Die Erschaffung der Pflanzen

Gott Vater, von vorn gesehen, blickt auf die Erde und erhebt segnend die Rechte in Kopfeshöhe; die Linke bewegt sich, als begleite sie grüßende Worte. Er hat den roten Mantel über die linke Schulter geschlagen und drückt den Zipfel mit dem rechten Arm an den Körper. Links erhebt sich auf der felsigen Berglehne der neugeschaffene Wald. Aus alter Überlieferung stammen die schroffen, unterschnittenen und wie abgestochen erscheinenden Formen der Abhänge. Mit schlanken Stämmen streben die Bäume auf. Ihre Wurzeln greifen über den Rand der Abhänge, ihre dichten Kronen beschatten den Waldboden. Aus dem Helldunkel am Rande, soweit das Licht Zugang hat, scheint er grün, weiter in der Tiefe des Waldes dehnt er sich rot vom abgefallenen Laube. Die ersten Baumstämme am Rande sind voll beleuchtet, die folgenden haben starkes Schlaglicht, bei den weiter im Innern stehenden vermindert es sich, die letzten überschneiden, von Reflexen kaum erhellt, als Dunkelheit den immer noch heilern roten Boden. Der am Rand allein stehende Baum ist durch den Winddruck um seine Achse gedreht. In den dichten Kronen, in deren Grün einzelne weiße Blumen schimmern, spielen Luft und Licht. Die vordersten heben sich mit hellerem Hauptlicht von den dunklern der zweiten Reihe ab. Die letzten stehen als Schattenriss gegen den Goldgrund, als wären sie gegen die Helligkeit des Himmels gesehen.

Auf dem Boden Erdbeeren mit Früchten und Blüten und behaarten Wurzelblättern. Daneben allerlei mehr schematische Blumen — rot und weiß — , gefiederte Blätter und ein Kraut mit rapunzelartigen Früchten.


Das Waldbild ist die früheste Landschaft, die wir aus der nordischen Tafelmalerei kennen. Die um fünfzehn Jahre späteren Waldformen bei Melchior Broederlam in Dijon sind noch nicht so weit entwickelt. Das Helldunkel des Waldinnern bleibt bis weit ins fünfzehnte Jahrhundert ohne Seitenstück in der Tafelmalerei. Es ist ein noch uns anheimelnder Gedanke, Gott Vater bei der Schöpfung der Pflanzen neben großen ernsten Bäumen des Waldes zu sehen.

Der Wald fällt auch durch das Verhältnis zur Gestalt Gott Vaters auf. Zu Bertrams Zeit wurden Bäume sonst in viel kleineren Abmessungen neben die Figur gestellt. Ein Beispiel dafür findet sich noch bei Bertram auf der Erschaffung Evas.

Wie scharf Bertram beobachtet, geht aus den reich wechselnden Licht- und Schattenmassen der Baumkronen hervor, besonders aber aus der spiraligen Drehung des den Winden am stärksten ausgesetzten Stammes am Rande. Auch auf andern Waldbildern hebt Bertram diese Wirkung des Winddrucks hervor.

195 Der vierte Schöpfungstag
197 Der fünfte Schöpfungstag


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415