Chitrowo

Am Abend wurden mir alle Papiere gebracht, welche man bei Chitrowo in dem Augenblick seiner Abreise in die Verbannung mit Beschlag belegt hatte. So viel ich auch herumstöberte, nirgends war auch nur ein Schatten davon zu finden, was Balaschow mir mitgeteilt hatte. Nur Briefe von Konstantin Pawlowitsch*) waren darunter, welche aber nicht Chitrowo, sondern seine Gemahlin kompromittierten, abgesehen von zahlreichen andern Intrigen. Ich hielt es für meine Pflicht, durch Ssinowjew diesen Umstand dem Kaiser zur Kenntnis zu bringen. Es wurde befohlen, die Briefe durch Ssinowjew einzureichen. Letzterer erhielt einige zurück mit dem Befehl, sie dem Herrn Minister behufs eines Rapports darüber einzuhändigen. Ich reichte sie dem Herrn Minister ein mit Hinzufügung eines Registers der übrigen Papiere.

„Sind darunter Schreiben von Wojejkow?“ fragte Balaschow.


„Jawohl,“ antwortete ich, „aber lauter inhaltslose, die mehr auf Anna Michailowna Chitrowo, wie auf die übrigen, Bezug haben.“

„War da nicht eine Karte von Russland?“ fragte der Minister.

„Unter den mir zugesandten Papieren ist dieselbe nicht vorhanden.“

„Ach ja! Ich hatte es vergessen,“ fügte Balaschow hinzu. „Ich habe dieselbe dem Kaiser vorgestellt. Gott sei Dank,“ sagte er, „die Bedenken in Betreff meiner scheinen beim Kaiser geschwunden zu sein. Schade, sehr schade, daß aus Kiew ein Brief auf den Namen Ssperanskis angekommen, der ihn stark kompromittiert.“

Ich: „Den armen Ssperanski bedrängt man von allen Seiten. Schließlich wird der Kaiser diese ganze Geschichte satt bekommen und er wird, ebenso wie Chitrowo, verschickt werden. Es wäre interessant, zu wissen, ob Ssperanski davon eine Ahnung hat, was hinter seinem Rücken geschieht.“

Balaschow: „Ich glaube es nicht; es würde wohl das eine oder das andre durchschlüpfen, aber er steht sich gut mit Kotschubej und Mordwinow. Diese werden ihn halten.“

Ich: „Sollte er wirklich auf sie hoffen? Im entscheidenden Augenblick werden ihn alle im Stich lassen.“

Balaschow: „Wie wagen Sie es, über Leute zu urteilen, welche so hohe Stellungen einnehmen? Diese besitzen gewiß mehr Edelmut, als Menschen, die im Dienste auf mittleren oder unteren Stufen stehen.“

Ich merkte jetzt, wenn auch zu spät, daß Balaschow diese ganze Unterhaltung nur dazu angeknüpft hatte, um auf irgend eine Weise auf mich zu sticheln, und antwortete: „Pardon, Exzellenz! Allerdings ist es für unsereinen schwierig, über Leute zu urteilen, die so hoch stehen.“

Balaschow sagte erfreut: „Da muß man alle Verhältnisse genau kennen, muß zu Leuten Beziehungen haben, die sich auf der Höhe befinden, muß das Vertrauen des Kaisers besitzen und nicht einer einzelnen Persönlichkeit untergeordnet sein.“

Ich antwortete nichts darauf und verabschiedete mich. Als ich nach Hause zurückgekehrt, war ich äußerst unzufrieden mit mir selbst, da ich die Beobachtung machte, daß ich meinem Charakter untreu werde; früher verheimlichte ich nichts, sagte immer die Wahrheit, wie sie mir erschien und wie ich sie fühlte. Jetzt verstellte ich mich, stimmte unsinnigen Behauptungen bei. Dies beunruhigte mich dermaßen, daß ich um meinen Abschied zu bitten beschloß.

*) Gemeint ist der Bruder des Kaisers Alexander. Bemerk. d. Übers.