Ein Staatsgefangener in Reval

Mit dem friedlichen Stillleben, das bisher unter Katharina in Reval geherrscht hatte, war es jetzt vorbei. Alle waren voller Neugierde und erwarteten mit Ungeduld Nachrichten über die Ereignisse in Petersburg; jeder Brief aus der Residenz ging aus einer Hand in die andre; ein jeder, der aus Petersburg kam, wurde aufs genaueste ausgefragt; allmählich bemächtigte sich aller große Furcht. Eine kleine Freude bereitete der Gnadenbefehl des Kaisers, alle in den Gefängnissen und Festungstürmen Revals Internierten aus der Haft zu entlassen. Ich kann nicht umhin, über einen unbekannten Gefangenen zu berichten, den wir auch vorher öfters mit langem Bart hinter dem Gitterfenster über der sogenannten Strandpforte hatten sitzen sehen. Man wußte von ihm nichts weiter, als daß er zu Beginn der Regierung Katharinas II. eingebracht worden war, wer es aber war und wofür er im Gefängnis saß, wußte niemand, auch nicht der Kommandant und Gouverneur. Kisten mit wertvollen Kleidern, Wäsche, Silbergerät und zum Unterhalt zehntausend Rubel an barem Gelde waren ihm nachgeschickt worden. Von alledem war nichts mehr vorhanden, und der Gefangene hat wahrscheinlich nichts von seinem Reichtum zu sehen bekommen. Als der Befehl eintraf, alle Gefangenen in Freiheit zu setzen, da wanderten alle Honoratioren Revals nebst Gefolge auf die Festungsmauer zum Turme, wo der unbekannte gefangen saß. Seine Zimmer hatte der Platzmajor desinfizieren lassen, aber trotz der dichten Rauchwolke, welche die finstere Behausung erfüllte, herrschte in derselben doch ein äußerst widerwärtiger Geruch. In dem ersten Zimmer standen an der Tür zwei Schildwachen und noch zwei Soldaten, wahrscheinlich für etwaige Aufträge oder zur Verdoppelung der Wache, denn außer ihnen befand sich da noch ein Unteroffizier. Wir begaben uns in das zweite, recht geräumige Zimmer, wo wir im äußersten Winkel einen Menschen auf Stroh liegen sahen, mit dem Gesicht zur Wand gekehrt, in einem weißen Kittel, die Füße bedeckt mit einem Schafspelz ohne Überzug. Neben dem Lager stand ein Krug mit einem Stück Roggenbrot darauf.

„Stehen Sie auf,“ sagte der Kommandant, „Gott hat es gefallen, die Kaiserin Katharina II. aus dem Leben abzurufen, und Kaiser Paul hat den Thron seiner Vorfahren bestiegen. Er schenkt Ihnen Vergebung und Freiheit.“


Der Gefangene schwieg und rührte sich nicht von der Stelle; der Kommandant fuhr fort: „Der Herr und Kaiser hat in seiner großen Güte ...“

„Güte?“ rief der Gefangene sich erhebend. ,,,Ist das, was du hier siehst, Güte?“ Er stand auf und wir erblickten einen abgemagerten, blassen, von grauen Haaren umwallten Menschen vor uns; er lächelte verächtlich und war schrecklich anzuschauen, wie ein aus dem Grabe erstandenes Schattenbild.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte mein Admiral, „Gott wird Ihnen helfen ...“

„Gott? Gott?“ fiel ihm der Gefangene ins Wort, „du hast einen Gott und er läßt es zu, daß man einen unschuldigen Menschen einkerkert und ihn fünfzig Jahre lang, wie ein Stück Vieh im Stalle, gefangen hält! Ach, ihr erbärmlichen Sklavenseelen!“

Der Kommandant suchte ihn auf andre Gedanken zu bringen und sagte: „Wollen Sie mir nicht Ihren Namen nennen?“

„Frage sie danach, die jetzt tot im Grabe liegt, ich aber bin hier bei lebendigem Leibe begraben worden; und du, der du meine Zelle zu bewachen hast, solltest meinen Namen nicht kennen? Wie? . . . Hinaus mit euch! Ich will von eurer Welt nichts wissen; wohin soll ich mich wenden? Diese Wände sind meine einzigen Freunde, von denen ich mich nicht trennen werde. Hinaus! Fort!“ . . .

Die letzten Worte schrie er wild und laut. Seine Augen leuchteten von einem unheimlichen Feuer; er sah schrecklich aus, wir glaubten, er habe den Verstand verloren. Der Kommandant raunte dem Platzmajor etwas ins Ohr und alle verließen voller Entsetzen das Gemach. Nachher erfuhren wir, daß man ihm ein Bett und einiges an Möbeln gegeben, alle Einwohner Revals schickten ihm irgend etwas, kurz alle bemühten sich, ihm seine Lage zu erleichtern.