Die Gebärde

Solange wir nicht imstande sind, Entlehnungen nachzuweisen, gehört Meister Bertram in der Kennzeichnung seelischer Vorgänge zu den größten Erfindern. In Deutschland kennen wir unter seinen Vorgängern und Zeitgenossen nicht einen von ähnlicher Fähigkeit, alles endgültig und mit den sichersten und knappsten Mitteln auszudrücken. Diese straffe Zusammenziehung des Wesentlichen bei Vermeidung aller Nebensachen gibt seinen Bildgedanken oft etwas epigrammatisches, und gelegentlich unterscheiden sie sich in nichts als dem Gegenstande von der Schlagkraft der künstlerischen Karikatur unseres Zeitalters.

Es überrascht, zu beobachten, wie sich Bertram je nach der Natur seiner Aufgabe beschränkt oder ausgibt. Auf dem Grabower Altar hatte er schmale hohe Flächen vor sich, die nur für zwei oder drei Figuren Platz boten: hier greift er kurz und bündig die Hauptsache heraus und erschöpft sie in wenigen alles ausdrückenden Zügen. Der Buxtehuder Altar bot ihm kleinere Flächen breiterer Form, und hier malt er aus und fügt Nebenfiguren ein, in denen der Vorgang sich spiegelt, oder die die Handlung weiter führen. Will er ausführlicherschildern, so begnügtersich, zwei Figuren ganz zu geben und von den übrigen nur die Oberkörper in die Komposition hineinragen, oder sie am Boden kauern zu lassen. So bringt er es fertig, beim bethlehemitischen Kindermord auf der schmalen Fläche fünf Nebenfiguren unterzubringen. Überhaupt fällt es bei ihm auf, wie kühn er Figuren vom Rahmen überschneiden lässt, so die Eva bei der Entdeckung des Sündenfalls und die Engel, die das Christkind besuchen.


Ein Bild vom Grabower und eins vom Buxtehuder Altar mögen Bertrams Art erläutern: der Baum der Erkenntnis und der Christusknabe im Tempel. Es könnten freilich zwei beliebige andere gewählt werden.

Wie sich Adam und Eva benehmen, als ihnen Gott Vater den Baum der Erkenntnis zeigt, dürfte kaum jemals erschöpfender versinnlicht worden sein. Bertram gibt nicht nur zwei nackte Menschen in einer räumlich höchst originellen Anordnung — der Körper Adams, von hinten gesehen, überschneidet den der weiter rückwärtsim Dreiviertelprofil Gott Vater zugewandten Eva—, er schöpft das Motiv der Gebärde aus dem Gefühl des Gegensatzes zwischen dem männlichen und weiblichen Wesen. Die Ureltern haben die Warnung gehört, Adam zeigt mit der hoch gehobenen Linken auf den Baum und sieht Gott Vater fragend an. Seine Rechte skizziert in Brusthöhe eifrig dieselbe zeigende Bewegung. Es ist klar, er denkt nicht an eine Übertretung. Er will sich vergewissern, damit er nicht im Irrtum sündige. Eva dagegen, die als Weib viel rascher aufgefasst hat, erhebt sofort Einsprache gegen den Gedanken, dass sie des Ungehorsams fähig sein könnte. Die erhobene Linke kehrt sie in energischer Abwehr mit der Handfläche nach außen, und kneift, Gott Vater anblickend, ein wenig die Augen, als ob sie den verbotenen Baum fernerhin nicht ansehen wolle. Dazu stimmt auch das leicht angedeutete Zurücklegen des Kopfes und Oberkörpers, eine leise aber deutliche Gebärde der Verneinung. Die Rechte legt sie gespreizt auf den Leib, als fühle sie einen Schmerz beim bloßen Gedanken, dass sie von der Frucht gegessen haben könnte. Adam steht breitbeinig wie ein Mann, Eva als Frau mit geschlossenen Füßen. Auch die gebogene Achse ihres Körpers drückt das weibliche Wesen aus. Man könnte fragen, ob das alles vom Künstler so gemeint sei. Da gleichartige Züge auf allen Bildern wiederkehren, bleibt keine Wahl.

Ebenso sicher, aber mit einem unendlich reichern Aufgebot von Mitteln erschöpft Bertram das Erlebnis des Christusknaben unter den Schriftgelehrten. Christus hockt auf dem Lehrstuhl, das Buch auf den Knieen, und wendet sich, die Linke darbietend ausgestreckt, gegen die Vertreter des alten Bundes. Es ist die Gebärde der persönlichen Überzeugung, die die Gründe auf der „flachen Hand“ bietet. Seine Linke rollt in unbewußter Gleichgültigkeit ein Blatt des Buches auf. Nicht energischer als durch die Gebärde dieser beiden Hände kann das Loskommen vom Buch ausgedrückt werden. Viel später noch geben die Künstler dem Christusknaben das Buch in beide Hände.

Dass Bertram nicht durch Zufall so richtig gegriffen hat, beweist die Haltung der Schriftgelehrten.

Einer ist aufgesprungen und schwingt, cholerische Erregung in den Zügen, das Buch über seinem Haupt. Man könnte meinen, er wolle es wie ein Panier hochhalten und verteidigen, wenn nicht die Linke auf den Boden zeigte: er will es an die Erde schleudern. Wenn Christus spricht, sind Moses und die Propheten überflüssig. Unten sitzt ein Alter in langem weißen Bart und Haar. Er stützt den Kopf nachdenklich in die Rechte, der Zeigefinger der Linken hält eine Textstelle fest. Dabei wendet er das Haupt in der Hand schon nach Christus um. Neben ihm hockt ein Junger, das Buch auf den Knieen, mit der Linken krault er sich, zu Christus hinaufblickend, nachdenklich unter dem Kinn. Kann in diesen Gebärden Christi und der drei Schriftgelehrten etwas anderes gesehen werden als das Verhältnis zum Buch und zum Buchstaben? Es ist, als äußere sich hier in der Malerei derselbe freie und kühne Geist des vierzehnten Jahrhunderts, den wir in den Predigten der Mystiker bewundern. Tiefer noch berührt der Ausdruck eines andern Mannes, der staunend die flach ausgestreckten Hände zu Haupteshöhe erhebt, und dessen Blick sich sinnend in ungewisse Fernen verliert. In seinem Innern beginnt die neue Wahrheit zu wirken. Überraschend zart ist die Beobachtung, dass in solchem Zustand plötzlichen Gepacktseins die Augen nicht geradeaus, sondern, wie aus dem Gefühl nichts sehen zu wollen, aus den Winkeln blicken. Eine Gebärde nur scheint der Überlieferung zu entstammen: Im Hintergrund zeigt einer auf Christus. Noch ein Menschenalter später hat der Fröndenberger Altar der Westfälischen Schule nur diese eine Gebärde und nichts von allem übrigen. Auch Joseph und Maria, die von rechts kommen, geben sich, wie es, soviel mir bekannt, weder vorher noch nachher vorkommt. Beide haben plötzlich den Sohn erkannt. Maria erhebt schüchtern die Hände, als wolle sie, in der Erregung des mütterlichen Gefühls, ihn an sich ziehen. Joseph zeigt mit dem Finger auf ihn und wendet sich scharf gegen Maria: Da ist er! Das ist eine Bewegung, für die es in der Seele der Maria, in der Seele der Mutter keinen Raum gibt. Es ist ihr unmöglich, in diesem Augenblick an einen andern als den Sohn zu denken. Wie bei Adam und Eva ist wiederum die Gebärde aus dem Gefühl für das innerste Wesen von Mann und Frau entwickelt. Auch Dürer hat mehr als ein Jahrhundert nachher nicht tiefer charakterisiert.

Wer im Zweifel ist, ob ein Künstler in der kleinen Stadt Hamburg, die am Ende des vierzehnten Jahrhunderts kaum acht- oder zehntausend Einwohner zählte — freilich müssen wir sie angesichts ihrer Leistungen höher werten als zehntausend unserer Zeitgenossen — solche Gedanken haben konnte, braucht nur Szene für Szene aufmerksam zu verfolgen, wie tief Bertram seinen Stoff durchdacht und durchschaut hat und wie energisch er sein Gefühl durch die Gebärde ausdrückt.

Was fühlt Eva, als sie zum Bewußtsein erwacht? Den Drang zum Gebet empfindet Bertram nicht als die natürliche Regung. Er lässt sie in tiefem Staunen über sich und die Welt Hände und Augen erheben. Noch gewaltiger packt er den Zustand des schlafenden Adam. Es hält schwer, sich ihn mit einer Gebärde zu denken. Bertram findet eine Lösung: es liegt nicht nur Schlaf sondern Traum auf Adams Zügen, es ist Traum in der Hand, die sich staunend spreizt. Aber das Alles ist so leise gesprochen, dass man zuhören muss.

So holt der Meister auch beim Sündenfall die Gebärde wie aus dem eigenen Erlebnis des Dramas. Eva führt den Apfel zum Munde und weist auf die Schlange: sie hat es gesagt. Aber ihr Blick ist nicht sicher. Adam ist in Miene und Gebärde ganz Zweifel und Unsicherheit. Er hält mit hochgehobener Hand der Schlange den Apfel hin und sieht sie fragend an, die Züge drücken ohne Übertreibung und besondere Betonung wirklich Zweifel und Sorge aus. Aber das stärkste ist dann die Gebärde der linken Hand. Sie ist erhoben und in der Haltung so sicher eingestellt, dass man fühlt, sie bewegt sich im Zweifel um ihre Achse. Sehr ungewöhnlich ist, dass die Schlange sich zu ihm und nicht, wie das Herkommen verlangt, zu Eva wendet. Hier liegt eine Weiterbildung vor, die wohl Bertram gehört.

Mit großer Energie ist beim Verhör der Eva Gott Vater ausgedrückt, der im raschen Ansturm den Mantel um die Hüfte gezogen hat, drohend die Hand erhebt und mit zornsprühenden Augen und verachtend herabgezogenen Mundwinkeln spricht. Adam und Eva haben noch nicht ganz gefasst, was ihnen bevorsteht. Es ist sehr bezeichnend, dass Eva sich dieser Situation besser gewachsen zeigt als Adam. Wundervoll ist die halbe Bewegung, mit der sie, hoch aufgerichtet, sich von Gott Vater abwendet und über die Schulter blickend, auf die Schlange zeigt, während Adam sich bestürzt in sich zusammen krümmt und auf Eva weist.

Erst bei der Vertreibung aus dem Paradiese sind beide ganz gebrochen, eine sehr nachdrückliche Steigerung. Beide sind genau in derselben Linie geknickt, beide machen genau dieselbe Gebärde, doch wirkt es nicht absichtlich und arm, weil Eva die Hände im umgekehrten Sinne gebraucht.

Zwei Bilder erschöpfen die Tragödie von Kain und Abel. Beim Opfer kniet Abel im langen Gewand, das seinem ruhigen Sinn entspricht und bietet Gott Vater, der sich segnend aus den Wolken zu ihm neigt und für Kain nur eine halbabwehrende Bewegung der Hand hat, sein Opfer. Kain, dem es aufdämmert, dass Gott den Bruder vorzieht, schickt sich zögernd zu knieen an. Er hält seine Opfergarbe dabei, um Gottes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, viel höher als Abel sein Lamm. Während Abel Haar und Bart weich und lang trägt, ist Kain dem Simsontypus angenähert. Er trägt knapp anliegendes modisches Gewand, das ihn beweglicher macht.

Beim Brudermord geht der Meister dem Äußersten nicht aus dem Wege. Abel ist unter den ersten Schlägen zusammengebrochen und erhebt, schon fast hingestreckt, flehend die Hände und das blutüberströmte Antlitz. Sein Gesicht und seine Gebärde sagen aus, dass er völlig überrascht ist und nicht weiß, was ihm geschieht. Kain stürzt sich nach neuem Anlauf über ihn, springt mit einem Fuß auf seinen Leib und holt mit dem Eselskinnbacken zum letzten Schlage aus. Der Eselskinnbacken und das wilde fliegende Haar Kains scheinen eine Anlehnung an den Simsontypus zu bedeuten. Herkömmlich sind die Keule oder der Stein als Mordwaffe.

In kühnem Schwünge schleudert ein Gehilfe Noahs beim Bau der Arche den hölzernen Schlegel über den Kopf, als wollte er ihn loslassen, und zieht statt dessen im letzten Augenblick an, um das Werkzeug sausend herabzuzwingen. Hier handelt es sich nicht um eine seelische Erregung, sondern um eine rein mechanische Bewegung, die aber ebenso sicher gepackt und als beherrschender Zug in der Komposition verwendet wird. Sehr gut beobachtet sind der Ausdruck der Anstrengung in seinem Gesicht und neben ihm Blick und Bewegung des Einschenkenden.

Das Opfer Abrahams offenbart wiederum, mit welcher dramatischen Kraft Bertram seine Aufgabe packt. Abraham holt, mit der Linken den Kopf seines Sohnes niederdrückend, zum Schlag mit dem Schwerte aus. In diesem Augenblick fällt ihm der Engel in den Arm und weist nach unten, wo ein Bock sich mit dem gewundenen Hörn an einem Ast aufgehängt hat. Abraham sieht sich erschrocken und mit sprachlos offenem Munde um. Isaak ist dem Meister nicht das geduldig ergebene Opferlamm, sondern das Kind, das sich sträubt. Er windet sich unter der Hand seines Vaters, zieht die Knie an den Leib, spreizt krampfhaft die gebundenen Hände und schreit aus Leibeskräften. Dies schreiende Antlitz gibt den Ausdruck von Schmerz und Entsetzen so drastisch, dass ich, als es noch unter dem Schmutz der Jahrhunderte steckte, an eine Übermalung des siebzehnten Jahrhunderts dachte. Wer würde bis heute einem Künstler von 1379 eine solche Unerschrockenheit zugetraut haben?

Den Gipfel dramatischer Kürze erreicht Bertram in der Geschichte Isaaks und Jakobs. Er schließt sich so eng an den biblischen Text, als hätte er ihn selbst gelesen.

Isaak erhebt sich mühsam mit dem Oberkörper von seinem Lager, ein blinder alter Mann. Mit der Rechten tastet er nach Esaus Hand, die senkrecht ausgestreckte Linke, im Bogen nach auswärts bewegt, drückt die Resignation aus, die in seinen Worten liegt: siehe, ich bin alt geworden. Rebekka hat hinter dem Lager mit offenem Munde gehorcht. Bei der Verheißung des Segens erhebt sie im Schreck die übereinander geschlagenen Hände mit einem Ruck ans Kinn und senkt den Blick, entschlossen, ihrem Lieblingssohn Jakob den Segen zu verschaffen.

So ist die Erschleichung des Segens vorbereitet. Der blinde Alte hat die Linke um des verkleideten Jakobs Schulter geschlagen, mit der Rechten tastet er nach der fellumhüllten Hand, in der Erregtheit des sprechenden Gesichts drückt sich der Zweifel aus: „Aber deine Stimme ist Jakobs Stimme.“ Jakob zuckt bei dem Worte des Verdachts mit aufgerissenen Augen zurück, doch Rebekka wacht: mit beiden Händen drängt sie den Weichenden dem Alten entgegen.

Gesichtsausdruck und Gebärde spielen in diesen Darstellungen scharf zusammen. Das ist von Rembrandt und von der Karikatur des neunzehnten Jahrhunderts nicht überboten.

Die Gebärde der Maria bei der Verkündigung drückt in zarter Abschattung ihren Schreck aus. Die Linke presst sie aufs Herz, die Rechte spielt verloren mit dem Blatt im Gebetbuch. Bei der Geburt Christi und bei der Anbetung der Könige beherrscht die Gebärde des Kindes das Bild. Als der gebeugte alte Nährvater es der Jungfrau reicht, langt es mit gespreizten Fingern nach ihr. Bei der Anbetung steht es mit einem Fuß auf dem Knie der Mutter, greift, als es die Berührung des knieenden Greises fühlt, mit der Rechten schutzsuchend nach der Mutter und zuckt mit dem freien Bein. Das höchste Pathos entfaltet Bertram beim bethlehemitischen Kindermord des Grabower Altars. In Verzweiflung wirft sich eine händeringende Mutter vor Herodes auf die Knie, rasend fällt eine andere den Mörder ihres Kindes an. Die Lebendigkeit des Ausdrucks, mit dem ein Krieger auf den König einredet, kann nicht überboten werden.

Das Marienleben des Buxtehuder Altars bietet nur beim bethlehemitischen Kindermord Anlass zur Entfaltung sehr starker dramatischer Mittel.

Bei der Begegnung der Eltern der Jungfrau unter der goldenen Pforte hat auch Bertram wie Dürer das Bedürfnis, die Gebärde aus dem Wesen des Mannes und der Frau entstehen zu lassen. Mutter Anna schmiegt sich an ihren wiedergefundenen Gemahl, Joachim streichelt seiner Frau die Wange, eine Liebkosung, die in dieser Form ein Recht des Überlegenen ist.

Auch auf der Geburt der Jungfrau wird alle Gebärde aus dem Innersten des Vorganges geschöpft.

Mutter Anna auf ihrem Lager hat die erste Nahrung bekommen und fühlt die Muttermilch in die Brust einströmen. Sie lässt das Gefäß mit dem Löffel in den Schoß sinken, presst die Rechte auf die Brust undoffenbart sich der Frau, die hinter dem Bette steht. Die alte Magd zieht mit der Linken die Decke vom Kinde, das im Badetrog liegt,während sie mit der Rechten aus dem Krug auf dem Feuer Wasser schöpft. Hinter ihr wartet, den Blick auf das Kind gerichtet, eine junge Magd mit dem zur Erwärmung am Feuer über die Hände gebreiteten Badetuch.

Die Erschöpfung des alten Joseph auf der Geburt Christi wird fühlbar durch die auf dem Knie ruhende Linke ausgedrückt.

Auf dem bethlehemitischen Kindermord überrascht die divinatorisch erfasste Gebärde des Kindes, dem der Kriegsknecht das Schwert durch den Körper stößt. Es blickt erschrocken zu dem wilden Manne auf, greift nach der Wunde und zieht im Schmerz das Bein an. Am Boden hockt eine Mutter und presst ihr gemordetes Kind, dessen Kopf willenlos zurücksinkt, in ihren Mantel eingehüllt an die Brust. Eine Freundin wendet sich mitfühlend zu ihr. Über ihnen fällt eine Mutter mit flatterndem Haar und im Schreien aufgerissenem Munde den Kriegsmann an.

Auch auf der Flucht nach Ägypten ist jede Bewegung motiviert. Der Mutter, die das Kind anlächelt, strecken sich die beiden kleinen Arme entgegen. Da der Weg steil bergaufgeht, wendet sich Joseph besorgt zu ihnen um.

Das Idyll aus Nazareth, der Besuch der Engel, enthält eine aus der Beobachtung stammende Bewegung des Kindes. Es hat, am Boden ausgestreckt, wie es Kinder lieben, ein Buch besehen, den Kopf in eine Hand gestützt. Als es die nahenden Engel hört, wendet es den Kopf zu ihnen um, und die stützende Hand bleibt stehen.

Die Gäste der Hochzeit zu Kana haben das Wunder bemerkt. Eine Dame wendet sich in lebhafter Gebärde sprechend zu ihrem Tischnachbarn, hinter ihr legt ein vornehmer Mann als Aufforderung zum Schweigen zwei Finger auf den Mund.

Die sterbende Maria, deren herber Mund im Todeskampf zuckt, schließt greifend die Finger der einen Hand, aber die Finger der rechten spreizen sich staunend, als wäre der Mutter des Herrn in ihrem letzten Augenblick noch die Glorie des Sohnes erschienen, der sich über sie neigt. Ein weißbärtiger Apostel — Petrus — beugt sich bekümmert über den Körper und fühlt mit beiden Händen in zarter Berührung, ob die Wärme schon entwichen sei. Hinter ihm verhält sich ein anderer, aus dem Buche betend, mit der Hand den Atem.

Nicht in feierlicher Ruhe der Assistenz, sondern in der lebhaften Bewegung des Eifers, mit der Kinder einen Auftrag ausführen, umgeben die Engel den Thron Salomonis, auf dem die Jungfrau Maria die Krone empfängt. Sausend sind sie herangeflogen wie im letzten Augenblick eintreffend, schleudern in weitem Bogen die Räuchergefäße oder spielen mit keckem Strich die Geige.

In der Skulptur Bertrams regt sich derselbe Geist, nur dass er sich bei der Einzelgestalt anders äußert. Charakteristisch für die dramatische Kraft Bertrams sind namentlich die Propheten Jeremias, Joel und Obadja.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415