Der Christusknabe im Tempel

Auf engem Raum eine Fülle neuer Erfindungen. Der Christusknabe hockt auf grüngestrichener, sechsseitiger Kanzel, zu der eine graue Treppe hinaufführt, alles ohne Geländer. Links die Gruppe der Schriftgelehrten, rechts die der Eltern.

Der Christusknabe hält das alte Testament schräg auf dem Schöße. Während er, zu den Schriftgelehrten gewandt, seine Worte durch die darbietende Gebärde der rechten Hand unterstützt, rollt die Linke unterdes verloren ein Blatt des Buches um.


In Mienen und Gebärden der Schriftgelehrten tritt die Wirkung seiner Worte zu Tag. Oben erhebt ein erregter alter Mann das Buch hoch über seinen Kopf, aber nicht, um es als Banner protestierend dem Gegner hinzuhalten, sondern um es an die Erde zu werfen. Die zeigende Gebärde der Linken sagt es deutlich. Auf ihn folgt ein Alter, der wie in Anbetung die beiden Hände zum Christusknaben erhebt. Aber er scheint sich dieser Gebärde kaum bewusst zu sein, denn er hat in tiefem, fast träumendem Sinnen den Blick abgewandt. Es ist ein Blick aus den Augenwinkeln, sehr bezeichnend für das gebannte Sinnen. Sein Mund mit der nachdenklich hochgeschobenen Unterlippe verstärkt den Zug. Dass der Künstler die verschiedene Form der Reaktion auf die Worte des Redenden hat schildern wollen, lehrt ein Vergleich dieses sinnenden Antlitzes mit dem Ausdruck des Mannes, der das Buch wegschleudert. Mit der Stumpfnase, dem breit geöffneten Mund und dem forschen Blick ist es das Antlitz eines Cholerischen.

Der Jüngling unten links mit blonden Locken blickt von dem Buch zum Christusknaben auf und krault sich mit der Linken nachdenklich unter dem Kinn. Der Alte, der am Fuß des Katheders auf einem niedrigen Schemel sitzt, hat das linke Bein weit ausgestreckt und hält mit dem Zeigefinger der Linken die Textstelle fest. In die Rechte hat er den Kopf gestützt und sieht über die Schulter nachdenklich zu Christus auf.

Oben zwei größtenteils verdeckte Männer, einer weist auf Christus.

Maria hat im Eintreten den Sohn erkannt, sie sieht ihn an und hebt beide Hände, wie um ihn zu fassen. Joseph zeigt mit der Linken auf ihn und wendet sich mit einem Ruck zu Maria, um ihr seine Entdeckung mitzuteilen. Die Rechte trägt den Stock mit der Maske, der schon auf der Flucht nach Ägypten vorkommt.

Der Innenraum ist wiederum durch keinerlei Architektur angedeutet.

Zu den stets wiederkehrenden Farben des Karmin, des Blau, des über Gold lasierten Kirschrot, des Grün in verschiedenen Tönen tritt auf der Jacke des Mannes, der das Buch wegwirft, ein sonst nicht vorkommendes helles Mennigrot, das alle anderen Farben überstrahlt. Es steht sehr gut zu dem Weiß der Wäsche und zu dem Blau der Kapuze. Die besondere Leuchtkraft dieses Rot ist durch eine Lage kurzer gelber Strichel erzielt. Das Grauviolett des Rockes vom Christkind enthält Weiß und Rot.

373 Der Christusknabe im Tempel


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415