Memel im neunzehnten Jahrhundert.

Der „Geschichte Memels
Autor: Sembritzki, Johannes (1856-1919) Historiker, Erscheinungsjahr: 1902

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Memel, Verhältnisse, 19. Jahrhundert, Preußen, Hansestadt, Handelsstadt, Wasserleitung, Schifffahrt, Dampfboot, elektrische Bahn, Schlachthof, Südermolenbau, Heimat, Heimatstadt, Ostpreußen, Altstadt, Königsberg, Gumbinnen, Friedrichstadt, Neustadt, Wilhelmstadt, Kämmereidorf Sandwehr, Bewohner, Magistrat, Deutsche, Behörden, Scharfrichterei, Verwaltung, Magistrat
Inhaltsverzeichnis
  1. Erste Fortsetzung
Vorrede

Hiermit erfolgt als Beschluss meiner vor zwei Jahren erschienenen „Geschichte der königl. preußischen See- und Handelsstadt Memel“ die Darstellung der Verhältnisse dieser Stadt, während des verflossenen Jahrhunderts von 1816 ab.

Dieselbe konnte mit dem vorhin genannten Werke nicht verbunden werden, weil eine Stadtgeschichte im neunzehnten Jahrhundert von anderen Gesichtspunkten aus, als die frühere Zeit, behandelt werden, und bei dem reichen, sorgfältig zu sichtenden Materiale der Stoff eine andere Verteilung und Ordnung erfahren muss. Es ist mein Bestreben gewesen, auf den nachfolgenden Blattern ein möglichst umfassendes und treues, jedoch mit Details nicht überladenes Gesamtbild der Entwicklung und Ausgestaltung Memels während fast voller neun friedlicher Jahrzehnte aus oft noch recht patriarchalischen und primitiven Verhältnissen zu dem wohlgeordneten und hochkultivierten Gemeinwesen, als welches es heute dasteht, zu geben. Meine Quellen waren, außer vielen im Texte zitierten Druckschriften, für die erste Hälfte des Jahrhunderts das städtische Archiv, die darin befindlichen Kammerei-Rechnungen und damals recht ausführlichen Protokollbücher der Stadtverordneten, die in der Ratsbibliothek vorhandenen zahlreichen Jahrgange des „Memelschen Wochenblatts“, die Chronik der St. Johanniskirche u. s. w., für die zweite Hälfte neben mündlichen Mitteilungen besonders die gedruckt vorliegenden städtischen Verwaltungsberichte, die Berichte über Handel und Schifffahrt, die Schul-Programme und die lange Reihe Jahrgänge des „Memeler Dampfboot“. Schlusspunkt meiner Arbeit, über den ich nur selten für angezeigt fand, hinauszugehen, ist das Ende des Jahres 1899, indem die späteren Unternehmungen und Projekte, wie Wasserleitung, elektrische Bahn, Südermolenbau, Schlachthof, noch nicht historisch darstellbar erscheinen. Rücksichtlich der neuesten Zeiten habe ich geglaubt, mich kürzer fassen zu müssen und auch zu können, als bei den älteren Jahrzehnten. Überall war es mein Bestreben, unparteiisch und wahr zu sein, eingedenk der Verse Balde’s in Herders „Terpsichore“ (II, S. 292):

Und glaubst du, Frevler, der mit Betruges Dunst
Statt heller Wahrheit, Blätter und Bücher füllt,
Und glaubst die Nachwelt du zu täuschen?
Sie, die wie Aeakus über Tote
Gericht hält. Wenn sie Taten der Ahnen wägt,
Sie streift der Vorwelt Bilde den Firniss ab
Und hasst den Lügner, der für Wahrheit
Fabel ihr gab und ein Spiel der Farben.“

Und so möge denn auch dies Büchlein in die Welt gehen als ein Zeichen meiner aufrichtigen Liebe zu meiner werten Heimatstadt, zu dem alten, guten, schönen Memel!

          Johannes Sembritzki.


Als Memel, bisher zum Verwaltungsbezirk der Litauischen Regierung zu Gumbinnen gehörig, 1816 der damals so genannten Ostpreußischen Regierung zu Königsberg unterstellt wurde, umfasste es die Altstadt, die Friedrichstadt und die Neustadt mit der Wilhelmstadt, sowie das Kämmereidorf Sandwehr, während die dicht anstoßende Amts-Vitte noch eine eigene Kommune bildete. Es zählte nach den damals allerdings nicht sehr genauen und daher sonderbar schwankenden Zählungen Ende 1816: 7.791 Einwohner, worunter 882 Bürger (729 stimmfähige, 37 nichtstimmfähige, 116 Bürgerinnen), während 1818 die Anzahl nur auf 7.763 angegeben wird; 1825 betrug sie 8.419 und stieg 1831 auf 8.601, 1837 auf 9.034, immer einschließlich des Militärs. Im Jahre 1846 zählte Memel 9.710, 1849: 10.237 Einwohner, 1852 mit Sandwehr 11.122 Einwohner (letzteres Dorf allein hatte 1822: 284; 1831: 495; 1349: 781; 1852: 808 Einwohner).

Die Verfassung der Stadt richtete sich nach der Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Die revidierte Städte-Ordnung vom 17. Marz 1831 wurde von Memel nicht angenommen; die noch heute geltende Städte-Ordnung für die sechs östlichen Provinzen der Monarchie vom 30. Mai 1853 trat am 23. November desselben Jahres in Kraft. An der Spitze der Stadt stand der Bürgermeister mit 1.500 Thalern Gehalt, dem ein Syndikus (juristischer Beirat) mit 1.200 Thalern und ein Stadtkämmerer mit 1.000 Thalern zur Seite gestellt waren; sie bildeten zusammen mit 9, später 6 unbesoldeten „Ratsherren“, wie nach der Städte-Ordnung die Magistratsmitglieder in mittleren Städten unter 10.000 Einwohnern hießen, den Magistrat. Die Zahl der Stadtverordneten betrug 48, seit 1820 mit Genehmigung der Regierung 36, seit der Städte-Ordnung von 1853 nur 30; Ende 1847 beschlossen die Stadtverordneten die Öffentlichkeit ihrer Versammlungen, und die erste derartige Sitzung fand am 18. Januar 1848 statt. Zur Erledigung der verschiedenen Geschäfte waren sogenannte „Deputationen“ aus Magistrat und Stadtverordneten eingesetzt: Kämmereikassen-Kuratel, Bau-Deputation, Schulen-Deputation, Servis-Deputation, von denen die letzteren noch heute bestehen. Erweitert wurde der Geschäftskreis des Magistrats 1874 durch das Standesamt, 1875 durch das Institut der Waisenräte, 1888 durch das Gewerbegericht.

An Subalternbeamten waren ein Stadt-Sekretär mit 850 Thalern, ein Registrator mit 600 Thalern und drei Kanzlisten: ein Kanzlei-Inspektor, ein Kanzlei-Registrator und ein Kanzlei-Assistent, vorhanden. Ende 1820 wurde ein Kämmerei-Kassen-Rendant mit 600 Thalern angestellt, wogegen aber der Posten des Sekretärs ohne Vergütigung vom Kämmerer mit versehen werden musste; auch ging die Stelle des Kanzlei-Registrators ein. Die Kanzlisten erhielten neben ihren Gehältern von resp. 400 und je 300 Thalern noch jährliche „Gratifikationen“ oder „Gratiale“ von 100 und je 50 Thalern, als aber 1821 Kanzlei-Inspektor und Kanzlei-Assistent zum Juli um einen Vorschuss auf diese Zulagen zu bitten sich erkühnten, fanden die Stadtverordneten „die Anträge der beiden Herren sehr zudringlich und besonders in der Hinsicht anmaßend, dass sie von einer Gratifikation sprechen, die nach ihrem Antrage ihnen gesetzmäßig zukäme, und darauf nur Vorschüsse verlangen“; sie wurden daher mit ihren Ansprüchen auf Gratifikationen gänzlich abgewiesen, später aber ihre Gehälter auf 550 und 450 Thalern erhöht. Außerdem hatten sie noch gewisse kleine Neben-Einnahmen; für die Reinschrift der Kämmereirechnungen z. B. erhielt der Kanzlei-Inspektor jedesmal 20 Thaler. Zwei weitere Beamten-Kategorien waren die „Unterbedienten“: zwei Stadtwachtmeister, ein „Kämmerei-Zinsmahner“ (später versah diese Stelle der zweite Wachtmeister, und es wurde dafür ein besonderer Exekutor angestellt), ein Gefangenenwärter, zwei Aufwärter und der Plantagen- und Kammerei-Inspektor, — und die „Offizianten“, zu denen neben den Brakern, Wägern und Schaldienern bei der Flachs-, der Herings-Brake und der Wage, den drei Hebammen, dem Schornsteinfeger, dem Scharfrichter*) und den Nachtwächtern auch der Stadtphysikus mit 66 Thlr. 20 Sgr., später 150 Thlr., und der Ratschirurgus mit 150 Thalern Gehalt gehörten, die seit 1838 als Kreis-Physicus und Kreis-Chirurgus geführt werden. Die Polizei hatte, so lange sie unter staatlicher Verwaltung stand, einen Direktor mit 1.550 Thalern Gehalt, zwei Sekretäre, zwei Kommissarien und vier Sergeanten und verursachte der Stadt 1817: 4.060 Thaler Kosten; nach ihrer Übernahme durch die Stadt fiel die Direktorstelle weg, da der Bürgermeister die Verwaltung derselben ohne Gehaltserhöhung übernahm, und man begnügte sich lange mit einem Sekretär, zwei Kommissarien und zwei Sergeanten, so dass die Kosten dafür sich auf ca. 1.000 Thaler herabminderten. Erst in den dreißiger Jahren trat eine Vermehrung auf die alte Zahl vom Jahre 1817 ein. Unabhängig von der städtischen Polizei ist die Königliche Hafen-Polizei-Kommission (wie seit 1. Januar 1817 die bisherige Schifffahrts- und Handlungs-Polizei-Direktion heißt), deren Dirigenten Ernst Friedrich Sperling († 1828) und Gustav Sperling, nachher die jedesmaligen Königlichen Landräte waren und sind. Ihre Befugnis erstreckt sich bis zur Mündung des König-Wilhelm-Kanals, üher den zum Landkreise Memel gehörigen Teil des Haffs und die Dange his oberhalb der Eisenbahnbrücke. Das Nebeneinanderbestehen beider Behörden hat sich bewährt, und nur ein einziges Mai hat eine Differenz zwischen ihnen üble Folgen gehabt. Im Frühjahr 1875 fand in der Dange ein starker Eisgang statt, und das Eis verstopfte sich an der Börsenbrücke. Die Hafenpolizei lehnte die Räumung (die etwa 10 Thaler gekostet haben würde) ab, der Magistrat, hielt sich dazu nicht für befugt, da er auf dem Fluss nicht die Polizeigewalt habe. Und so zerstörte der Eisgang am 8. April an der Brücke die Gasleitung, wodurch sehr viel Gas verloren ging, und die Telegraphenleitung, und die Speicher oberhalb der Brücke liefen voll Wasser; der Gesamtschaden belief sich auf mehrere Tausend Thaler.

*) Bereits im Jahre 1796 war die Scharfrichterei zu Memel nebst denen zu Wehlau, Fischhausen und Bartenstein als kombiniertes Eigentum im Besitze des Hof-Scharfrichters Müller in Königsberg, der sie in genanntem Jahre aus freier Hand zum Verkaufe stellte, dann aber doch behielt. — Verschieden davon war die Abdeckerei zu Memel; der Abdecker hatte gegen Entgelt die Appartements und die vom Volke als solche benutzten Räume unter den Brücken zu reinigen und die sich herumtreibenden Hunde zu töten, deren Anzahl jährlich bedeutend war (1830 z. B. 65). Die lose herumlaufenden Hunde wurden an Ort und Stelle auf den Straßen totgeschlagen, was öfters so widrige Auftritte verursachte, dass die Stadtverordneten sich beim Magistrat darüber beschwerten. Darauf wurden dann die Hunde eingefangen und erst in der Abdeckerei getötet.

Blick auf Memel 1935 (1)

Blick auf Memel 1935 (1)

Blick auf Memel 1935 (2)

Blick auf Memel 1935 (2)

Memel um 1900 (1)

Memel um 1900 (1)

Memel um 1900 (2)

Memel um 1900 (2)

Memel 1684

Memel 1684

Memel 01

Memel 01