Schattenseiten ihres Regiments

Man kann es nicht verschweigen, neben der Fülle von Wohltaten, die Katharina Russland erwiesen, fehlt es auch nicht an schlechten Seiten. Viel Sicht, viel Schatten. Ihr Nakas*) ist wahrhaft liberal, denn wegen der Freiheit der darin ausgesprochenen Gedanken wurde er in Paris öffentlich verbrannt. Allein dieser unsterbliche Nakas wurde nicht in Ausführung gebracht. Wozu vor der Zeit ein Volk mit solchen Dingen bekannt machen, die in Umlauf zu setzen sehr gefährlich ist? Das ist eine unvollendet gebliebene Arbeit. Überhaupt muß bemerkt werden, daß Katharina in dem Bestreben, in allen Regierungsangelegenheiten allein die einzig treibende Kraft zu sein, mehr äußeren Glanz als Gründlichkeit in ihren Maßregeln bekundete. Indem sie mit starker Hand das Zepter der Herrschaft führte, war sie die Seele aller. Und war dies nicht der Grund, weshalb nach ihrem Hinscheiden fast alle ihre Neuerungen bald ins Schwanken gerieten?

Man wirft ihr Schwächen vor, die einen schädlichen Einfluß auf die Sittlichkeit ausgeübt haben. In den höchsten Kreisen trat durch das wollüstige Treiben, in welchem der Hof selbst mit seinem Beispiel voranging, Sittenverderbnis ein. In den unteren Volksklassen leisteten die Schankhäuser der Trunksucht Vorschub und zugleich mit dieser nahm auch das Laster überhand. Um aber ein richtiges Urteil über Katharina zu fällen, muß man auf sie, als die Beherrscherin der halben Welt, und nicht als Frau mit ihrem lasterhaften Privatleben sein Augenmerk richten. Als Herrscherin auf dem Throne erwog sie mit bewundernswerter Kunst die Geschicke sowohl ihrer eigenen, als auch andrer Völker, führte mit fester Hand das Staatsruder, verstand es immer, zur rechten Zeit die Beziehungen zu andern Staaten aufrecht zu erhalten oder zu lösen. Die Zufriedenheit, das Glück ihrer Untertanen war das einzige Ziel, nach dem sie strebte, wenn sie auch in den Mitteln zur Erreichung desselben bisweilen fehlgreifen mochte. Als Frau in ihrem häuslichen Kreise war sie voller Güte, liebenswürdig und mit Leib und Seele der Liebe ergeben. Zu herrschen und zu lieben — das waren zwei notwendige Lebensbedingungen für ihr Herz. Schlagen wir das Buch der Geschichte auf: Je höher ein Mensch steht, je edler er ist, desto eher ist er Schwächen zugänglich, und oft sind seine großen Taten die Folgen gerade dieser Schwächen. Katharina vergaß nie, daß sie Kaiserin war. Ihre Günstlinge benutzte sie als Werkzeuge bei ihren großen Unternehmungen. Wenn sie sich in der Wahl getäuscht hatte, löste sie sofort die Verbindung auf, nur die Würdigen erfreuten sich dauernd ihrer Gunst. Man macht der Kaiserin aus der Freigebigkeit einen Vorwurf, die sie in Bezug auf ihre Favoriten walten ließ. Allerdings erhielt ein jeder Favorit vierzehntausend Leibeigene, jedoch wurde diese Gunst nicht den Favoriten allein zu teil. Ein Beispiel dafür bietet der Fürst Repnin und andre. Und war damit nicht ein höherer Gesichtspunkt verknüpft? Die Kronsbauern zahlten einen niedrigen Landzins und wenig Personalabgaben. Das Land lag brach und es gab immer Steuerrückstände. Die Bauern waren in Roheit und Unwissenheit versunken; nach der Verteilung der Bauern wurde von den Besitzern eine regelrechte Wirtschaft eingerichtet. Sie führten Ackerbau ein, Gehöfte, Fabriken, bauten sich Wohngebäude und verbreiteten dadurch im Volke neue Ideen; der Staat aber wurde dadurch mit einer Fülle von Erzeugnissen bereichert. Daß Katharina solche Absichten verfolgte, wird dadurch bewiesen, daß sie mehr als einmal daran dachte, die Bauern von der Leibeigenschaft zu befreien. War das aber möglich? Einerseits hinderte sie daran die Unwissenheit der Bauern selbst, denen diese Freiheit mehr Schaden als Nutzen bringen konnte. Da die Bauern von einer vernünftigen, durch die Gesetze begrenzten Freiheit gar keine Vorstellung hatten, so konnten sie zur Willkür übergehen und womit sollte man sie dann in den Grenzen des Gehorsams erhalten? Andrerseits waren die Besitzer, wie auch jetzt, die natürlichen Wächter der Ordnung auf ihren Besitzungen; indem sie sich selbst vor Aufruhr bewahrten, schützten sie auch den ganzen Staat davor. Durch wen hätten sie ersetzt werden können auf diesem ungeheuren Flächenraum? „Die Verteilung der Landgüter,“ sagte Katharina zu dem für diesen Zweck versammelten Staatsrat, und ein andres Mal zu Graf Ssaltykow, Panin, Fürst Repnin und namentlich auch zum Generalprokureur Fürsten Wjazemski, „wird die künftige Befreiung des Bauernstandes anbahnen.“


*) Instruktion für die im Jahre 1767 zusammentretende Kommission, von der Kaiserin selbst im liberalen Geiste abgefasst.