Der Baum der Erkenntnis

Gott Vater beugt sich über die Mauer des Paradieses und zeigt, die Linke warnend erhoben, mit der Rechten auf die Krone des Baumes. Adam steht vorn, von hinten gesehen; mit der erhobenen Linken weist er fragend auf den Baum, die Rechte macht die zeigende Bewegung skizzierend mit. Es ist klar, er will sich genau erkundigen, um sicher zu gehen. Eva, rechts von ihm, im Dreiviertelprofil, erhebt die Linke mit der Handfläche nach außen in abwehrender Gebärde und sieht dazu, den Oberkörper leise zurückgebeugt, mit geknifi^enen Augenlidern auf Gott Vater. Die Rechte hat sie auf den Magen gelegt, als ob schon der Gedanke an den Genuß des Apfels sie schmerze. Adam steht als Mann breitbeinig da, Eva als Frau mit geschlossenen Füßen und Knien. Der Baum der Erkenntnis hat das breite Blatt und die Astbildung des Apfelbaums und rote Äpfel. — Die Architektur, ein verziertes offenes Tor mit zwingerartigem Vorhof, ist rot. Rechts im Hintergrund ein baldachinartig geöffneter Turm, zu beiden Seiten neben den Figuren kleine symmetrisch angebrachte Türmchen mit Brunnenbecken (?) daneben. Links an der Mauer ein Wald mit Blumen aus dem Halbdunkel auftauchend. Die roten Mauern und das Tor schieben sich trapezförmig in den Hintergrund. Der Boden ist vom Künstler als Fläche und Raum gefühlt und in der Aufsicht gegeben.

In bezug auf Abwägung der Massen — die Silhouette Gott Vaters auf der einen, ein dekoratives Türmchen auf der andern Seite des Tors, des Raumgefühls, der ausdrückenden Gebärde von starker, innerlicher und reicher Erfindung, auf Helldunkel — die linke Ecke der Mauer und der Wald daneben — auf Gruppenbildung — wie sich Adam und Eva äußerlich überschneiden und innerlich zusammengehen — gehört diese Komposition zu den wichtigsten von allen. Es ist schwer zu sagen, wann zuerst wieder ein nordischer Künstler eine Gruppe zu schaffen imstande war, wie die von Adam und Eva auf diesem Bilde.


203 Die Verwarnung


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415