Das Bild

Bei Meister Bertram gibt es keine einheitliche Formel für die Anlage des Bildes, denn in ihm vollzieht sich ein Stück Entwicklung auf ein neues Ziel. Er ist der Vollender einer überkommenen Form und dann wieder ihr erster Zerstörer.

Wenn wir andere künstlerische Persönlichkeiten seiner Zeit und Entwicklungsstufe so gut kennten, wie ihn, so würden wir feststellen können, was wir aus der Entwicklung der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts zu ahnen beginnen: dass sich gleichzeitig und in verwandter Form die Entwicklung unabhängig in verschiedenen Einzelwesen vollzieht.


Bertram kennt noch die Gesetze des Goldgrundes und handhabt sie, wo er es für gut hält, meisterhaft. Aber er weiß schon in allem Wesentlichen auf ihn zu verzichten, wo er neue Anschauung ausdrücken will. Er lässt seine Figuren in voller Freiheit auf dem schmalen Bodenstreif zwischen Rahmen und Goldgrund sich bewegen, aber er drängt auch hie und da die goldene Fläche, die keinen platten Abschluß bedeutet, sondern das Wesen von Luft und Raum hat, weit zurück und lässt seine Menschen eine erhebliche Strecke in den Raum hineinwandeln.

Die Beobachtung der Kunstmittel, durch die er Bilder schafft, zeigt ihn als einen Künstler, der auf keinerlei Rezepte eingeschworen ist. Sein Verhältnis zum Goldgrund lehrt der Gegensatz der Krönung Maria und der Geburt der Jungfrau Maria erkennen, beide vom Buxtehuder Altar, also derselben Entstehungszeit angehörig.

Auf der Krönung Maria umfließt der goldene Grund alle ragenden Formen bis zur schmalen Bodenleiste herab. Die beiden Thronenden, der Thron und sein Baldachin erheben sich in leuchtenden Farben gegen den goldenen Raum. Soweit das Bild sichtbar bleibt, stehen alle Hauptsachen klar und bestimmt da. Aber sie kleben nicht auf dem Grund. Das leichte Rankenmuster nimmt ihm die Starrheit und Plattheit, die dem restaurierten Goldgrund eigen zu sein pflegt, und mit leisen Mitteln werden die Gestalten vom Hintergrund gelöst. Der geigende Engel rechts und der harfespielende links, die vom Thron überschnitten werden, kommen soweit los, dass der Goldgrund ein wenig durchscheint und eine Verschmelzung ihrer Silhouetten mit der des Thrones verhindert. Dieselbe Vorsicht wird bei den Engeln um den Baldachin angewendet.

Diese einfache, klare Gliederung der belebten farbigen Massen und ihre geschmackvolle Verteilung über dem goldenen Grund geben dieser Tafel eine seltene Ruhe und Größe der dekorativen Wirkung. Bertram wendet hier die überlieferten Prinzipien mit sicherstem Takt an. Dass er die einzelnen Menschengestalten mit einem ganz neuen Leben erfüllt, sieht erst, wer nahe herantritt. Das neue Gefühl für die Wirklichkeit der Dinge spricht überraschend und auf die weiteste Ferne aus der räumlichen Behandlung des Vordergrundes.

Der Besitz dieser Tafel hat großen Wert für uns, denn sie ist das einzige ganz reife und überzeugende Werk mittelalterlicher dekorativer Kunst, das uns in Hamburg aus unserer eigenen Vorzeit erhalten blieb.

Einer andern Welt gehört die Behandlung des Goldgrundes auf der Geburt der Maria an. Er ist im Grunde schon aufgegeben. Von den sechs Figuren silhouettiert nur eine auf eine kurze Strecke gegen den Goldgrund. Oben läuft er nicht viel mehr als fingerbreit über das Dach, links steigt er in einem schmalen Streifen herab, etwa bis zur Hälfte des Bildes. Er wird schon fast wie Luft behandelt: aus einem Schornstein schwebt der Rauch vor ihm empor. Er könnte zugestrichen werden, ohne dass das Bild etwas verlöre.

Die Schilderung der Umwelt hat ihn von unten aufsteigend hinausgedrängt. Wand und Decke des Zimmers, in dem die Frauen um Mutter Anna und die Neugeborene beschäftigt sind, das Dach darüber sind nicht mehr Silhouetten. Das Raumbild ist da. Ähnlich ist es auf andern Bildern gegangen.

Schon auf dem Grabower Altar finden sich zwei Kompositionen, die sich ganz anders zu dem Goldgrund verhalten als die Krönung Maria. Es ist die „Verwarnung“ und der Segen Jakobs. In der Verwarnung silhouettieren nur Gott Vater und die vordere Hälfte von Adams Oberkörper gegen den Goldgrund, Eva schon nicht mehr. Beim Segen Jakobs aber tritt der Goldgrund so weit zurück, dass er nicht mehr gefühlt wird. Er berührt durch ein Fenster gelegentlich ein Stückchen Körper oder Haar. Die Körper und Köpfe der drei Figuren stehen gegen ein Helldunkel, das sie zusammenfügt zu einer geschlossenen Gruppe.

Von der dekorativen Geschlossenheit und Sicherheit der Krönung der Maria kommt kein Bild mehr vor, selbst das Seitenstück, der Tod der Maria, in mancher Beziehung noch bedeutender, kann sich im Sinn der Erfüllung des dekorativen Gesetzes nicht mit ihm messen.

Es liegt nahe, Meister Franckes Mittel und Kunst zu vergleichen. Ein Bild auf Goldgrund von demselben Gehorsam gegen die Gesetze des Stils erfüllt, finden wir bei ihm nicht mehr. Nur einmal silhouettiert noch eine Figur gegen den Goldgrund, der Christus der Auferstehung. Aber hier forderte es der Stoff. Auf andern Bildern liegt der Goldgrund platt auf den Köpfen der dichten Gruppen, auf einem, der Geißelung, hat ihn die Architektur schon fast ganz überwuchert, er tritt ganz oben nur noch als ein schmaler Streifen auf, der für die dekorative Wirkung des Bildes nichts mehr bedeutet. Francke fühlt auch nicht mehr so sicher das dekorative Verhältnis des Fleisches zum Goldgrund. Während es sich bei Bertram als feste energische Dunkelheit abhebt, wird es bei Francke schon fast flau und weichlich.

Beim Christus als Schmerzensmann beginnt dagegen der blaue Himmel eben so sachte an derselben Stelle und in derselben Form einzuziehen, in der der Goldgrund zum Bilde hinausgedrängt ist.

Wir können bei Bertram und Francke somit beobachten, durch welche Mittel und aufweiche Art der Goldgrund selbständig aufgegeben wird.

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Für die andere Neuerung des Meisters, die Vertiefung der Fläche, auf der sich die Gestalten bewegen, bieten zwei benachbarte Bilder des Grabower Altars ein drastisches Beispiel.

Beim Sündenfall stehen Adam, der Baum mit der Schlange und Eva noch fast in derselben Linie und silhouettieren gegen den Goldgrund. Räumlich wirkt der Künstler nur erst leise. Die beiden Gestalten bewegen sich im Gegensinne. Adam steht fast im Profil und sieht ins Bild hinein, Eva, ihm gegenüber, steht halbwegs von vorn gesehen und blickt zum Bild heraus. Gegen den Baum der Erkenntnis steigt der Boden sachte an.

Aber auf der „Verwarnung“ nebenan ist das Raumbild stereometrisch bereits völlig verschieden. Aus der Anordnung in der Reihe ist die im Raum geworden. Auf einer Flächenkarte des Terrains würden die Fußpunkte der Menschen nicht mehr in gerader Linie liegen, dem Rahmen parallel, sondern in der Figur eines Sternbildes. Die Bodenfläche schiebt sich als wirklich gefühlte Ebene — mit perspektivischer Aufsicht — bis an die Mauer, die Figuren stehen frei in diesem Raum und überschneiden nur teilweise noch den Goldgrund. Adam steht vorn, Eva weiter im Bilde rechts, Gott Vater beugt sich links von hinten über die Mauer, vor ihm steht der Baum wieder in einer anderen Schnittlinie. Doch tritt dies, obwohl es den wesentlichen Fortschritt von dem Flächenbild zum Tiefenbild enthält, noch zurück gegen die Genialität, mit der Meister Bertram den von der Fessel des Vordergrundes erlösten Gestalten die volle Bewegungsfreiheit gibt.

Der Vergleich dieser beiden Bilder lehrt die Raumprobleme kennen, mit denen Bertram rang. Wie beim Innenraum vollzieht sich die Entwicklung im Unbewußten oder im Dämmerungszustand und mit beständigen Rückfällen. Benachbarte Bilder wie die Erschaffung der Eva und die Verwarnung könnten durch ein Menschenalter getrennt sein. Die gewonnene Einsicht auf die andern Bildkompositionen des Grabower und des Buxtehuder Altars angewandt, macht es leicht, in jedem einzelnen Falle den Punkt zu bezeichnen, den Bertram in der Lösung des Raumproblems erreicht hat. Dass auf dem Buxtehuder Altar der Bildgedanke in bezug auf Anschauung und Vertiefung des Raumes einen erheblichen Fortschritt aufweist, lehrt fast jedes einzelne Bild. Doch kommen auch hier neben fortgeschrittenen Raumbildern wie der Landschaft mit den Hirten noch ganz reine Flächenbilder vor wie die Anbetung der Könige.

Die „Verwarnung“ gehört als Erzeugnis eines Raumgefühls von unerhörter Bildungskraft zu den wichtigsten Denkmälern der altern deutschen Kunst.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415