Der Grabower Altar 1379

Der alte Hauptaltar von St. Petri in Hamburg wurde bisher in der Kunstgeschichte unter dem Namen des Grabower Altars geführt. Es empfiehlt sich, dabei zu bleiben aus naheliegenden Gründen — Vermeidung von Verwechslungen, bequeme Anreihung an die übrigen, als Harvestehuder, Buxtehuder, Doberaner und Londoner Altar zu bezeichnenden Werke des Meisters. Außerdem liegt in dem Namen seine Geschichte: die Wegschenkung, die Erhaltung und Rückführung.

Die Stiftung dieses großen Altarwerkes fällt in einen Zeitabschnitt sehr lebhafter Bautätigkeit an St. Petri. Fast gleichzeitig mit der Errichtung des Altars wurde ein viertes, das südliche, Seitenschiff vollendet, 1377 war der feste Unterbau des Turmes fertig, 1383, also vielleicht gleichzeitig mit der Einweihung des Altars, erhielt die stolze Pyramide des Turmes ihren Knopf.


Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese auffallende Fürsorge für Ausbau und Schmuck der Kirche mit einer Zeit wirtschaftlichen und politischen Gedeihens der Gemeinde und der Stadt zusammenhängt. In der Tat lässt es sich wohl verstehen, dass in Hamburg um 1379 der Sinn und die Mittel für den Ausbau von St. Petri in der Gemeinde vorhanden waren. Seit der glorreichen Bezwingung des Nordens durch die Hansen war noch kein Jahrzehnt vergangen und die innern Unruhendes Aufstands der Ämter waren 1376 gütlich beigelegt.

Alle Kunstformen und Ausdrucksmittel, über die die Malerei, die Bildnerkunst und die Architektur verfügten, waren aufgeboten, um aus dem Hauptaltar von St. Petri eins der umfang- und inhaltreichsten Altarwerke zu machen, die uns das vierzehnte Jahrhundert hinterlassen hat. Lange Bilderreihen erzählten heilige Geschichten. In einzelnen Figuren, Gruppen, Reliefs und ornamentalen Halbfiguren werden die handelnden Personen der Heilsgeschichte vorgeführt, und zierliche Baldachine und Gesimse umschließen mit goldener Pracht, was dem Auftraggeber als der wesentliche Inhalt des christlichen Bewusstseins erschienen war.

Denn dem Auftraggeber, nicht dem Künstler, muss der Gesamtplan des großen Werkes zugeschrieben werden. Wenn wir nicht über die Entstehung verwandter Werke unterrichtet wären, würden wir es aus dem Inhalt allein schließen dürfen. Die theologische Bildung, die dazu gehört, den Plan aufzustellen und auszuarbeiten, besaß ein Künstler, der nicht zugleich Geistlicher war, damals gewiss nicht. Bei Einzelheiten, am ehesten beim Bildercyclus, mag er mitberaten haben.

An Alltagen stand das Altarwerk geschlossen wie ein großer zweitüriger Schrein auf dem steinernen Altartisch. Was draußen auf die Flügel gemalt war, wissen wir nicht. Wahrscheinlich vier lebensgroße Heiligengestalten; St. Peter und St. Paul als die Schutzheiligen der Kirche werden darunter nicht gefehlt haben.

Unter den Türen breitete sich auf dem Untersatz des Schranks ein breiter Fries von geschnitzten Figuren aus, der noch erhalten ist. In der Mitte die Verkündigung Mariä, daneben einzelne Heiligengestalten, alle in flachem Relief und farbig bemalt und vergoldet. Dieser Fries, die Predella, hatte weder in Form noch Gedanken Zusammenhang mit den Bildern auf den Außenseiten, und auch wenn die äußeren Türen geöffnet wurden und die breite Fläche mit zweimal zwölf Bildern übereinander sich erschloss, fanden die Reliefs der Predella noch keinerlei formellen oder gedanklichen Anschluss. Erst wenn die beiden folgenden Türen zurückgeschlagen wurden und die farbigen Statuetten aus ihrer goldenen Architektur hervorschienen, ging die Predella in Gedanken und Form mit dem Altar zusammen. Bis dahin war sie eine Verheißung auf diese letzte Entfaltung des Altars, die nur an den großen Kirchenfesten die Gläubigen erbaute.

Dreimal also konnte die Erscheinung des Altars gänzlich gewandelt werden.

Den Bilderreihen des zweiten Zustandes fiel naturgemäß die Aufgabe der Erzählung zu. In achtzehn Bildern wurde die Erschaffung der Welt, die Geschichte der ersten Eltern und die der Patriarchen bis zum Segen Jakobs geschildert. In den übrigen sechs Feldern wurden die Hauptereignisse aus dem Marienleben vorgeführt, das an Heilsbedeutung den Geschehnissen des alten Testaments gleichkam.

Nachahmungen goldener Stege mit Edelsteinen in Goldschmiedsarbeit trennten die einzelnen Darstellungen.

Langsam und schwerfällig ging es bei der Öffnung des letzten Flügelpaares zu. Es waren nicht Tafeln sondern tiefe Kasten, die in den Scharnieren gingen. Auch diese beweglichen Flügel trugen inwendig Skulptur.

Denn der Skulptur allein ist die letzte und höchste Wirkung vorbehalten. Damals, als sie noch farbig war, stand sie an volkstümlicher Wirkung über der Malerei. Bei dem großen Umfange des Stoffes, den es nach dem Plane des Theologen unterzubringen galt, war die Erzählung in der malerischen Gestaltung des Reliefs ausgeschlossen. Um die Kreuzigungsgruppe, nach mittelalterlicher Überlieferung noch auf den Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes beschränkt, scharen sich, in zwei Reihen einzeln stehend unter ihren goldenen Tabernakeln die Gestalten der Propheten, der Apostel, der Märtyrer und Heiligen der Frühzeit, während auf der Predella neben der Verkündigung Maria, Johannes der Täufer, die Kirchenväter und die großen Ordensstifter thronen.

Dem Kunstwerk im Dienst des Kultus wurde durch diesen Wechsel von der Schlichtheit des geschlossenen Schreins, der mächtig anziehenden Erzählung der beiden Bilderreihen und der überwältigenden Pracht der goldenen Architektur, in der die farbigen Gestalten wie lebendig standen, die Wirkung der Frische bewahrt.

Den Inhalt dieses großen Altarwerks bildet die ganze Heilsgeschichte vom Weltanfang bis zu den großen Ordensgründern des spätem Mittelalters. Für Bertram reichte das bis nahe an die Gegenwart.

Wie mag die Gemeinde von St. Petri ergriffen gewesen sein, als sie nach der Einweihung sich von den Bildern erzählen lassen konnte, wie es bei derSchöpfung der Welt und beim Engelssturz zugegangen war, wie die ersten Eltern in Sünde fielen, wie sich der Brudermord zugetragen hatte, wie Noah die Arche baute und wie mit der Verkündigung das Heil anbrach. Wie mag bei der letzten Verwandlung des Altars der Anblick des Opfertodes sie erschüttert haben, dem die Propheten beiwohnen, die das Heil vorhergesagt, und die Apostel, die es verkündigt haben, die Märtyrer, die dafür gestorben sind und die Heiligen, in denen es Wunder gewirkt? Sie kannten sie alle, auf der Predella die Verkündigung Maria, St. Johannes den Täufer, Kirchenväter und Ordensgründer, und oben im Ornament als ein unmittelbarer Bezug auf den Beschauer die klugen und die törichten Jungfrauen und noch einmal die Propheten.

Aus dieser Aufzählung schon wird ersichtlich, dass für die Gesamtanlage noch kein völliges Gleichgewicht gefunden ist. Die Propheten kommen an zwei Stellen vor, im Ornament wohl nur aus Verlegenheit noch einmal. Ein Prophet steht noch in der Reihe der Heiligen. Die Verkündigung kommt auf den Bildern und unter den Skulpturen vor. Johannes der Täufer, der nicht fehlen darf, sitzt unter den Kirchenvätern und Ordensgründern. Der Rhythmus achtzehn und sechs in den Darstellungen des alten Testaments und des Marienlebens verteilt sich ungünstig in zwei Reihen. Man würde zwölf zu zwölf erwarten.

Dass in der Anlage noch nicht alles aufgeht, mag einmal mit der Neuheit dieses Altartypus erklärt werden. Für uns ist er der älteste seiner Art. Dann mag auch die Autorität des Priesters, der den Plan fasste, den Künstler an der freien Bewegung gehindert haben. Wäre der Künstler der Urheber des Plans, so würde er gefühlsmäßig auf ein Gleichgewicht hingestrebt haben. Der Theologe dachte nicht in Raumgebilden.

Wie dem sei, der Grabower Altar gehört auch in seinem geschlossenen Gedankengehalt zu den größten Werken seiner Zeit und weist weit hinaus in die Zukunft: auf den Inhalt des Genter Altars, die Anbetung des Lammes. Auch hier sind die Propheten, Apostel und Heiligen der Heilsgeschichte um den Mittelpunkt des Opfertodes vereint, nur dass sie nicht als einzelne Gestalten losgelöst zeit- und raumlos dastehen, sondern von allen Seiten durch die weite Landschaft mit Bergen und Tälern herbeiströmen. Und wie man im Genter Altar einen Zusammenhang mit der mystischen Bewegung des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts gefühlt hat, so dürfte auch der Geistliche von St. Petri in Hamburg, der um die Mitte der siebziger Jahre des vierzehnten Jahrhunderts den Plan des Hauptaltars entwarf, der Mystik nicht fern gestanden habe. Aus der Wahl der Gestalten und Sprüche für die Predelle lässt sich kaum ein anderer Schluss ziehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415