Tschitschagow

Noch eine andre Anekdote will ich erzählen zum Beweise dessen, wie der Kaiser stets bereit war, alles Böse, was er durch seine maßlose Heftigkeit angerichtet hatte, wieder gut zu machen. Paul Wassiljewitsch Tschitschagow hatte durch seine großen mathematischen Kenntnisse, durch seine Charakterfestigkeit und edle Gesinnung schon auf den ersten Rangstufen sich bei den Offizieren der Flotte allgemeine Achtung erworben, unabhängig davon, daß sein Vater Wassilji Jakowlewitsch unter Katharina mit Auszeichnung die Flotte befehligt hatte, voller Admiral und Ritter des heil. Andreas- und Georgsordens I. Klasse war, was damals sehr viel sagen wollte.

Bei der Thronbesteigung des Kaisers war Paul Wassiljewitsch schon seit mehreren Jahren Hauptmann ersten Ranges. In der Flotte wurde die Anciennität streng eingehalten und keiner konnte den andern überspringen, es sei denn wegen einer ganz hervorragenden Leistung.


Der Kaiser berief Barjatynski und setzte ihn über Tschitschagow. Vielleicht hätte Tschitschagow diese Kränkung noch ertragen, da sie ihn nur ganz allein betraf; als aber sein Vater vom Lande nach Petersburg angereist kam, um sich wegen eines Augenleidens behandeln zu lassen, und der Kaiser ihn aus der Residenz verweisen ließ, weil er ohne besondere Erlaubnis die Reise unternommen hatte, da bat Paul Wassiljewitsch um seinen Abschied und zog sich auf sein väterliches Gut bei Schklow*), eine Schenkung Katharinas, zurück. Unter Katharina hatte die russische Flotte gemeinsam mit der englischen operiert; der Kaiser anerkannte den Nutzen dieser Einrichtung für die Flotte und wandte sich an den englischen Hof mit der Anfrage, ob unser Geschwader sich, wie bisher, der englischen Flotte anschließen könne. Ohne diesen Vorschlag abzulehnen, wollten die Engländer aber vorher wissen, wer der Befehlshaber der Flotte sein werde. Die Antwort lautete, daß das Geschwader, wie bisher, unter dem Oberbefehl des Vizeadmirals Chanykow absegeln werde; da wurde von englischer Seite die Bitte ausgesprochen, V. W. Tschitschagow an seine Stelle zu setzen, einen Offizier, der ihnen bekannt sei und sich dadurch hervorgetan hätte, daß er mit seiner einen Fregatte „Venus“ mehrere Preise genommen. Unser Hof erwiderte, daß Tschitschagow nicht mehr in aktivem Dienst stände und außerdem seinem Range nach kein Geschwader befehligen könne. Es erfolgte die Antwort, daß in England die Führer der Geschwader nicht nach dem Rang, sondern nach ihrer persönlichen Tüchtigkeit ernannt würden und, daß man sich von dem Anschluß der russischen Flotte keine großen Erfolge versprechen könne, wenn es nicht möglich sei, Tschitschagow zu schicken. Sofort wurde an Tschitschagow durch einen Feldjäger der Befehl übermittelt, er solle sich unverzüglich in Petersburg einfinden, um eine dienstliche Stellung anzutreten. Paul Wassiljewitsch hatte die Kühnheit, dem Kaiser brieflich auseinanderzusetzen, daß er nicht dienen könne. Der Inhalt dieses Briefes war, soweit mir erinnerlich, folgender: „Der russische Edelmann dient einzig und allein um der Ehre willen und ist berechtigt, zu erwarten, daß seine Leistungen beim Kaiser Anerkennung finden. Er hoffte niemals darauf, den wohlverdienten Ruhm seines Vaters zu erreichen; aber trotz der großen Verdienste des alten Mannes, sei derselbe von Seiner Majestät aus Petersburg verwiesen worden, wo er für sein Augenleiden Linderung zu finden hoffte. Der langjährige, eifrige Dienst seines Vaters habe keine Anerkennung gefunden. Wozu solle denn also ein russischer Edelmann dienen? Seine Aussichten für die Zukunft seien so wenig verlockend, daß er nicht in den Dienst zu treten wünsche.“ Sofort wurde ein zweiter Feldjäger aus Petersburg nach Schklow abgeschickt, mit dem Befehl, Tschitschagow nach Petersburg zu bringen und ihn direkt dem Kaiser vorzustellen. Hatte nun der Kaiser den kecken Brief Tschitschagow vergessen oder wollte er aus Achtung vor dem Urteile Englands seinen Zorn nicht zeigen, genug, er empfing Tschitschagow zuerst in huldvoller Weise, teilte ihm den Schriftwechsel mit dem englischen Hofe mit und stellte ihm sogar das Recht anheim, englische Uniform zu tragen. „Ich bin ein Russe,“ erwiderte Tschitschagow, „und will nur russische Uniform tragen und keine andre; die Gründe aber, welche es mir nicht gestatten, in den Dienst zu treten, hatte ich das Glück Eurer Majestät in meinem alleruntertänigsten Schreiben auseinanderzusetzen.“

Bei der Erinnerung an den Brief geriet der Kaiser außer sich und ging mit erhobener Hand drohend auf Tschitschagow los, welcher zurückweichend sagte: „Gedulden Sie sich ein wenig, Majestät, entehren Sie hier dies nicht,“ wobei er auf den Georgsorden hinwies, „was ich mit meinem Blute erkauft habe.“ Darauf nahm er den heil. Georgs- und Wladimirorden ab, desgleichen den goldenen Degen für Tapferkeit und fügte hinzu: „Jetzt kann der Spaß losgehen!“ Das reizte den Kaiser noch mehr zum Zorn. Er stürzte auf Tschitschagow los, schimpfte, schlug ihn unbarmherzig, riß ihm die Uniform und das Kamisol vom Leibe und suchte ihn hierauf, ganz erschöpft, zur Tür hinauszustoßen. Tschitschagow erfasste aber den Kaiser am Rockschoß und so gelangten sie alle beide in das Zimmer, wo A, A. Naryschkin, Gr. Kuschelew, Oboljaninow und Kutaissow standen, „Entschuldigen Sie,“ sagte Tschitschagow zu diesen, „er hat mir die Kleider vom Leibe gerissen.“ Der Kaiser gab ihm noch einen Stoß und rief voller Wut: „Auf die Festung mit ihm!“ Tschitschagow wandte sich an den Kaiser und sagte: „Bitte, meine Geldtasche zu verwahren, sie ist in meinem Rock geblieben.“ Naryschkin gab Tschitschagow seinen Mantel, er wurde in eine Kutsche gesetzt und nach dem Aleksejewschen Ravelin abgeführt. Der Kaiser Paul hatte ein hitziges Temperament; da er aber von Herzen ein sehr guter Mensch war, so waren ihm Bosheit, Hinterlist und Rachsucht fremd. Der erste Augenblick seines Zornes war furchtbar, aber sehr bald folgte die Neue. Er schämte sich, war wütend über seine eigene Heftigkeit. — Als er sich beruhigt hatte, ließ er Tschitschagow eine bessere Wohnung in der Festung anweisen, befahl, ihm alles, was er fordern würde, herbeizuschaffen, und erteilte ihm die Erlaubnis, seine eigene Bedienung und seine Sachen bei sich zu haben. Am Tage darauf richtete der Kaiser ein Handschreiben an den alten Vater Tschitschagows, den Admiral, worin er sich über den Eigensinn des Sohnes beklagte und den Wunsch äußerte, der Alte solle ihm befehlen, in den Staatsdienst zu treten. Der Admiral übersendet das kaiserliche Handschreiben seinem Sohne, nachdem er unter dasselbe folgende Worte hingeschrieben: „Vergiss, mein Sohn, die deinem Vater zugefügten Kränkungen, und wenn das Vaterland deiner Dienste bedarf, so gehorche dem Willen des Kaisers.“ Als Paul Wassiljewitsch das kaiserliche Handschreiben mit der Zuschrift des Vaters erhalten hatte, schrieb er mit dem Bleistift darunter: „Der Sohn gehorcht seinem Vater,“ und sandte es an den Kaiser. „Ein guter Sohn kann kein schlechter Untertan sein,“ sagte der Kaiser zu Graf Kutaissow, und Tschitschagow wurde direkt aus der Festung vor den Kaiser geführt. „Wollen wir das Geschehene vergessen,“ sagte Paul zu ihm, „wir sind beide heftig und wollen uns beide bessern.“ Paul Wassiljewitsch Tschitschagow wurde zum Konteradmiral mit dem Anciennitätsrecht ernannt, erhielt den Annenordnen I. Klasse und den Oberbefehl über das nach England absegelnde Geschwader.

*) Im Gouvernement Mohilew. Anmerk. d. Übers.