Perspektive

Die Generation, der Bertram angehörte, begann zum erstenmal Landschaft und Architektur — Außenansicht und Innenräume — nicht nur andeutungsweise als Hintergrund und Umwelt in ihre Bilder einzufügen, sondern mit der Absicht, die Wirklichkeit darzustellen.

Sie hatte dabei die Gesetze der perspektivischen Darstellung aufzufinden und auszuarbeiten. Was sie aus der vorhergehenden Zeit übernehmen konnte, wie die Aufsicht auf einen Altar oder Tisch, bei der die Platte nach hinten breiter wird, eine uralte Überlieferung, wirkte mehr verwirrend als wegweisend. Eine Wissenschaft der Perspektive konnte es noch nicht geben, und die ersten Versuche gingen nicht auf eine wissenschaftliche Begründung und Ausarbeitung aus. Es war ein gefühlsmäßigesTasten, dessen Anstrengungen durch mehrere Künstlergeschlechter zu verfolgen sind.


Was Bertram übernommen hat — außer der falsch konstruierten Aufsicht — wissen wir nicht. Dagegen lässt sich innerhalb seiner Arbeit in einzelnen Punkten ein Fortschritt verfolgen.

Selbstverständlich ist er oft genug unsicher. Aber stellenweise geht er wie unbewusst weit über die Grenzen seiner Zeit hinaus. Das Beste bei ihm ist im Prinzip weiter, als gegen fünfzig Jahre später irgend etwas bei seinem Nachfolger Francke.

Soll das Ziel gemessen werden, das er erreicht hat, müssen immer wieder die „Verwarnung“ des Grabower und die Krönung Maria des Buxtehuder Altars untersucht werden, die wir als Bild nicht genug bewundern können.

Wo vorher für die Figuren ein schmaler Streif Boden zwischen Rahmen und Goldgrund genügen muss, dehnt sich auf der Verwarnung ein wirklich flaches Stück Erdboden, dessen Aufsicht überraschend gut gelungen ist, weit in den Bildraum hinein, bis die roten Mauern des Paradieses die Grenze bilden. Auf diesem flachen Boden stehen Adam und Eva — Eva weiter hinten perspektivisch kleiner — ganz fest auf ihren Füßen. Der Zug der Mauern, der Aufriß der abschließenden Architektur des Tores zeugen von sehr lebendigem, natürlichem Gefühl für den Kern der Aufgabe. Der Turm, der im Aufbau des Bildes der Silhouette von Gott Vater die Wage hält, ist schon ein kleines Kunststück perspektivischer Überlegung.

Der Thronsitz auf der Krönung Maria ist von grauem Stein und genau in der Mittelachse von vorn gesehen. Der hölzerne Baldachin, grün gestrichen, weicht nach rechts aus, ist aber durchaus in der Untersicht gegeben. Dass Bertram auch einen Baldachin in der Untersicht von vorn hätte bewältigen können, beweist seine Hochzeit zu Kana.

Die Linienperspektive des Thronsitzes ist in Absicht und Durchführung ein sehr auffallendes Erzeugnis der frühen Zeit. In allem wesentlichen hat den Künstler das Gefühl richtig geleitet.

Auffallender noch als die Linearperspektive sind die unverkennbaren Ansätze einer Luftperspektive. Die Stufen des Thrones im Vordergrund haben ein warmes Grau, der Sitz weiter hinten ein kaltes.

Durch die Zusammenwirkung der Linear- und der Luftperspektive — soweit von dieser gesprochen werden kann — entsteht ein Raumgebilde von seltener Überzeugungskraft.

Für die Beurteilung der perspektivischen Bestrebungen Bertrams wird dieser Thron immer maßgebend sein. Es verlohnt sich, genau die Mittel zu studieren, mit denen er die Luftigkeit des Tons erreicht. Ein Zweifel über die Absichten des Künstlers wird am raschesten widerlegt, wenn man sich langsam von dem Bilde bis zur gegenüberliegenden Wand entfernt. So weit der Abstand sich ausdehnen mag, der räumliche Eindruck des Thrones bleibt von derselben Klarheit und Kraft. Es ist von Wert, ein verwandtes Bild Franckes, der ganz andere Ziele hat, in diesem Punkt zu vergleichen. Die Schönheit der Farbe und des Tons bleiben, soweit das Bild sichtbar ist, unverändert, der Raumeindruck verschwimmt schon nach wenigen Schritten.

Unter den Innenräumen ist das Kämmerlein der Maria auf der Verkündigung des Buxtehuder Altars der interessanteste, wenn auch nicht der am folgerichtigsten durchgebildete. An der Decke arbeitet der Künstler schon wie mit der Vorstellung eines Augenpunkts. An den Wänden verlässt ihn das Gefühl. Die rechte Seite ist in den Linien des Wandsockels entgegengesetzt der linken Wand angelegt, links steigen, rechts fallen die Linien. An der Decke macht der Künstler das Kunststück eines Kreuzgewölbes von ziemlich richtiger Perspektive. Die ewige Lampe, die sehr hoch darunter hängt, hat dann aber Aufsicht statt Untersicht.

Als Fortschritt gegen den Grabower Altar lässt sich auf dem Buxtehuder ansehen, dass bei den bekrönenden Architekturen alles schon in Untersicht gegeben ist. In Kleinigkeiten wie dem Schornstein auf der Geburt der Maria oder der ewigen Lampe wird der Künstler wieder unsicher. Dagegen kommt die Aufsicht bei den bekrönenden Türmen nicht mehr vor, die auf dem Grabower Altar noch neben der Untersicht erscheint (Segen Jakobs).

Da bei Bertram die Perspektive rein gefühlsmäßig ist, hat es für eine wissenschaftliche Geschichte der Entwicklung der Perspektive Wert, im einzelnen zu verfolgen, wie der Künstler schwankt, und welcher Mittel er sich bedient, um eine Art Gleichgewicht zu erreichen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415