Der Innenraum

Der unbekannte Künstler, der den schönen kleinen westfälischen Altar von 1350 (im Besitz der Kunsthalle) geschaffen hat, kennt noch keinerlei Andeutung des Innenraums: der Mensch ist ihm alles. Selbst bei der Verkündigung deutet höchstens die Blumenvase zwischen den Gestalten auf einen Vorgang im Zimmer.

Meister Bertram gehört der folgenden Stufe an. Er müht sich, die Ausdrucksmittel für den Innenraum zu entdecken. Es ist psychologisch sehr anziehend, zu verfolgen, wie er tastend bis nahe zur Lösung des Problems fortschreitet. Auch hier, wie beim Tierleben und der Landschaft legt er eigentlich eine weitere Strecke Entwicklung zurück als sein Nachfolger Francke.


Auf beiden großen Altären stehen andeutende und entwickelte Mittel noch dicht nebeneinander. Aber die äußerste Grenze erreicht Bertram doch auf dem spätem Werk, dem Buxtehuder Altar, so dass eine Entwicklung deutlich wahrnehmbar wird. Nach einer Richtung bleibt er immer befangen. Er wagt es noch nicht, die Andeutung des Hauses fortzulassen. „Wo er eine Zimmerdecke gibt, erhebt sich darüber das Dach des Hauses mit Erkern und Giebeln.

Auf dem Grabower Altar bieten sich urtümliche und entwickeltere Formen der Raumandeutung unmittelbar nebeneinander. Die Verkündigung Mariä geht vor dem einfachen Goldgrunde vor sich. Wand und Decke ja sogar der Fußboden des Gemachs fehlen. Nur das Betpult deutet auf das „Kämmerlein“, aber es steht auf grünem Rasen. Die Strecke von hier bis zu Wand und Decke des Zimmers wird jedoch nicht im Sprunge zurückgelegt. Es hat großen Reiz zu verfolgen, wie der Fortschritt sich vollzieht.

Bertram geht systematisch vor sich, nur dass die Folgerichtigkeit sich nicht genau mit den zeitlichen Abständen deckt. Der Künstler arbeitet ohne ganz klares Bewußtsein der Entwicklungsarbeit, die sich in ihm vollzieht. Einmal macht er einen weiten Vorstoß. Dicht daneben fällt er bei einer andern Gelegenheit in urtümliche Ausdrucksmittel zurück oder verzichtet überhaupt auf Angabe des Raums. Im Ganzen aber geht er energisch auf das Ziel los, das er im Kämmerlein der Verkündigung des Buxtehuder Altars erreicht.

Nun fragt sich für uns, wie entsteht der Raumgedanke des Zimmers? Mit welchen Bestandteilen fängt der Künstler an? Mit den Wänden? Mit der Decke? Hätten wir die Dokumente nicht, wir würden uns den Weg nicht vorzustellen vermögen, denn der Künstler beginnt nicht mit einer Realität sondern mit einem Symbol.

Jakob und Esau haben als Andeutung von Jakobs Zimmer nur eine Art gemauerten Baldachins über sich. Wand und Stützen fehlen. Der schwere aus grauem Stein gebaute Baldachin mit Türmen und roten Dächern, ein Ding, für das es kein Vorbild in der Wirklichkeit gibt, schwebt ohne Stütze auf dem goldenen Grund. Obwohl der Künstler für seine Verhältnisse ein Meisterstück von Perspektive vollbringt, um die schwere Körperlichkeit glaubhaft darzustellen, hört doch sein Bedürfnis zu motivieren sehr bald auf.

Nebenan auf dem Segenjakobs sind dem Baldachin schon Stützen, Rück- und Seitenwände hinzugefügt, dazu eine flache Holzdecke des Zimmers, und in der Rückwand fehlen die Fenster nicht. Auch das ist noch nicht Wirklichkeit, obwohl es schon einige Elemente davon enthält. Immer ist noch der Baldachin die Hauptsache und der Ausgangspunkt. Bei diesen unsichern Mitteln geht jedoch Bertram schon sofort auf das letzte Ziel der Darstellung des Innenraums los, die Wiedergabe der vom Licht im Freien grundverschiedenen Beleuchtung. Er macht hier unverkennbar den Versuch, Helldunkel auszudrücken. Doch steht das alles noch hinter den Figuren als eine Sache für sich. Der Schritt zur Einheit soll noch erst getan werden.

Auf dem Buxtehuder Altar genügt gelegentlich ein von einer unsichtbaren Decke herabhängender, in Form einer Lichterkrone aus leichtem Gewebe gebildeter Baldachin, um den Innenraum zu bezeichnen. Aber an zwei Stellen bedient sich Bertram schon sehr entwickelter Kunstmittel, um Illusion zu erzeugen, bei der Erzählung von der Geburt und bei der Verkündigung Mariä. Auf beiden ist von der Baldachinform nicht mehr die Rede. Es sind Räume mit Wand und Decke, und statt des Baldachins erscheint das Hausdach.

Das Zimmer der Geburt der Jungfrau ist nicht nur in der räumlichen Anlage geschildert, der Künstler hat auch die farbige Behandlung von Wand und Decke wiedergegeben. Das Bett der Mutter Anna steht in einer Ecke des Zimmers, mit dem Kopfende gegen die Schmalwand. Die Langwand hat unten eine als Sockel behandelte Bank. Die Decke ist eine Voute aus Brettern. Zwei Fenster sitzen an der Langseite, eins an der Schmalseite. Die Wände sind in zart grünem Ton gestrichen, die Decke hat dunkle Holzfarbe. Links schließt sich dem Zimmer der Mutter Anna eine Küche an, in der ein offenes Feuer auf niedrigem Herde brennt. Von diesem Vorraum öffnet sich sogar — eine kühne Neuerung — im Hintergrund eine Tür nach dem Nebenraum.

Auf der Verkündigung ist endlich die Hauptfigur nicht mehr vor den Raum gestellt sondern vom Raum umschlossen. Aber der Künstler wagt noch nicht, dem Zimmer mit seinen drei Wänden den ganzen Raum der Bildfläche zu geben, und er hat deshalb nur für eine Figur im Zimmer Platz. Die Andeutung des Daches über der Zimmerdecke fängt schon an, hinter dem Rahmen zu verschwinden. Beim nächsten Schritt, den Bertram freilich nicht mehr tut, würde die Andeutung des ganzen Hauses, den die urtümliche und die Kinderkunst nicht entbehren mag, bei der Darstellung des Innenraums verschwinden.

Auch hier ist eine Entwicklung Bertrams in jedem Zuge nachzuweisen: von der Stufe, wo auf jede Andeutung des Innenraums verzichtet wird — bei der Verkündigung des Grabower Altars — geht es aufwärts bis zur Schilderung eines so zusammengesetzten Gebildes wie auf der Geburt und der Verkündigung der Maria des Buxtehuder Altars.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415