnis stand. Mendelssohn hingegen war in der günstigen Lage, seine Anhänglichkeit fürs Judentum von jenen und seine milde Beurteilung des Christentums von diesen mit Wohlwollen belohnt zu sehn, ohne dass ihm das eine oder das andre von der großen Mehrheit der entgegenstehenden Religionspartei wäre verargt worden.

*) An C. Bonnet, 9. Februar 1770.

**) Sie wandten auf ihn das Wort an, welches einst von Moses Maimonides galt: Von Moseh bis Moseh stand keiner auf wie Moseh.

***) „Seine Redlichkeit und sein philosophischer Geist lässt mich ihn im Voraus als einen zweiten Spinoza betrachten, dem zur völligen Gleichheit mit dem ersteren nichts als seine Irrtümer fehlen werden,“ schreibt Lessing an Michälis.


So ging denn die Wirksamkeit des Mannes zunächst von seiner ganzen Persönlichkeit aus, welche in ihrem tätigen Verhalten Alles zu vereinigen wusste, was dem Sinne des Zeitalters und was den positiven Forderungen des Judentums gemäß war. An dieser allseitig verehrten Persönlichkeit rankte der Bekennet desselben sich empor, indem er nach ihrem Beispiele den gemeinschaftlichen Interessen der Menschheit Sinn und Tätigkeit zuwandte, insbesondere ohne Unterschied des Glaubens diejenigen Dienste zu leisten begann, welche man bisher nur den Bekennern derselben Religion schuldig zu sein gewähnt hatte. Aber das praktische Beispiel wirkte auch zunächst nur auf die Tat, die Handlungen der Liebe waren nicht alsobald von den Gesinnungen der Liebe begleitet. Gern schenkten die Juden ihre tätige Hilfe denen, unter welchen sie wohnten und von welchen sie anfingen, wenigstens als Menschen behandelt zu werden. Aber etwas Anderes war es, Mendelssohns Mahnwort: Liebet, so werdet ihr geliebt werden, auch in Herz und Gemüt übergehen zu lassen, ihm auch in dem innern Glauben zu folgen, dass der Christ von Religionswegen als Freund angesehen werden müsse, dass es eine heilige Pflicht sei, ihn mit zu den „Nächsten“ zu zählen, von denen die Schrift rede. Man mochte ihm bereitwillig Gutes tun, aber gut für ihn zu empfinden war im Hinblick auf die Leidensgeschichte Israels in seiner Mitte und bei der fortdauernden Verachtung und Zurücksetzung eine Aufgabe, der man sich nicht so leicht gewachsen fühlte. Erst die fortschreitende Kultur hat die Bemühungen Mendelssohns auch hierin mit Erfolg gekrönt. Einerseits nämlich singen die Juden erst damals an, ihre eigene Geschichte vorurteilsfrei zu betrachten und wirklich zu studieren; das machte sie gegen die andern gerechter: sie lernten einsehen, dass auch ihre Geschichte Blätter des Verdammungseifers und religiöser Feindseligkeit enthaltene und dass ihre Väter darin gar manchmal die Initiative ergriffen haben mochten, dass eine großsinnige Lehre häufig von einem engherzigen Geschlechte nach seinem eignen, niedrigen Standpunkt verfehlt zur Anwendung gebracht worden war. Je vertrauter andrerseits die Juden mit den fremden Geistesarbeiten wurden, desto vertrauter und befreundeter wurden sie mit den Menschen, aus deren Mitte jene hervorgegangen waren. Sie hatten angefangen, die wissenschaftlichen Schriften der Christen zu studieren, nun begannen sie auch ihre religiösen kennen zu lernen. Früher zwar hätte ein Blick in dieselben sie noch misstrauischer und ängstlicher gemacht, da ihnen dort Fluch und Verderben verkündet ward und die Forderungen eines geheimnisvollen Glaubens ihnen in drohend abstoßender Weise entgegentraten. Nun aber wurden in diesen Schriften selbst, dem Sinne der Zeit gemäß, die geheimnisvollen Dogmen auf natürliche Vorgänge und vernunftgemäße Begriffe zurückgeführt, die Lehren der Sittlichkeit und Menschenliebe aber als Hauptsache betont, und so konnten sie sich der Überzeugung nicht verschließen, welche Mendelssohn überall zu erwecken suchte, dass bei solchen Grundsätzen auch eine Annäherung der Herzen möglich sei. Es regte sich in Einzelnen unter ihnen sogar das Gefühl der Verwandtschaft mit denjenigen, die man lange gewöhnt war als Fremde und Erbfeinde anzusehen, als näher betrachtet die Vorschriften des Neuen Testaments, die sich auf das Praktische bezogen, mit denen des Judentums übereinstimmend gefunden wurden. Sie gewahrten, dass der Hass zwischen den Bekennern beider Lehren wenigstens in diesen letztern selbst nicht gegründet und am Ende nur eine Fortsetzung desjenigen sei, der schon in den letzten Jahrhunderten vor der gewöhnlichen Zeitrechnung zwischen den jüdischen Religionsparteien sich gebildet hatte. Dieser Hass zeigte sich allerdings mächtig angewachsen durch den Hohn und die bittre Verachtung, die man sich gegenseitig zu erkennen gegeben, durch den tatsächlichen Druck von der einen und den ohnmächtigen Rachedurst von der andern Seite. Aber das Zeitalter der großen Fürsten Friedrich und Joseph hatte diesen Triebfedern des Hasses ihre Spannkraft genommen und so mochte man gern die Vergangenheit vergessen, um an den großen Fragen der Zukunft gemeinschaftlich zu arbeiten.

Als die Stärkeren, so schreibt Mendelssohn an Lavater, noch um der Religion willen Blut vergossen, blieb den Schwächern kein anderes Vergeltungsmittel als, wie man zu sagen pflegt, Schnippchen in der Tasche zu schlagen, d. h. bei verschlossenen Türen die Religion ihrer Widersacher zu lästern. Sowie von der einen Seite der Verfolgungsgeist, so weicht auch von der andern Seite der Hass und macht der Erkenntlichkeit Platz; und nunmehr ist es die Pflicht aller guten Menschen, den alten Zwiespalt zur Vergessenheit zu befördern (15. Januar 1771). Drückte doch Mendelssohn, wenn er gegen Lavater seine Hochachtung vor dem Stifter des Christentums bezeugte, insofern dieser nicht die Anbetung Gottes für sich in Anspruch genommen, auch hierin schon die Überzeugung einer achtungswerten Anzahl Gleichgesinnter aus. Sie sahen in der reinen Sittenlehre eine beiden Teilen gemeinsame Frucht, von der zwar sie selber behaupteten, dass sie auf dem Felde der jüdischen Tradition erwachsen sei, und die Christen, dass sie durch Jesus zu den Menschen gekommen, aber indem beide Teile sich im Besitz dieser Frucht wussten, glaubten sie im gemeinschaftlichen Genusse durch Streit über den Ursprung derselben sich nicht stören lassen zu dürfen.*) Solche Gesinnung war die höchste Spitze, bis zu welcher das religiöse Streben des Jahrhunderts gelangte. Freilich waren es anfangs nur wenige auserlesene Geister, die also zu denken fähig waren, aber in einem Jahrzehnt wuchs ihre Zahl so bedeutend an, dass sie als die tonangebenden Söhne des fortgeschrittenen Jahrhunderts, die anders Denkenden aber als die zurückgebliebenen und unberechtigten betrachtet werden konnten.

*) Vergl. Betrachtungen über Bonnets Palingenesie, III., 171: Wenn wir mit den (christlichen) Unitariern darin übereinstimmen, dass die Seelen der Menschen unsterblich sind und dass Gott in jener Zukunft die Tugend belohne und das Laster bestrafe; so liegt an dem geringfügigen Unterschiede gewiss so viel eben nicht, dass wir solches auf das Zeugnis der Propheten des A. T. und der Rabbinen, sie hingegen auf das Zeugnis des N. T. annehmen.