Farbe

Das seltsame Schicksal, dass zwei von den vier Tafeln des Grabower Altars mehr als dreihundert Jahre unter einer doppelten, völlig deckenden Farbenschicht — einer grauen Untermalung und der Schicht des Bildes — der Einwirkung des Sonnenlichts entzogen war, bewahrt uns vor falschen Schlüssen aus dem heutigen Zustande der zwei übrigen Tafeln, die dreihundert Jahre ungeschützt dem Licht ausgesetzt waren und um einen Ton blasser sind. Der Buxtehuder Altar, dessen vorzügliche Erhaltung von Anfang an ins Auge fiel, steht den übermalt gewesenen Tafeln des Grabower Altars an Sattheit der Farbe sehr nahe.

Dass gerade die erste und die letzte Tafel des Grabower Altars übermalt waren, öffnet überdies einen Einblick in die Entwicklung Bertrams an dieser großen Arbeit. Es leidet wohl keinen Zweifel, dass er die erste Tafel, die mit dem Anfang der Schöpfungstage, zuerst ausgeführt hat. Hält man die erste und die letzte Tafel nebeneinander, so lässt sich eine Steigerung der Farbenempfindung nicht verkennen. Ein Blau, ein Rot wie auf dem Gewände der Maria auf der Flucht nach Ägypten, kommen auf der ersten Tafel nicht vor.


Auch zwischen der zweiten und der vierten Tafel besteht noch ein großer Unterschied, wenn auch die Intensität der Farben nicht verglichen werden darf. Der Altar, auf dem Abraham seinen Sohn opfert (zweite Tafel) zeigt sich noch nicht mit den grauen und braunen Strichelungen bedeckt, die auf der Darstellung im Tempel der vierten Tafel den einförmigen Ton des Grau auflockert.

Noch weiter aber ist der Abstand zwischen dem Grabower und dem Buxtehuder Altar. Die technischen Mittel, Farbe zum reden zu bringen, die der Meister auf dem Buxtehuder Altar fast schon mit Raffinement verwendet, das Punktieren eines Rot mit Gelb, eines Gelb mit Weiß, das Schraffieren eines Zinnobers mit Gelb, eines Karmin mit Weiß, das Stricheln eines Grau mit Hellgrau und Braun kommen auf dem Grabower Altar nur in ganz seltenen Versuchen vor, einmal im Mantel des Abraham, ganz schüchtern als gelbe Pünktchen im Rot, einmal auf dem Altar der Darstellung.

Also auch hier haben wir es mit der Tatsache einer Entwicklung zu tun, die sich innerhalb der langwierigen Arbeit des Grabower Altars und im Abstand zwischen dem Grabower- und dem Buxtehuder Altarverfolgen lässt.

Ein Vergleich mit dem kleinen westfälischen Altar der Kunsthalle, der vielleicht noch in die Zeit Bertrams fällt, aber der Entwicklungsstufe vor ihm angehört, bringt die Eigenart Bertrams zum Bewusstsein.

Beim Westfalen hat alle Farbe einen stumpfen nach braun gewendeten Ton. Die Rot klingen nur bescheiden mit, die Blau leuchten nicht, die Gelb sind eingesunken, die Violett ohne Sattheit, die Schwarz ohne Tiefe. Doch stimmen sie alle zu einer sehr vornehmen Harmonie zusammen.

In Bertrams Farbe ist ein neues Leben erwacht. Sie fängt an zu schimmern und leuchten, zu glühen und zu strahlen, sucht die Wirkung des Gegensatzes und der Tonigkeit, sie verfügt über alle Mittel der Schönfarbigkeit und beginnt bereits, sich dem Helldunkel zu vermählen.

Bertram steht dabei aber noch mitten in einer Zeit des Überganges. Er hat sehr altertümliche und sehr fortgeschrittene, stilisierende und naturalistische Farbe oft auf demselben Bilde nebeneinander. Dieser Zustand ist bei ihm schärfer ausgeprägt als bei irgend einem Künstler seines Zeitalters.

Auf der Erschaffung der Pflanzen steht Gott Vater in dem Rot, Blau und Grün der überlieferten dekorativen Gewandung neben dem jungen Wald mit dem sehr fein abgetönten Grün der Kronen, dem überraschenden Halbdunkel des Waldinnern, dem aus der Natur geholten Grün des Bodens am Waldrand und dem braunen Laubgrund im Waldschatten.

Noch auffallender arbeitet sich der Gegensatz auf dem Buxtehuder Altar heraus. Hier ist einzelnes, wie die Anbetung der Könige uneingeschränkt schönfarbig, und die Verkündigung an die Hirten geht in den feinen tonigen Weiß der Schafe auf dem vieltonig grünen Hang mit braunen Erdschollen, dem Blau, Rot und Violett der Gewänder eine reiche naturalistische Harmonie ein, die dem sechzehnten Jahrhundert vorweggenommen scheint.

Aus diesem Gegensatz zwischen Gott Vater und dem Wald, der Anbetung der Könige und der Verkündigung an die Hirten lässt sich das Gesetz des Kolorismus erkennen, unter dem Bertram lebt. Er geht rein dekorativ kontrastierend und schönfarbig vor bei überlieferten Stoffen, naturalistisch aber und auf dem Wege zur Tonigkeit und zum Helldunkel in der Landschaft, im Innenraum, durch die er (oder seine Generation) ein neues Stoffgebiet aufschließt.

So anziehend es ist, diese Entwicklungsphase zu betrachten, bleibt doch nicht dieser Genuss der historischen Erkenntnis sondern die Freude an der ganz außergewöhnlichen koloristischen Begabung Bertrams die Hauptsache. Viel näher erscheint uns auf den ersten Blick die überwältigende Begabung und höchste koloristische Kultur Franckes, dennoch habe ich, seit ich Bertram längere Zeit habe beobachten können, die Überzeugung gewonnen, dass er als Kolorist seinem großen Nachfolger Francke mindestens ebenbürtig ist.

Wer sich mit dieser Seite von Bertrams Begabung beschäftigen will, tut am besten, zunächst eine einzelne Komposition des Buxtehuder Altars — etwa die Anbetung der Könige oder die Verkündigung an die Hirten — sehr eingehend und wiederholt zu betrachten, indem er sich über jede Farbe und jede Abschattung Rechenschaft gibt. Von dem so gewonnenen Gefühl aus wird er dann leicht überall Anschluss finden.

Auch der Vergleich Bertrams mit Francke ist unumgänglich. Es gibt kaum größere Gegensätze: Francke geht nach Art der Japaner eher auf Flächenwirkung, Bertram benutzt die Farbe schon, um das Leben des Raumes zu steigern. Lehrreich ist ihr Verhältnis zum Grau. Näheres darüber findet sich im Abschnitt: Bertram und Francke.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415