Typus und Bildnis

Meister Bertram verfolgt mit offenbarer Freude die individuelle Erscheinung. Wenn er auch in der Malerei das unmittelbare Naturstudium noch nicht kennt, ist er doch so reich an scharfen Erinnerungsbildern, dass er überall lebendige Charaktere hinstellen kann. Als Bildhauerscheint ervielleichtsogar bis zum unmittelbaren Naturstudium vorzudringen.

Im allgemeinen ist der Mann stärker individualisiert als die Frau. Bertrams Eva, seine Maria sind noch allgemeine Typen, lange volle Gesichter mit hoher Stirn, schmalem Kinn, kleinem Munde, blauen (seltener braunen) Augen und langem, blondem Haar. Auf den Bildern individualisiert er die Frau nur gelegentlich ein wenig, so die vornehme Dame auf der Hochzeit zu Kana, besonders die Alte mit Runzeln und breitem Munde, die auf der Geburt der Maria das Kind badet, und die Megäre, die mit fliegenden Haaren auf dem bethlehemitischen Kindermord den Soldaten anfällt. Ganz anders bei den Skulpturen. Die heilige Maria Magdalena ist so gut wie Bildnis. Der Blick nach oben, die eigentümliche Schwellung der untern Augenlider, der weiche volle Mund mit hochgezogenen Winkeln, die Form der Nase, das alles ist individuell und typisch zugleich wie es bei keinem der gemalten Frauenköpfe Bertrams vorkommt. Die andern weiblichen Heiligen der Statuettenfolge, obwohl sie durchweg vom Individuum — und zwar von demselben, welches Bertram bei der Schöpfung der Maria Magdalena vorschwebte — weit mehr haben als die gemalten Frauenköpfe, erreichen doch kaum einmal diesen Grad der Überzeugungskraft. Es lohnt sich, sie einzeln auf den Grad ihres Lebensgehalts zu prüfen.


Idealtypen sind auch Gott Vater und Christus. Gott Vater tritt uns nicht, wie bei Francke, als Greis mit langem weißem Haar und Bart entgegen, sondern als ein bärtiger jugendlicher Mann. Er hat ein eirundes Antlitz mit ernsten Zügen und hohen Augenbrauen. Nur bei der Entdeckung des Sündenfalls und beim Opfer Abels geraten die ruhigen Züge in kraftvolle Bewegung. Bertrams Christus tritt auf den Bildern in zwei Typen auf, in der Skulptur erscheint wieder eine andere Ausprägung. Der durchgehende Typus der Bilder ähnelt dem von Gott Vater, hat jedoch etwas länglichere Formen, stärkeres Kinn, geradere Augenbrauen und tiefer liegende Augen. Auf den beiden ersten Schöpfungstagen rot in rot im Himmel ist der Christuskopf breiter und kürzer und von unheimlicher Lebendigkeit des Ausdrucks. Der Christus des Bildhauers ist dunkel mit langen, einzeln auf den Schultern liegenden Locken und kurzem, weichem, am Kinn nicht geteiltem Bart. Das Untergesicht erscheint dadurch viel weniger entwickelt als der mächtige Oberkopf, sodass der Bau etwas rundliches bekommt, ohne freilich unvornehm zu werden. Den Ausdruck beherrschen Ruhe und Hoheit des göttlichen Überwinders. Noch erinnert kein Zug an das tiefe Leid dessen, der der Welt Sünde trägt bei Franckes Schmerzensmann oder den Schmerz des Augenblicks auf Franckes Geißelung.

Wie es kommt, dass aus einer und derselben Werkstatt drei so verschiedene Christustypen hervorgehen wie die feurige Himmelserscheinung der ersten Schöpfungstage, der Sohn, der die Mutter krönt auf dem Buxtehuder und der Gekreuzigte des Grabower Altars, kann nur durch Vermutungen erklärt werden.

Der Adam, ebenfalls noch Idealtypus, wechselt; er ist von hellblonder Haarfarbe. Bei der Erschaffung aus dem Erdenkloß ist er ein unbärtiger Jüngling mit dichten Locken. Von der Erschaffung der Eva ab trägt er einen blonden Vollbart. Auf dem Sündenfall haben die Züge einen leicht semitischen Anflug.

Was Bertram mit den Gesichtstypen der Menschen unheiligen Standes erreichen will, ist dasselbe, was er durch die Wahrheit und Lebhaftigkeit ihrer Gebärde zu übermitteln strebt: den Eindruck gegenwärtigen Lebens. Daher die erstaunliche Mannigfaltigkeit in der Haltung der Köpfe, daher der fast übertrieben lebhafte Blick des Auges, das auf dem Buxtehuder Altar ganz auffallend viel Weiß zeigt.

Es ist schwer, aus der Fülle der Individuen einzelne als besonders lebenswahr zu bezeichnen.

Im allgemeinen unterscheidet Bertram sehr scharf die vornehmen und die untern Stände, ohne diese jedoch im leisesten zu karikieren, und gelegentlich macht es ihm offenbarVergnügen, durch den Gegensatzzu wirken. So wenn er bei dem zurückgewiesenen Opfer Joachims den blonden Kopf eines vornehmen Mannes mit wohlgepflegtem, weichem, blondem Bart und Haar neben den kurznasigen Kopf eines Mannes aus dem Volke setzt, dessen dunkle, grannenartige harte Haare im Bart und in den Brauen plebejisch wirken.

Auf dem Grabower Altar fallen die Köpfe des blinden Isaak aus allem heraus, was wir in Bertrams Epoche an Fähigkeit, zu charakterisieren, in Deutschland vermutet haben würden. Isaak ist wirklich blind, er macht nicht nur die Augen zu. Beim Segen Jakobs geht der Künstler so weit, die Zahnlücken des Mundes und in den Augenwinkeln leise den weißen Augenschleim anzudeuten.

Auf dem Buxtehuder Altar ist die Anzahl sehr individuell gesehener Köpfe noch viel bedeutender. Die merkwürdigsten sind wohl die Köpfe auf der Verkündigung an die Hirten, der derbe, bärtige, der vom Hut bei den Augen überschnitten wird, der Alte, der geblendet die Hand vor die Augen hält, mit seinem magern bartlosen trockenen Kopf. Dann der cholerische Schriftgelehrte neben dem Christusknaben im Tempel. Er hat runde, sprühende Augen, kurze Stumpfnase und einen breiten Mund mit wulstigen Lippen. Ein Bildnis scheint bei dem dicken Patrizier rechts auf der Hochzeit zu Kana vorzuliegen. Ebenso bei dem Kahlkopf, der auf der Beschneidung das Kästchen hält.

Auf den Skulpturen des Grabower Altars müsste in diesem Zusammenhang jeder Kopf einzeln betrachtet werden, denn überall individualisiert der Meister. Diese Kraft, Individuen zu bilden, die nur den ganz großen Dichtern und Künstlern verliehen ist, spricht sich in Bertrams Bildhauerarbeit so unverkennbar aus, dass es überflüssig erscheint, darauf hinzuweisen.

Sehr auffallend ist Bertrams Behandlung des jüdischen Typus.

Es muss im Zusammenhang mit seiner sonstigen Neigung zu individualisieren, hervorgehoben werden, dass Bertram die Juden nicht nur durch die Judenhüte kennzeichnet, sondern durch Rassenzüge. Er geht darin genau so vor wie Schongauer, Rembrandt und später bei seiner so viel angefeindeten Darstellung des Christusknaben unter den Schriftgelehrten Adolph Menzel.

Auch bei Bertrams altern Zeitgenossen des vierzehnten Jahrhunderts kommt gelegentlich ein Ansatz zu semitischer Bildung der Züge vor. Doch pflegt es dann auf eine Karikatur zu gehen, während Bertram nur Charaktertypen gibt.

Unter den semitischen Physiognomien des Buxtehuder Altars — auf den Bildern des Grabowers fehlen sie, wenn man den Adam des Sündenfalles und den Priester in der „Darstellung“ ausnimmt — sind der Hohepriester auf der Zurückweisung von Joachims Opfer und Joachim selbst — bei der Begegnung unter der goldenen Pforte — die ausgesprochensten. Unter den Schriftgelehrten um den Christusknaben im Tempel hat ihn nur einer, der Sinnende, aber dieser unverkennbar. Bei den Skulpturen tragen ihn die Propheten zum Teil außerordentlich bildnismäßig, aber ohne einen Zug von Übertreibung. Die gewaltigsten sind wohl die Propheten Ezechiel und Joel. Ezechiel trägt Haar und Bart so üppig wie ein König von Babylon. Sein scharfer in schöngezogener Linie verlaufender Bartansatz ist ein bezeichnender Rassenzug. Die große Nase ist ein wenig plattgedrückt. Die Augen sind mandelförmig und sehr groß. Joel hat einen fast ebenso mächtig gebauten Kopf mit höchst individuell gebildeter Nase.

Wo Bertram Studien dafür gemacht hat, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. In Hamburg scheinen im vierzehnten Jahrhundert keine Juden ansässig gewesen zu sein. Dr. Walther deutet in diesem Sinne eine Eintragung der Kämmereirechnungen, die besagt, dass ein fremder Jude ein Almosen erhalten, welcher sage, er sei ein Rabbi. Hätten Juden in Hamburg gewohnt, so wäre die Wahrheit leicht festzustellen gewesen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415