Bertrams Einfluss

Bei der geringen Zahl der aus dem Zeitalter nach Bertram erhaltenen norddeutschen Kunstwerke ist die Zahl der Spuren Bertramscher Gedanken bei seinen Nachfolgern auffallend groß. Es würde nicht wunder nehmen, wenn sich herausstellen sollte, dass wir in ihm einen der großen Anreger für die ganze Umgebung zu sehen haben.

In Hamburg selbst habe ich außer bei Meister Francke keine Spuren Bertrams gefunden. Sein Verhältnis zu Francke erfordert eine gesonderte Darstellung.


Zeitlich am nächsten steht Bertram der höchst anziehende Altar der Antoniterpräzeptorei zu Tempzin in Mecklenburg, abgebildet bei Schlie.

Auf den Außenflügeln finden sich acht Bilder aus dem Marienleben, vier davon, die obern, den Buxtehuder Bildern sehr nahe. Die untern vier stellen Szenen dar, die in Buxtehude fehlen. Innen die Passion mit der Kreuzigung als Mittelstück.

Die Passion gehört der Stufe vor Francke an. Der Künstler wagt noch nicht, den ganzen Raum der Rückseite für die Kreuzigung zu nehmen und sein Thema dann breit zu entwickeln. Er klemmt jederseits noch zwei Darstellungen in Hochformat mit hinein. Dadurch bekommt alles, auch die Kreuzigung, etwas Gedrängtes und Gedrücktes, und die Figuren werden überlang in der Proportion. Dagegen sind auf den Innenseiten der Flügel nur je zwei Bilder angeordnet, im Gegensatz zu denen, die das Feld der Kreuzigung füllen, im Querformat. Hier entfaltet der Künstler seine höchsten Gaben. Die Grablegung mit der Maria, die sich händeringend auf den Sohn stürzt und von Johannes gehalten wird, die Szene am Ölberg, mit sehr originellen Motiven der Schlafenden (einer sitzt, lässt die Linke hangen und stützt den Kopf in die Rechte, einer zieht fröstelnd den Mantel um sich) sind Kompositionen hohen Ranges, die denen Franckes in allem, worauf es ankommt, ebenbürtig werden. Die Kreuzigung ist zu sehr gedrängt. Longinus, zwei Reiter, die Würfler (zwei davon liegen sich in den Haaren) auf schmaler Fläche. Der Christuskopf lässt den von Francke vorahnen. Maria steht noch, lässt die Hände in hereinbrechender Ohnmacht sinken und wird von Johannes und einer der heiligen Frauen gehalten.

Man sieht auf diesem Werke das Ringen nach der neuen Gestalt des Altars mit an, die Francke bringen sollte mit dem ganz großen Bild als Schluss, — es fehlt das Gleichgewicht. Die breiten Passionsbilder der Flügel sind als rahmende Stücke sehr viel besser als die ängstlich schmalen, gequälten der Rückwand, die das Haupt- und Schlussstück sein sollte.

Das Marienleben ist bei weitem nicht so innig wie das Buxtehuder. Es wirkt wie eine Reduktion. Den Künstler zwang der Raum: er hatte vier Szenen in schmalem Hochformat auf den Flügel zu bringen. Dabei kann man nicht erzählen. Aber wo ein wenig Raum bleibt, fängt der Künstler an zu fabulieren. Am Bett der Mutter Anna steht ein Tisch, zwischen dessen Beinen eine große Katze hockt. Ein Kätzchen, das auf die Querstange zwischen den Tischbeinen gesprungen ist, langt spielend mit der Pfote nach der Alten herab. Ein kleiner schwarzer Hund wendet sich bellend nach der hockenden Katze um. Das ist echt Bertramsch.

Der Rahmen um die Bilder gehört ebenfalls dem Bertramschen Typus an durch die noch romanischen Kreise, die in den Lauf des Ornaments eingefügt sind. Beim Marienleben sind Grau in Grau allerlei Grotesken hineingemalt, eine Harpye, ein Esel, der die Harfe spielt, der Kranich, der aus dem Kruge trinkt. Derartiges kommt sonst nur in Miniaturen vor.

Die Umrahmung der Passion ist entzückend und ausnahmsweise Schnitzerei in langem Rhythmus der Bestandteile: Kreis mit eingemalter Halbfigur, Blatt, Rosette, Blatt, Kreis. Die Blätter waren vergoldet und krochen abwechselnd über blauen und roten Grund, die Rosetten dürften weiß gewesen sein.

Die Arbeit ist nicht so gut wie auf unsern Altären von Bertram, aber sehr viel besser als die des Passionsaltars in der Georgenkirche zu Wismar vor der alles deckenden Übermalung gewesen sein kann. Die Hände sind zum Teil sehr roh, so die Rechte des heiligen Joachim beim Kuß unter der goldenen Pforte. Immer gelingen, wie bei Bertram, die Innenflächen der Hände besser.

Der Typus der Maria ist der Bertramsche. Die andern Frauentypen weichen ab. So hat die Magd bei der Geburt der Maria schon das Kaar hinter das Ohr gestrichen, eine Mode, die bei uns vielleicht erst um 1410 einsetzt. Bei der Maria des Tempziner Altars ist das Ohr noch stets bedeckt.

Bertramsch ist es, wenn die vornehmen Leute gepflegtes Haar haben und die ordinären Köpfe durch grannenartige Augenbrauen und Barthaare gekenntzeichnet werden. So reich wie bei Bertram sind die Charaktere nicht entwickelt. Es fehlen beispielsweise die bei Bertram so fein gebildeten semitischen Typen.

Die Farbe gehört im ganzen zu Bertram. Einzelne Motive sind neu, so, wenn auch auf den acht Tafeln des Marienlebens der Farbenrhythmus nicht durch rote, sondern durch grüne Gewänder gebildet wird. Auffallend wirkt, dass das Ultramarin ganz ungebrochen verwandt wird wie auf italienischen Bildern. Auf unsern Werken von Bertram wird es mehr nach Grün oder Grau gemildert und so dem Gesamton eingefügt. Das gilt selbst von dem stärksten Blau, dem Mantel der Maria der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. Auch Francke verwendet es mit feinem Farbengefühl nie ungebrochen. Hier haben vielleicht die reichen Besteller ein Wort mitgesprochen.

Der Altar gibt viel zu denken. Dass die vier identischen Szenen des Marienlebens von Bertram herstammen, leidet keinen Zweifel. Aber haben wir uns eine Passion Bertrams als Vorbild für die Passion des Tempziner Altars zu denken? Kann es wahrscheinlich gemacht werden, dass Bertrams Passion diese Züge trug? Vorläufig müssen diese Fragen unbeantwortet bleiben. Hier steckt eins der interessantesten Probleme der norddeutschen Kunstgeschichte. Material gibt es noch in Lübeck und an anderen Orten.

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Aus einer fernerliegenden Provinz und Zeit ist der Göttinger Altar von 1424, jetzt im Provinzialmuseum zu Hannover.

Zwei seiner Bilder gehen auf Bertram zurück, beide auf den Buxtehuder Altar.

Das eine ist die Verkündigung an den heiligen Joachim. Die mit Wald gekrönte Hügellehne rechts stimmt in allen wesentlichen Motiven mit der bei Bertram überein. Statt des Fuchses wird zwischen den Bäumen im Wald ein Wolf mit einem Lamm im Rachen sichtbar. Auch das säugende Mutterlamm in der Herde ist nicht vergessen. Doch sind die von Bertram entlehnten Motive schwächer im Ausdruck als bei dem wohl dreißig Jahr älteren Original.

In der Anlage verschieden, aber in einzelnen wichtigen Motiven identisch ist die Szene des Christusknaben unter den Schriftgelehrten. Der Mann rechts im Hintergrund, der die Bibel wegschleudert, ist vorläufig nur aus derselben Figur bei Bertram verständlich, ebenso links die Gebärde der Mutter Maria, die ihren Sohn erkennt und unwillkürlich die Hände nach ihm ausstreckt.

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161 Doberaner Altar, untere Reihe
163 Laienaltar in Doberan, Abrahams Opfer

Einen Komplex schwieriger Fragen, die ich noch nicht zu lösen vermag, bildet das Laienkreuz in der Kirche zu Doberan.

Ein beträchtlicher Teil des reichen Schmuckes steht in engsten Beziehungen zu Bertram.

Es sind vor allem die Darstellungen aus dem alten Testament, Abrahams Opfer, David und Goliath usw. Das Opfer Abrahams wirkt wie eine erste Skizze zu der Darstellung auf dem Grabower Altar. Einzelnes kommt schon genau wie hier vor, so der am Hörn aufgehängte Widder. Isaak ist noch das geduldige Opferlamm, das sich ohne Sträuben hingibt. Aus diesem Charakter des Reliefs am Doberaner Laienkreuz geht mit Sicherheit hervor, dass es keine Nachahmung der Szene aus dem Grabower Altar von 1379 sein kann, also sehr wohl bald nach der Vollendung der Kirche (1368) anzusetzen ist. Wer Bertram kennt, wird schon beim ersten Anblick von der Identität der Typen und der Bewegungsmotive frappiert. Selbst die moderne Übermalung hat den Ausdruck von Leben, der Bertram gehört, nicht zu verwischen vermocht. Dagegen haben andere Gruppen, namentlich die der Christusseite, weit schlankere Proportionen als wir bei Bertram gewohnt sind. Da kaum anzunehmen ist, dass an demselben Kunstwerk zwei Werkstätten gearbeitet haben, kann es sich, die Werkstatt Bertrams angenommen, um einen Jugendstil Bertrams handeln, von dem er sich während der Arbeit losgelöst hat, oder es müsste mit einem Mitarbeiter anderer Herkunft und Stufe gerechnet werden.

Das Sakramentshäuschen in Doberan steht dem Teil des Hochaltars, der von Bertram herrührt, näher als dem Laienaltar.

Dem Laienaltar ist wieder aufs Engste verwandt der unter Brandts Leitung so vorsichtig restaurierte Landkirchner Altar in Kiel.

Dass der Engel der Verkündigung bei dem (Lübecker) Meister des Neukirchner Altars in Kiel dem des Grabower von Meister Bertram nahe verwandt ist, hat schon Friedrich Knorr in seiner Arbeit über den Meister hervorgehoben. Es mag noch hinzugefügt werden, dass die Bildanlage der Verkündigung bei Francke wie bei dem Meister des Neukirchner Altars auf eine der drei Typen von Bertram zurückgeht.

Wenn erst die Aufmerksamkeit der Forscher des engern Gebietes sich den Problemen zugewandt hat, die Bertram anregt, werden wir wohl eine Ergänzung und Erklärung dieser ersten Funde erwarten dürfen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415