Mittelgruppe

Aus der gleichmäßigen Wiederholung derselben Grundform — die Bekrönung mit den Halbfiguren in Kreisen und die Predella mit Sitzbildern in Relief treten gegen die zwei Reihen stehender Figuren unter reichen Baldachinen ganz zurück — hebt sich beherrschend die durch die beiden Stockwerke reichende breite Mittelgruppe heraus mit dem starken Pathos der Linie, die die Arme des Gekreuzigten beschreiben. Weder seine Bewegung noch die der fast im Profil stehenden Maria und des Johannes kommen irgendwo in der breiten Fläche ähnlich vor. Ein dreifacher Baldachin bekrönt sie in feierlicher Pracht. Das Kreuz wurzelt in einem später — wahrscheinlich 1596 — hinzugefügten Gipfel Golgathas mit dem Schädel Adams und goldenen Blumen auf dem grünen Grund. Maria und Johannes stehen noch auf ihren Konsolen. Was ursprünglich die Stelle des Berggipfels eingenommen hat, wissen wir nicht, vielleicht ein Behälter für Reliquien.

Christus ist noch nicht das Opferlamm, das unter der Welt Sünde das gemarterte Haupt auf die Brust sinken lässt — so fasste ihn schon 1348 der noch im gebundenen Zeichenstil befangene Urheber des Wandgemäldes mit der Kreuzigungsgruppe in Konstanz. Bertram sieht ihn noch als Sieger über Tod und Hölle, der nur symbolisch leidet. Feierlich streckt er die Arme aus, die Finger krümmen sich noch nicht, die Hüfte biegt sich im Hangen nicht mehr aus, es ist eigentlich eher ein Schweben als ein Hangen. Maria ringt die Hände, aber sie wohnt als Göttin dem Opferakt bei und noch nicht als irdische Mutter dem Tod des Sohnes. Johannes trägt noch das Buch in der Linken und blickt, die Rechte auf die Brust gelegt, schmerzerfüllt, aber nicht verzweifelt, zum Gekreuzigten empor.


Wie über alle Formen des Altars herrscht der Leib des Herrn auch über die Gruppe um ihn. Wer seine Augen zu ihm erhebt, ist mit ihm allein. Es liegt für uns etwas Zeitloses in dieser Gestalt, etwas, das über dem Durchschnittsvermögen jeder Zeit liegt.

247 Die Mittelgruppe

Ist es nur die mit lebendigem Gefühl erfüllte formale Schönheit, die diesen Körper aus der Erdständigkeit der übrigen Statuen heraushebt? An sich ist dieser edle Leib, dessen grauer, sehr zart gegen das Gold des Hintergrundes stehender Fleischton der ursprüngliche ist, weit realistischer als irgend ein Christuskörper der jüngst vorhergehenden Zeit, zum Beispiel des über lebensgroßen Gekreuzigten vom Laienaltar zu Doberan, der doch höchstens ein Jahrzehnt älter ist. Bertram hat, wenn auch noch keine anatomischen Kenntnisse, doch sehr viel Empfindung für die lebende Materie des Fleisches. Brustkorb und Nabelpartie sind als Gegensatz sehr lebhaft ausgedrückt. Sehr schön sind Haltung und Ansatz des Halses, den das lange dunkle, auf die Schultern fallende Haar einrahmt.

Das Kreuz ist als Baumstamm mit Astansätzen gebildet — Holz vom Baum der Erkenntnis. Hinter dem Haupt sitzt ein großer Kreuznimbus, wie aus Gold und Edelsteinen gebildet. Die Evangelistenzeichen am Ende der Kreuzarme, derb geschnitzt, zeugen von starkem dekorativen Gefühl des Meisters.

Auch Maria und Johannes haben teil an der formalen Erhöhung des Menschlichen, die den Christus über die ganze Umgebung herrschen lässt. Eine solche auf strenge Schönheit ausgehende und bei aller Zurückhaltung den höchsten Reichtum aufbietende Erfindung im Faltenwurf kommt auf dem Altar nirgend wieder vor. Wie — mit Ausnahme des Christus — alle Idealtypen bei Bertram stehen die Köpfe der Maria und des Johannes nicht auf der Höhe der individualisierten Heiligen rings umher. Die Gewandung hat noch einen Zug von Feierlichkeit, Adel und Vornehmheit, die wir bei der idealistischen Kunst aus Bertrams Jugend kennen. Da die Figuren auf Sockeln vor einer Wand stehen, sind sie nicht vollrund gebildet, sondern dem Relief genähert. Es ist dasselbe Prinzip wie auf den auch dekorativ genommen zu den besten deutschen Skulpturen gehörenden gotischen Statuen am Bremer Rathaus.

249 Christus


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415