Irrungen

Am 12. März 1801 um fünf Uhr morgens erschien ein Bediensteter des Admiralitätskollegiums mit der mündlichen Meldung, daß der Kaiser Paul I. in der Nacht einem Schlaganfall erlegen, und daß an alle der Befehl ergangen sei, sich zur Eidesleistung im Winterpalais einzufinden. Diese Nachricht versetzte mich in die größte Aufregung. Es stiegen in mir Zweifel auf; infolge meiner jugendlichen Unerfahrenheit kam ich auf den Gedanken, Kaiser Paul könnte befohlen haben, diese Nachricht zu verbreiten, um zu sehen, ob seine Untertanen sich bei der Kunde von dieser so plötzlich erfolgten Katastrophe erfreut oder betrübt zeigen würden. Ich kleidete mich schnell an und nahm, in voller Uniform, mit bekümmertem Antlitz und schwerem Herzen, meinen Weg zum Winterpalais. Welche Gedanken durchkreuzten nicht unterwegs meinen armen Kopf! Plötzlich erinnerte ich mich der Ereignisse am letzten Abend, den ich beim Grafen Golowkin verbracht hatte, und dessen, was ich im Hause des Grafen Pahlen gesehen hatte*). Alles dies brachte mich noch mehr in Verwirrung. „Wer ist heute dejourierender Flügeladjutant?“ fragte ich mich selbst. „Wenn ich nicht irre, ist es Arssenjew. Er muß über alles sichrere Auskunft geben können.“ Ich suchte ihn auf und traf ihn beim Ankleiden; sein Kammerdiener war ein Franzose, der gut russisch sprach; in seiner Gegenwart wagte ich weiter nichts zu sagen, als:

*) Die Einzelheiten über diesen Vorfall fehlen in dem russischen Original. Anmerk. d. Übers.


„Du hast, glaube ich, heute Dejour?“

„Jawohl!“ antwortete Arssenjew; „du aber scheinst mir heute nicht ganz wohl zu sein?“ fuhr er fort.

„Allerdings, ich habe Kopfschmerzen.“

Als Arssenjew sich angekleidet hatte, erzählte ich ihm, was man mir gemeldet hatte. „Um Gottes willen, sprich nicht darüber!“ antwortete er; „wie ist es denn möglich, daß ich, als Flügeladjutant, nichts davon weiß? Irgend ein Trinker, Betrüger oder Verrückter hat sich das ausgedacht. Wollen mir zusammen ins Palais fahren*).

Ich warf einen Blick durchs Fenster und bemerkte einige Leibwagen**), welche mit verschiedenen Habseligkeiten aus dem Michaelspalais zum Winterpalais fuhren.

„Sieh doch!“ sagte ich zu Arssenjew.

,,Ja so,“ antwortete er, „der Hof siedelt aus dem Michaelspalais ins Winterpalais über; dort ist es unerträglich feucht. Die Kutsche sieht bereit, wollen wir aufbrechen.“

Als wir an die Brücke gekommen waren, stiegen wir, wie gewöhnlich, aus dem Wagen, nahmen den Hut in die rechte Hand, den Stock in die linke, marschierten „links, rechts, links, rechts“ bis zu dem Hauptportal des Schlosses und traten in den Torweg, um uns etwas zu erholen. Sehr befremdend war es für mich, zu sehen, daß Leibgrenadiere, anstatt der Preobrashensker auf Posten standen. Der Major, welcher die Wache befehligte, trat auf uns zu und fragte Arssenjew: „Wen wünschen Sie zu sprechen?“

„Ich bin dejourierender Flügeladjutant.“

„Ich frage, wen Sie zu sprechen wünschen?“

„Ich wünsche den Dejourdienst beim Kaiser anzutreten,“ antwortete Arssenjew ärgerlich.

„Bei welchem Kaiser?“ fragte der Major.

„Welche Frage? Wir haben nur einen Kaiser Paul!“

„Folgen Sie mir gefälligst auf die Hauptwache.“

Der Major wandte sich darauf zu mir und fragte: „und wen wünschen Sie zu sprechen?“

Ich hatte mir schon eine Antwort zurechtgelegt.

„Ich bin auf dem Wege zum Admiral Kuschelew.“ „Der ist heute nacht in sein eigenes Haus übergesiedelt. Da werden Sie ihn finden,“ sagte der Major, indem er mir den Rücken zuwandte und mit Arssenjew auf die Hauptwache ging. Ich war sehr froh darüber, von dem Major nicht weiter behelligt zu werden, und begab mich zurück zu unserm Wagen. Bei dem Denkmal Peters des Großen ließ ich halten und dachte darüber nach, was ich tun und wie ich Arssenjew befreien sollte. Plötzlich sehe ich eine Kutsche im vollen Galopp über die Brücke jagen, was früher nicht vorkam. Ich erblicke in derselben Fedor Petrowitsch Uwarow und kehre wieder zum Schlossportal zurück; kaum war er aus der Kutsche gesprungen, so stand ich schon vor ihm und erzählte ihm meine Erlebnisse. Uwarow rief den Major herbei, flüsterte ihm etwas ins Ohr, und Arssenjew erschien.

„Wollen wir gehen, meine Herren,“ sagte Uwarow, „ich habe Befehl erhalten, die Leiche des Kaisers auf den Katafalk stellen zu lassen.“

*) Wir erfuhren, daß die „Milionnaja“ die ganze Nacht hindurch abgesperrt gewesen, und daß kein lebendes Wesen von der Polizei weder hinein noch herausgelassen worden war. Anmerk. d. Verf.

**) Damals hieß alles bei Hof „Leib“, z. B. Leibkastrolle, Leid-Medikus u. s. w. Anmerk. d.
Verf.