Bertrams künstlerische Herkunft

Als wir den Nachfolger Bertrams, Meister Francke, zuerst kennen lernten, vermochten wir uns keine Vorstellung zu machen, woher seine Kunst stammen könnte. Allgemeine Ähnlichkeiten wiesen auf Westfalen und Köln, einige Klänge schienen von Italien oder Avignon zu kommen, aber nirgend fand sich etwas Greifbares. Dass Francke im Boden einer hamburgischen Überlieferung wurzeln könnte, musste als Möglichkeit zugegeben werden. Wir kannten den Namen und das Hauptwerk seines Vorgängers Bertram, beides freilich nur aus der literarischen Überlieferung.

Mit einem Schlage erhebt sich nun in Hamburg hinter Francke nicht mehr ein bloßer Name, sondern das reiche Lebenswerk eines bedeutenden Meisters.


Und heute stehen wir vor Bertram genau wie vor einem Jahrzehnt vor Francke.

Wir kennen ihn als Künstler sehr genau, aber über die Herkunft seiner Kunst können wir sicheres noch nicht angeben.

Die Möglichkeit, dass auch er eine hamburgische Überlieferung fortführt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Aus seinen Lebensdaten geht mit größter Wahrscheinlichkeit hervor, dass er sehr jung nach Hamburg gekommen ist. Die Kunst, die er dort antraf, hatte schon eine lange Vergangenheit. Bis zurückauf die Bildsäule der törichten Jungfrau vom Portal des Hamburger Doms (in der Sammlung Hamburgischer Altertümer), auf deren Bedeutung Adolph Goldschmidt hingewiesen hat, und auf Meister Carolus, der 1255 für den Domherrn Barthold die dreibändige Bibel illustrierte, die jetzt in Kopenhagen aufbewahrt wird — Arthur Haseloff hat sie für Deutschland wieder entdeckt — sind uns einzelne Kunstwerke, Malernamen und Nachrichten über Kunstwerke erhalten, die anziehendste gleich aus der Zeit, in der Bertrams Kunst wurzeln müsste.

Wir verdanken Lappenberg die Kopie der im Brande zerstörten inhaltreichen Urkunde über das Ereignis, dessen Humor auch für uns noch nicht schal geworden ist.

Das Hamburger Domkapitel hatte den Rat beim Papst in Avignon verklagt, im Rathaussaale befände sich eine Darstellung desjüngsten Gerichts,ein schändliches Bild zur Verhöhnung der Geistlichkeit und der Kirche. Es wäre darauf nämlich ein Priester vor dem Altare zu sehen und über ihm ein Teufel, der ihm aus einer Flasche Unrat (immunditias) in den Kelch gösse. Der Propst des Klosters von Harvestehude, Willekin, erhielt den Auftrag, das Bild zu untersuchen. Er berichtet darüber in der von Lappenberg zitierten Urkunde. Um der Sache auf den Grund zu kommen (volentes scire veritatem et an res sie haberet), sei er mit dem Guardian und Lector der Minoriten und andern glaubwürdigen Leuten ins Rathaus gegangen, wo besagtes Gemälde sich befinden sollte, und auf Leitern hinaufsteigend hätten sie das Bild genau betrachtet.

Sie hätten aber weder die beschriebene noch irgend eine andere ruchlose oder unschiclcliche Darstellung entdeckt. Sie erinnerten sich auch nicht, dass solche Sachen sich im Rathaus befänden oder früher vorhanden gewesen wären (nee meminimus aliquam picturam talem aut aliam turpem vel inhonestam in dictu consistorio esse vel fuisse). Freilich wären auf dem beanstandeten Bilde wie herkömmlich Paradies und Hölle mit Geistlichen und Laien dargestellt.

Wir haben keine Vorstellung, wie dies Jüngste Gericht ausgesehen haben mag. Es muss ein großes Bild gewesen sein, da man Leitern gebraucht, um die Einzelheiten genau zu untersuchen. Malernamen aus Hamburg sind uns um 1350 zwei bekannt, Meister Herman, der 1347 und 1350 erwähnt wird, 1350 als Mieter eines Hauses oder einer Schilderbude, und Meister Gerhard, der 1354 zehn Pfund Pfennige für Schilder am Rathaus erhält.

Es ist nach diesen Daten durchaus denkbar, dass Bertram sich einer hamburgischen Überlieferung angeschlossen hat, wenn er nicht gar unmittelbar aus ihr hervorgewachsen ist. Da auch seine Geschwister in Hamburg lebten, kann er sehr wohl mit den Eltern eingewandert sein.

Sowenig wie früher die Kunst Franckes können wir bisher die seine irgendwo einordnen. Da er jung nach Hamburg gekommen, wird er sicher nicht unbeeinflusst geblieben sein von den künstlerischen Neigungen des Ortes. Er muss sich sehr früh die Gunst erobert haben, denn als er 1367 zuerst (soweit unsere Nachrichten gehen) für den Senat arbeitete, wird er schwerlich eben erst zugewandert gewesen sein.

Aus Lübeck, Bremen und Lüneburg sind Bilder der nächsten Vorgänger Bertrams nicht erhalten, es lassen sich nach dieser Richtung nicht einmal Vermutungen aufstellen.

Ähnlich steht es in Westfalen. Von den Zeitgenossen seiner ersten Entwicklungszeit bis 1379 sind keine Tafelgemälde auf uns gelangt. Bertram ist schon 1379 sehr viel mehr Maler und ein sehr viel fortgeschrittnerer Kolorist als die Meister der gegen oder nach 1390 anzusetzenden Gemälde der Soester Schule, der Predella vom Altar der Nordseite der Wiesenkirche und des Kruzifixus in St. Patroklus. Die Werke Meister Conrads von Soest, vor allem der herrliche Wildunger Altar von 1403, gehören der auf Bertram folgenden Entwicklungsstufe eines jüngeren Zeitgenossen an. Aus der Zeit unmittelbar vor Bertram ist, soviel mir bekannt, nur der 1904 von der Kunsthalle erworbene Altar aus Liesborn erhalten. So mögen die Werke der Meister ausgesehen haben, bei denen Bertram gelernt hat, vorausgesetzt, dass dieser Altar, was wir noch nicht mitSicherheit sagen können, nicht etwa um 1370 datiert werden muss. Aber über den Ursprung der gänzlich verschiedenen Kunst Bertrams lässt uns auch dieses Werk im Dunkeln.

Es gibt nun einen Umweg, den Zusammenhang zwischen Bertram und der Entwicklung der westfälischen Schule zu erschließen. Wenn künstlerische Gedanken, die er hat, später in einer weitern Entwicklung in Westfalen nachweisbar sind, so könnten sie aus einer gemeinsamen Quelle stammen. Aber auch dieses Mittel versagte bisher. Von dem Reichtum der Erfindung, die, um nur ein Beispiel anzuführen, Bertrams Darstellung des Christusknaben im Tempel belebt (Buxtehuder Altar) müsste sich wohl, wenn er sie aus Westfalen mitgebracht hätte, dort eine Spur erhalten oder fortgebildet haben. Aber wie verschieden fasst der Meister des vielleicht mehr als ein Menschenalter später entstandenen Fröndenberger Altars (Giemen, Publikation der Düsseldorfer Ausstellung von 1904) diese Szene auf. Von dem stillen Pathos, der lärmenden Leidenschaft, der großen Gebärde, die bei Bertram so nachdrücklich wirken, findet sich nicht die Spur. Dasselbe gilt, soweit ich es habe verfolgen können, von den übrigen Motiven Bertrams, von seiner Malweise und seinem Kolorit. Meister Conrad ist in allem grundverschieden und viel eher mit Broederlam verwandt.

Weiterhin wäre beim kölnisch-niederrheinischen Kreis Umschau zu halten. Sicher datierbare Werke vor Bertram gibt es auch hier nicht. Was erhalten ist, hat keinerlei engere Verwandtschaft. Der Clarenaltar, dessen Entstehungszeit immer noch unsicher geblieben ist, entspringt sowohl in seinen altertümlichen wie in seinen fortgeschrittnerenTeilen einer ganz verschiedenartigen Stimmung. Von dort zu Bertram führt keine Verbindung.

Von der niederländischen Tafelmalerei, bei der Bertram gelernt haben könnte, wissen wir nichts. Auch mit der französischen von Paris oder Avignon kann ich einen Zusammenhang nicht nachweisen.

Nürnberg und Mitteldeutschland haben höchstens gleichzeitige Werke hinterlassen oder solche, die mit der späteren Zeit Bertrams zusammenfallen, aber nirgend habe ich Spuren gefunden, die auf Bertram hinweisen.

Es bleibt nur noch die in Prag unter Karl IV. erblühte Kunst. Hier finden sich einige äußerliche Ähnlichkeiten, aber es ist schwer, sie in Worte zu fassen. Am nächsten kommt Bertram vielleicht die Tafel mit den Bildnissen Karls, Wenzels und des Bischofs Ocko im Rudolfinum in Prag. Aber es fehlt bei Bertram der selbst in dem nordischen Teil der Prager Produktion so starke italienische Zustrom, und in seiner Architektur findet sich nirgend eine Anlehnung an die Holzarchitektur aus Brettern, die, wohl aus Frankreich stammend, für die Prager und die mitteldeutsche Schule charakteristisch sind. Wo er einen hölzernen Baldachin baut (Krönung Maria), denkt Bertram in Steinformen.

Hie und da glaubt man ferne italienische Erinnerungen zu fühlen. Aber greifbar sind mir bisher die künstlerischen Motive nicht geworden. Der einzige Zug, der auf einen Besuch Italiens zu weisen scheint, ist die rammsnasige langohrige Ziege auf der Verkündigung an die Hirten. Aber schließlich kann ein Pflanzenfresser wohl auch einmal als „Meerwunder“ mitgebracht sein.

Vielleicht ergibt das Studium der Miniaturen günstigere Aufschlüsse, vielleicht dass auch, wenn wir Bertram länger beobachten, in der Tafelmalerei Beziehungen nachweisbar werden, die mir entgangen sind.

Da auch alle Fachgenossen, die ich um ihre Erfahrungen angegangen bin, vor denselben Problemen stehen wie ich, so bleibt nichts anderes übrig, als diese Fragen einer späteren Lösung zu überlassen und zunächst nur darzustellen, was sich aus den vorhandenen Werken über Meister Bertrams künstlerische Persönlichkeit schließen lässt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415