Hanseatische Kunst

Wir haben bisher noch nicht recht gewagt, die Kunst der drei führenden Hansestädte vor dem Einbruch des niederländischen Einflusses, also etwa von 1370 bis 1440 als eine geschlossene Erscheinung neben der westfälischen und kölnischen Kunst zusammenzufassen.

Die Funde und Forschungen der letzten Jahre drängen uns jedoch die Erkenntnis auf, dass die drei Hansestädte in der Zeit ihrer höchsten politischen Anspannung auch eigene Kunst besessen haben, die, obwohl nur aus Bruchstücken für uns erschließbar, in ihren höchsten Leistungen das Recht der Ebenbürtigkeit neben der der bisher bekannten Zentren beanspruchen darf. Gegen 1450 erliegt sie fremden Einflüssen.


Auf Goldschmidts grundlegende Arbeit über die Lübecker Malerei und Plastik vor dem Einsetzen der Reformation ist Adelbert Matthäis Werk über die holsteinischen Altäre gefolgt, das für die Zeit um 1400 die unbestimmten Vermutungen einer Einfuhr aus den Niederlanden zurückgewiesen und Lübeck als den Ursprungsort dererhaltenen Denkmäler ins Licht gerückt hat. An einem hervorragenden Beispiel hat Friedrich Knorr in seiner Untersuchung über den Meister des Neukirchner Altars dargelegt, wie von Lübeck aus um 1440 ein sehr großer Künstler die umliegenden Provinzen beherrscht. In Hamburg haben sich uns die Werke Bertrams und seines Nachfolgers Francke erschlossen, wir haben den Einfluss der beiden bedeutenden Künstler durch Hannover, Mecklenburg und Pommern verfolgen können. In Bremen hat Gustav Pauli die Reste des kostbaren Domgestühls aus dem Ende des 14. Jahrhunderts in der Kunsthalle zu Ehren gebracht. Im Thaulow-Museum in Kiel bemüht sich Brandt, im Schweriner Museum Steinmann um die aus Lübeck — und zum Teil vielleicht aus Hamburg — stammenden Kunstwerke derselben Epoche.

Und während man bis dahin eher geneigt war, in der hanseatischen Produktion von 1370 — 1440 eine Art unpersönlicher Kunst als Ausläufer der kölnisch-westfälischen Wurzel zu sehen, beginnen wir jetzt nach den zum größten Teil noch namenlosen künstlerischen Persönlichkeiten zu forschen, die hinter der Produktion stehen. Einige vermögen wir schon zu umreißen, aber vorläufig können wir nur die Hamburger Bertram und Francke mit Namen nennen und in ihrer Entwicklung auf hanseatischem Boden verfolgen.

Bei diesen Untersuchungen und Neuschätzungen hat sich dann herausgestellt, dass ein früher ohne weiteres angenommener unmittelbarer Einfluss Westfalens und Kölns aus dem uns bekannten Material nicht erwiesen, ja nicht einmal wahrscheinlich gemacht werden kann, dass im Gegenteil nicht nur die persönliche Selbständigkeit, sondern in wesentlichen Eigenschaften, soweit wir heute zuerkennen vermögen, sogar die Priorität dieser hanseatischen Kunst zufällt. Denn was Meister Bertram 1379 auf dem Grabower Altar in der Ausprägung des allgemein und individuell Menschlichen, in der Darstellung der Landschaft und der Tierwelt, in der Behandlung der Farbe leistet, muss als wesensverschieden gelten von allem was die voraufgehende oder gleichzeitige westfälische und kölnische Kunst angestrebt hat.

Die Führer der rheinischen Forschung haben diese Sachlage bereits gewürdigt, und sie sind heute geneigt anzunehmen und können ihre Meinung durch gute Gründe stützen, dass die bisher um 1380 (also mit Bertrams ersten erhaltenen Bildern gleichzeitig) angesetzten kölnischen Bilder um mehr als ein Jahrzehnt später, also etwa um 1400 datiert werden müssen.

Maßgebend für Bertram und somit wahrscheinlich für die hanseatische Kunst wäre aber nicht die kölnischwestfälische Kunst von 1380 sondern die von 1350 — 1360, denn 1367 arbeitet Bertram schon als Meister für den Rat in Hamburg. Was wir aber das Recht haben, in Köln und Westfalen um 1350 — 1360 anzusetzen, hat mit Bertram keinerlei Verwandtschaft. Wir dürfen uns daraufhin berechtigt halten zu der Annahme, dass die künstlerischen Ideen und Mittel, die Bertram nach Hamburg mitgebracht hat, hier entweder von einer einheimischen Überlieferung befruchtet wurden oder auf jungem Boden rasch aufgeschossen sind.

Doch muss auch die weitere Möglichkeit geprüft werden, dass von einem dritten Zentrum her Anregungen in die Hansestädte gedrungen seien. Das nächstliegende wäre Böhmen.

Das Verhältnis der hanseatischen Kunst zur böhmischen ist noch nicht genauer untersucht. Dem italienischen Einschlag, wie er auf der Glatzer Tafel des Berliner Museums sichtbar wird, steht Bertrams Kunst fern. Eher erinnert ihr kräftiger, derber Realismus, ihr weicher malerischer Vortrag an die Art der großen Halbfiguren der Kapelle zu Karlstein und der Ozkotafel des Rudolfinums in Prag, also an den nordischen Teil der böhmischen Malerei. Aber zwischen solcher Empfindung einer gewissen Verwandtschaft und der Annahme eines tatsächlichen Zusammenhangs liegt eine unvermessene Strecke. Auffallend bleibt auf alle Fälle, wie viel geringer das Quantum italienischer Beimischung bei Bertram erscheint gegenüber den Bildern in Karlstein und den Figuren des Ozkoaltars.

Für den Hamburger Kunstfreund legt der glücklich erlangte Besitz der Werke Bertrams nahe, nach den Hauptwerken der hanseatischen Kunst in Bremen, Lübeck und der Umgebung Umschau zu halten.

In Bremen ist aus der Zeit um 1400 fast nur Skulptur erhalten. Das köstliche Domgestühl, das bis vor einem Jahre in einer Kapelle aufgespeichert und nur bruchstückweise sichtbar war, hat durch Gustav Pauli in die Kunsthalle gerettet werden können. Mit dem Roland, der nicht nur ein geschichtliches Denkmal von Bedeutung sondern ein Kunstwerk hohen Ranges ist, und den gotischen Bildsäulen am Rathaus, die in ganz Norddeutschland nicht ihresgleichen haben, gibt das eine reiche Gruppe bremischer Kunst.

Auch in Lübeck ist die Malerei des vierzehnten und des anhebenden fünfzehnten Jahrhunderts fast ganz vernichtet. Was dort gelebt hat, mag man an dem großartigen, kürzlich aufgedeckten Wandgemälde in St. Catharinen ermessen. Die Reste der Holzbildnerei des Hauptaltars von St. Marien und die in Lübeck, Wismar und Kiel erhaltenen Werke des von Friedrich Knorr in seiner Arbeit über den Meister des Neukirchner Altars uns erschlossenen Künstlers, der die schöne Muttergottes in der Marienkirche zu Lübeck geschaffen hat*), geben mit den Bruchstücken, die uns aus Bremen und Hamburg erhalten sind, das Recht, von einer hanseatischen Kunst dieser Frühzeitzu sprechen. Zwischen Hamburg und Lübeck scheint die künstlerische Verbindung, nach allerlei Spuren zu schließen, ziemlich eng gewesen zu sein. Beziehungen zu Bremen sind von Hamburg oder Lübeck aus den Denkmälern nicht nachgewiesen.

*) Dies Hauptwerk der Lübecker Plastik stand vor einem Menschenalter in wohlerhaltener Farbigkeit in der Bergenfahrer Kapelle. Hase hatte sie herausgenommen und als Hauptschmuck in seinem Turmportal angebracht. Dort ist sie seither an der Wetterseite übel zugerichtet worden, so dass nur noch schwache Spuren des alten Farbenkleides erhalten sind. Man hat sie jüngst, um sie nicht ganz zugrunde gehen zu lassen, wieder in die Kirche genommen, und es steht ihre Neuaufstellung an günstigem Platz in Aussicht.

Wie weit die ehemaligen Hansestädte der deutschen Ostseeküste um diese Zeit selbständige Kunst hervorgebracht haben, muss erst untersucht werden. Einzelwerke wie das Relief des Kirchenstuhls der Nowgorodfahrer in Stralsund mit frappanten Darstellungen des Lebens der Deutschen in Russland (um 1400) scheint in der ganzen Epoche beispiellos. Im allgemeinen dürfte der Einfluß Lübecks und Hamburgs vorgeherrscht haben. Spuren Franckes fand ich bis nach Pommern überall.

Außer den Museen der drei heutigen und den Kirchen ehemaliger Hansestädte sind besonders zwei norddeutsche Museen an Resten der frühen hanseatischen Kunst reich: das Thaulowmuseum in Kiel und das Großherzogliche Museum in Schwerin.

Eine allgemeine Charakteristik dieser hanseatischen Kunst zu geben, ist noch zu früh. Am meisten Berührung hat sie wohl mit der westfälischen Kunst. Unter ihren Eigenschaften fällt ein besonders früh entwickeltes Lebensgefühl, ein kräftiges Ausdrucksvermögen, eine natürliche und sehr bald zu hoher Kultur entwickelte koloristische Begabung auf.

Die Kunstforschung ist ihrer Natur nach geneigt, das Element des Einflusses zu überschätzen und das der Persönlichkeit zu gering anzuschlagen. Unpersönliche Kunst gibt es nicht, oder sie ist, soweit es sie geben kann, wertlos. Wenn wir die hanseatische Kunst genießen wollen, müssen wir die begonnene Arbeit der Aufsuchung der Persönlichkeiten fortführen. Solange ein Werk wie der Roland in Bremen für uns nicht mehr bleibt, als ein beliebiges anonymes Bild aus Stein, wird sich uns seine künstlerische Bedeutung nie enthüllen. Lebendig wird das Kunstwerk erst vor unsern Augen, wenn wir in seinem Wesen den Menschen suchen, der es geschaffen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415