Einführung

Im Juli 1882 wurde der um die russische Geschichte hochverdiente Herausgeber der „Russkaja Starina“, Herr Ssemewski nach Oranienbaum zu Modest Iwanowitsch Bogdanowitsch, dem bekannten Geschichtsschreiber der Regierung und der Kriege Alexander I., gebeten. Er fand den siebenundsiebzigjährigen Greis im Sterben und erhielt von ihm zu vollem Eigentum in zwei Exemplaren das Manuskript der Memoiren de Sanglens. Im Jahr 1883 gelang es Herrn Ssemewski, noch eine dritte Handschrift zu erwerben, die jedoch nur den ersten, die Zeit Katharina II. umfassenden Teil der Denkwürdigkeiten enthielt, dafür aber eine im Bogdanowitschen Manuskript nicht erhaltene Einleitung bot, die folgendermaßen lautet:

„Je vais écrire l'histoire des affaires de mon temps, tâche délicate et périlleuse. Auf Bitten vieler meiner Freunde und Bekannten, deren Meinung ich hochschätze, habe ich mich dazu entschlossen, die im Laufe meines Lebens gesammelten Aufzeichnungen zu ordnen. Nachdem ich mich dazu entschieden, über viele Vorgänge zu schreiben, an denen ich selbst teils als handelnde Person, teils als Zuschauer teilgenommen, will ich von andern Dingen nach den mir zu Ohren gekommenen sicheren Nachrichten erzählen; ich habe mich einzig und allein von der Wahrheit leiten lassen, so daß ich für einen Vorzug meiner Memoiren, ihre Glaubwürdigkeit, ohne Bedenken mich verbürgen kann. Ich habe niemand, auch nicht meine eigene Person geschont. Seiner und andrer Eigenliebe zu dienen, mag fürs Leben nützlich sein, aber am Rande des Grabes wäre es frevelhaft, sich oder andre besser oder schlechter zu machen, als sie es in Wirklichkeit gewesen sind. Ich schreibe nicht für meine Zeitgenossen, ich schreibe so, als wäre ich nicht mehr am Leben, daher also ohne Neid, ohne Bosheit. Ich brauche niemand zu loben, zu schonen; ohne Grund tadeln heißt eine Schlechtigkeit begehen. Suum cuique. Irdische Interessen kann es für mich nicht mehr geben. So möge also die strenge Wahrheit meine Feder führen, ich konnte irren, denn ich bin ein Mensch, aber dafür stehe ich ein, daß eine vorbedachte Absicht nicht vorlag. J. de Sanglen.“


Folgt hieraus, daß wir in diesen Memoiren eine Redaktion früher niedergeschriebener Aufzeichnungen vor uns haben, so wissen wir aus andrer Quelle, daß de Sanglen jene Schlussredaktion im Jahre 1861 vornahm, und aus dem Charakter der Memoiren ergibt sich, daß ihr wesentlicher Inhalt, zumal die zahlreichen im Wortlaut wiedergegebenen Gespräche, sofort nachdem sie stattgefunden hatten, aufgezeichnet wurden. Auch zeigt der Vergleich mit andern urkundlichen Quellen, speziell in dem bekannten Buch des Baron Korf über Ssperanski, sowie das Zeugnis der zahlreichen Denkwürdigkeiten, die uns über jene Periode erhalten sind, daß die Sanglenschen Aufzeichnungen uns eine Quelle ersten Ranges vorführen. Sie erschienen daher besonders geeignet, die Reihe der Denkwürdigkeiten zur Geschichte Russlands im neunzehnten Jahrhundert zu eröffnen, zumal sie gewissermaßen als Einleitung in die Geschichte des neuen Russland dienen können, da sie uns durch die Tage Katharina II. und Pauls zu Alexander I. führen. Für die Beurteilung des letzteren aber lässt sich erst nach Einsicht in diese Sanglenschen Aufzeichnungen ein wirklich treffender Maßstab finden.

Sanglen wurde im Jahre 1776 geboren; die für seine Erziehung entscheidenden Eindrücke empfing er in Reval, so daß er seinen Überzeugungen nach stets auf dem Boden westeuropäischer Bildung gestanden hat. In seiner philosophischen Richtung war er ein Schüler der Kantschen Philosophie, deren moralische Grundanschauungen er in einem an Versuchungen reichen Leben redlich zur Geltung zu bringen bemüht gewesen ist. Der Höhepunkt seiner Tätigkeit und seiner politischen Bedeutung fällt in die Jahre 1811 und 1812, da er als Chef der Kanzlei des Polizeiministers Balaschow und als Vertrauter des Kaisers mehr als andre die intimsten Geheimnisse des russischen Hoflebens und zum Teil auch die der großen Politik kennen lernte. Als das Polizeiministerium aufgehoben wurde und an Stelle desselben das Departement der Exekutivpolizei gebildet wurde (conf. Russkaja Starina, Dez. 1882), nahm Sanglen seinen Abschied und ließ sich in Moskau nieder, wo er 1864, im Alter von achtundachtzig Jahren, sein Leben als Privatmann beschloß. Pogodin erzählt über ihn in einem Artikel über Ssperanski (Russki Archiv 1871): „Der sechsundachtzigjährige, vom Schlage getroffene Greis bewahrte trotz seines hohen Alters und seiner Kränklichkeit bis zum Ende seines Lebens ein frisches Gedächtnis, ein warmes Herz und nahm sowohl an der äußeren, wie auch an der inneren Politik regen Anteil.“

„J. J. Sanglen erschien mir,“ fährt Pogodin fort, „als ein ehrenhafter und edel denkender Mann, soweit ich es während unsrer vierzigjährigen Bekanntschaft beobachten konnte, wobei ich übrigens mit ihm weiter nichts zu tun hatte, abgesehen von unsern Gesprächen und literarischen Beziehungen. Als Beweis seiner Uneigennützigkeit kann dienen, daß er beinahe in Armut seine letzten Lebensjahre verlebte, da er nur eine geringfügige Pension bezog. Er lebte etwa zehn Jahre lang ganz allein in zwei bis drei niedrigen Zimmern in einem Landhause in Krassnoje Sselo (bei Moskau), in dem er sich den Tag über von einer Tasse Kaffee und einem Teller Suppe mit einem Stück Braten nährte. . . . Ich fand ihn stets hinter einem Berge von Zeitungen. . . . Als weiland Chef der Geheimpolizei konnte er sich auf keine Weise von dem Schrecken befreien, den er früher über andre gebracht.“

Auch was uns sonst über Sanglen in den Memoiren der Frau Passek berichtet wird, lautet günstig. Das entscheidende Urteil ist aber aus den Memoiren selbst zu gewinnen.

Erwähnt sei noch eine Korrespondenz Sanglens mit Korf vorn Jahre 1839, aus der sich ergibt, daß Sanglen sich dem Kaiser Alexander I. gegenüber verpflichtet hatte, bei seinen (Sanglens) Lebzeiten nie den Schleier des Geheimnisses zu lüften, das über seinen Beziehungen zum Kaiser ruhte.

Zum Kaiser Nikolai ist Sanglen 1831 in persönliche Beziehungen getreten. Er wurde mit Durchsicht und Kritik der Papiere des Fürsten A. B. Golitzyn betraut und löste die ihm gestellte Aufgabe zur größten Zufriedenheit des Zaren. Bei der großen Verehrung Nikolais für Ssperanski lässt sich auch daraus schließen, daß die Haltung Sanglens in der ganzen tragischen, für Alexander I. so ungemein charakteristischen Angelegenheit eine ehrenhafte und jedenfalls höchst diskrete gewesen ist.

Berlin, im Oktober 1813.

Theodor Schiemann.