Die Geburt der Maria

Der Künstler denkt sich den Vorgang in einem Zimmer, dessen Vorraum — Diele — zugleich als Küche dient. Die Zwischenwand wird ignoriert, die Längsachse der beiden Räume aufs äußerste verkürzt. Mutter Anna liegt halb aufgerichtet auf ihrem Lager, einer dicken Strohmatte. Die Kissen sind mit weißen Linnen bedeckt. Hinten wird das Kopfende des hölzernen Bettgestelles sichtbar, die Konstruktion ist nicht zu erkennen. Rot und grüngoldene Kissen mit goldenen Quasten stützen den Rücken, der Unterkörper ist durch eine braune Decke mit grünem Schatten, einen changierenden Stoff, verhüllt. Sie hat die erste Nahrung zu sich genommen. Der braune Napf mit dem Löffel ist ihr in den Schoß gesunken. Die Rechte presst sie auf die Brust, sie fühlt die Muttermilch aufquellen („die Milch schießt zu“ nach dem volkstümlichen Ausdruck) und spricht darüber mit der prächtig gekleideten Frau, die hinter dem Bett steht, in der Rechten einen Breitopf, die Linke erhoben. Eine alte Magd hockt im Vorraum neben der offenen Feuerstelle, auf deren Flammen ein großer Wassertopf steht. Mit der Rechten schöpft sie aus dem Topfe, mit der Linken hebt sie das weiße Tuch von der kleinen Maria, die mit ihrem Heiligenscheine im hölzernen Badetrog liegt. Daneben hockt die graue Hauskatze, den Schwanz um den Leib geringelt. Hinter der alten kniet eine junge Magd, breitet das Badetuch zum Anwärmen gegen die Flamme und blickt über die Schulter der alten andächtig auf das Marienkind; eine sehr anmutige Figur. In der offenen Tür des Hintergrundes wird der Kopf des schüchtern hineinblickenden Joachim sichtbar.

Mutter Anna trägt über goldenem Untergewand einen karmin Mantel und hat den Kopf mit dem weißen Tuch umhüllt. Die Frau neben dem Bett hat ein weit ausgeschnittenes Kleid aus Goldbrokat an. Die rechte Seite ist rot lasiert, die linke hat goldene Ornamente auf grünlichem Grund. Bei den Ärmeln ist es umgekehrt. Den Kopf deckt ein goldenes Häubchen („Schwälmer“ Häubchen) mit goldenem Kinnband. Die Spuren einer ähnlichen Kappe von spitzovaler Form sind hie und da (auf der Hochzeit zu Kana, bei der Statuette der Maria Magdalena) unter der Rüschenhaube sichtbar. Lange blonde Zöpfe fallen über die Schultern. Die alte Magd trägt blaues Gewand mit rotem Futter und weißes Kopftuch. Die junge Magd hat offenes, sehr blondes Haar und rotes Kleid mit ovalem Halsausschnitt.


Viel bestimmter als auf früheren Bildern ist der Raum charakterisiert. Das Bett steht in der Ecke eines Zimmers mit grünen Wänden und gewölbter Holzdecke. Die Fensterwand hinter dem Bett ist schon als im Schatten gedacht und einen Ton tiefer im Grün. Die hölzerne Voute wird über der Wand noch vom Licht erhellt und die Maserung ist nicht vergessen. An die Stelle des phantastischen Baldachins über dem Zimmer tritt ein richtiges mit Kupfer (?) gedecktes Dach. Die Tür, durch die Joachim hereinlugt, liegt in einem Nebenhaus mit rotem Dach und rauchendem Schornstein. Die Architektur des Hinterhauses ist grau, die des Vorderhauses violett.

353 Die Geburt der Maria


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415