Anekdoten

Richardsohn, so erzählte man sich, hatte der Kaiserin verordnet, vor dem Mittagessen, zur Anregung des Appetits, ein Gläschen Gdanschen (Danziger) Liqueur zu genießen; Katharina befolgte den Rat des Arztes und das Mittel war schon eine geraume Zeit mit gutem Erfolg angewandt worden. Einmal rühmte die Kaiserin im Scherz den guten Erfolg und die Billigkeit der Kur.

„Sie ist nicht einmal so billig, Majestät,“ antwortete ihr Graf Bruce, „nach der Rechnung des Mundschenken werden täglich zwei Stof*) von diesem Liqueur verbraucht.“


„Ach, dieser alte Schlingel!“ sagte die Kaiserin, „was wird man von mir denken? Lassen Sie ihn rufen.“ Es erschien ein alter Mann mit gebückter Haltung, dessen Name mir entfallen ist. „Wieviel geht bei dir täglich von dem Gdanschen Liqueur auf?“ fragte die Kaiserin.

„Zwei Stof, Majestät!“

„Schämst du dich nicht, wie kann ich denn zwei Stof austrinken?“

„Mit Verlaub zu sagen, Mütterchen Kaiserin, bisweilen geht auch noch mehr auf. Eure Hoheit genießen nur ein Viertelgläschen; sobald ich aber von Ihnen herauskomme, erscheint auch der dejourierende Generaladjutant. ,Gib mir vom Liqueur der Kaiserin zu schmecken.‘ Ich reiche ihm ein Gläschen. Nun finden sich auch die dejourierenden Flügeladjutanten, Kammerherren, Kammerjunker ein, und ehe man sich's versieht, ist ein Stof ausgetrunken. Ich laufe noch einem zweiten; da strömen Gott weiß was für Leute zusammen, Doktoren, Chirurgen u. f. w. Alle bitten, von dem Liqueur der Kaiserin schmecken zu dürfen, endlich kehre ich ins Buffetzimmer zurück; nun nehme auch ich einen Schluck von dem Liqueur der Kaiserin, ich rufe den Gehilfen, und es ist aus mit den zwei Stof.“

„Schon gut,“ sagte die Kaiserin lächelnd', „sieh nur zu, daß nicht über zwei Stof am Tage aufgehen.“

*) Etwa zweieinhalb Liter.

Wie nachsichtig sie und, ihrem Beispiele folgend, auch die höchsten Würdenträger gegen Kleinigkeiten ohne Belang waren, dafür gibt folgende Anekdote ein Beispiel. Einmal saß die Kaiserin mit dem Grafen Kyrill Grigorjewitsch Nazumowski nach dem Mittagessen beim Kartenspiel. Es tritt der dejourierende Kammerpage ins Zimmer und meldet dem Grafen, der Hauptmann von der Schlosswache lasse ihn rufen.

„Schön,“ antwortete der Graf und wollte weiter spielen.

„Was ist geschehen'?“ fragte die Kaiserin.

„Nicht von Bedeutung, Majestät, der Hauptmann von der Wache läßt mich rufen.“

Die Kaiserin legte die Karten auf den Tisch. „Gehen Sie,“ sagte sie zum Grafen, „es könnte doch etwas passiert sein; der Hauptmann wird nicht ohne Grund gekommen sein.“ Der Graf ging hinaus und kehrte gleich darauf zurück. „Was war da?“ fragte die Kaiserin.

„Eine ganze Kleinigkeit, Majestät, der Hauptmann fühlt sich etwas gekränkt. An der Wand der Wachstube hat man in Lebensgröße sein Porträt aufgezeichnet, mit einem langen Zopf und dem Degen in der Hand. Darunter stand geschrieben: ,Trantararan, Bulgakow tapfrer Hauptmann.“

„Weiche Entscheidung haben Sie in dieser wichtigen Angelegenheit getroffen?“ fragte die Kaiserin.

,,.Ich habe Befehl erteilt, das Porträt stehen zu lassen, wenn es ähnlich ist, wo nicht, so solle man es abwischen.“ Die Kaiserin brach in ein schallendes Gelächter aus.

Wie sehr sie die Verdienste jedes einzelnen, welcher Rangklasse er auch angehören mochte, zu schätzen verstand und gerade dadurch auch ihre Großen veranlaßte, ebenso zu handeln, lehrt folgendes Beispiel.

Graf Nikolai Iwanowitsch Ssaltykow hatte auf Grund von Berichten der Vorgesetzten bei der Kaiserin beantragt, einen Hauptmann der Armee zu kassieren. „Wie geht das aber an? Er ist doch Hauptmann,“ sagte die Kaiserin, ihre Stimme erhebend. ,,Er hat sich im Verlauf von mehreren Jahren bis zu diesem Range aufgedient, da kann doch plötzlich ein einziger Fehltritt nicht einen mehrjährigen, tadellosen Dienst in Schatten stellen? Wenn er wirklich nicht mehr für den Dienst tauglich ist, so soll man ihm in Ehren seinen Abschied geben, ohne seinem Stande einen Schimpf anzutun. Wenn wir den Rang nicht zu schätzen wissen, so wird er im Werte sinken; ist das aber einmal geschehen, so wird es uns niemals gelingen, seine Bedeutung zu heben.“