Bertram und Francke
Solange Bertram noch nicht genauer bekannt war, ließ sich als wahrscheinlich annehmen, dass Francke sein Schüler gewesen sei. Seit ihre Werke im selben Raum zum Vergleich stehen, ist dies Verhältnis zweifelhaft geworden. Hätten sie nicht an einem Ort geschaffen, und wäre nicht auch für Francke nachweisbar, dass er in Hamburg seine Entwicklung durchgemacht hat, man würde nicht leicht auf den Gedanken kommen, die beiden Meister in Beziehung zu setzen.
Der Vergleich ihrer Werke lehrt zunächst das eine, dass auch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert das jüngere Geschlecht keineswegs den Trieb fühlte, mechanisch und logisch alle Ansätze des älteren weiter zu entwickeln. Es ging, nachdem es sich die Hauptergebnisse angeeignet, seine eigenen Wege und entwickelte das Neue neu aus sich heraus.
So kommt es, dass Bertram der ältere, in mehr als einer Richtung sehr viel weiter vordringt als sein Nachfolger Francke, und dass dieser Kräfte und Mittel entwickelt, die bei Bertram nicht einmal im Keim vorhanden scheinen.
Was Bertram voraus hat, ist zunächst eine sehr viel eindringlichere Beobachtung des Pflanzen- und Tierlebens. Als wir nach der Erwerbung von Franckes Werken den Buxtehuder Altar untersuchten, dessen Urheber wir damals nicht kannten, waren wir geneigt, die Arbeit eines Zeitgenossen Franckes darin zu sehen, der einige altertümliche Züge noch nicht abgestreift hatte, daneben aber einen Fortschritt über Francke hinaus bezeichnete.
Ebenso auffallend sind die technischen Verschiedenheiten. Auch hier stecken in Bertrams Werken Keime, deren Ausbildung bei Francke nicht erkennbar wird. Die Mittel, die Bertram auf seinen späteren Werken anwendet, um Farbe zum Leuchten zu bringen — Strichelung, Tüpfelung, Schraffierung mit einer andern Farbe, die als solche nur aus der Nähe in die Erscheinung tritt, bei geringem Abstand mit der Farbe des Grundes im Auge verschmilzt und dadurch stärkern Reiz ausübt — verwendet Francke nachher an keiner Stelle. So stark seine Farbe wirkt, er erreicht doch nach meiner Empfindung nirgend die Glut und Kraft Bertrams, wo er am stärksten ist (Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Christusknabe im Tempel).
Wenn es einen Umstand gibt, der gegen die unmittelbare Schülerschaft Franckes zu sprechen scheint, so ist es dieser. Es lässt sich zunächst sehr schwer einsehen, dass der große Kolorist Francke als Schüler in Bertrams Werkstatt die Wirksamkeit solcher Mittel kennen gelernt und nicht sollte zu würdigen gewußt haben. Aber er hat ja bei Bertram auch andere Dinge unbeachtet gelassen, die Landschaft, das Tierleben. Der Künstler selbständigen Wesens kann nur das aufnehmen, was seiner Art entspricht. Francke ging in der Farbe auf eine Flächenwirkung hinaus, die an das Feinste der Japaner gemahnt. Bertrams Prinzip der Auflockerung und Auflichtung der Farbe ist räumlicher Natur und arbeitet der Flächenwirkung entgegen. Auf einer Franckeschen Harmonie einzelne Farben mit den Mitteln Bertrams ausdrücken, hieße die Einheit zerstören. Es wird sich schon so verhalten, dass Francke die Mittel, die er kennen musste, auch wenn er nicht Bertrams Schüler war, im Ringen auf ein anderes Ziel mit Bewusstsein verschmäht hat.
Der Unterschied in der Behandlung der Farbe mag überhaupt auf das verschieden entwickelte Raumgefühl zurückgehen. Bei Bertram ist Farbe Mittel, bei Francke schon fast Zweck. Bertram braucht sie, um seine Kompositionen aufzulockern. In dieser Beziehung ist sein Verhältnis zum Grau und Braun sehr charakteristisch. Bertram verwendet sie fast überall, um zu vertiefen oder zu harmonisieren. Wie fein steht das Grau des Esels der Ruhe auf der Flucht zu dem Braun des Erdbodens, wie überaus geschickt ist ein sehr lebendiges Grau bei der Krönung Maria verwendet. Es bildet mit seinen zarten und starken Abschattungen einen unsagbar räumlich gefühlten Vordergrund, dem sich oben mit ähnlicher Wirkung der grüne Baldachin anschließt mit der schwarzen Decke — was für ein Schwarz in dem Grün — , mit den goldenen Rauchfässern, die das Schwarz lebendig machen und dem Rot und Violett, die das Grün umgeben, um es zu stärken, ohne es hart zu machen. Auf diesem Krönungsbilde rückt das Grau funktionell an die Stelle des Goldgrundes. Auf dem Buxtehuder Altar sind die Grau besonders zart verwandt, so auf dem Altar der Beschneidung.
Eine solche Verwendung der Grau und Braun kommt beim Grabower Altar nur erst ganz ausnahmsweise vor. Die Wirkung des Grau auf die Kraft und Harmonie der farbigen Gesamthaltung dürfte eine ganz persönliche Entdeckung Bertrams gewesen sein.
Im Raumgefühl scheint mir Bertram, namentlich, wenn man den Abstand der Generationen in Anschlag bringt, über Francke hinauszugehen. Francke bleibt auch im körperlichen Aufbau seiner Bilder mehr in der Fläche, als in seinen kühnsten Kompositionen Bertram. Francke sucht durch vorgeschobene Kulissen von Erdreich, durch Gebüsch, ein Gitter, einen überschneidenden Arm die Dimension in die Tiefe fühlbar zu machen und bleibt für den Gesamteindruck doch in der Fläche. Wo er am kühnsten vorstößt, bedient sich Bertram dagegen keinerlei solcher äußeren Hilfsmittel. Ein Vergleich der vorgeschrittensten Kompositionen beider Meister lässt diesen wesentlichen Unterschied leicht erkennen. Bei der Verwarnung unter dem Baum der Erkenntnis gibt Bertram eine volle Aufsicht auf die Fläche des Bodens und stellt Adam und Eva mit erstaunlichem Gefühl für die Tiefenwirkung lose hinein. Francke erreicht auf der Kreuzschleppung schon eine volle Aufsicht auf den Vordergrund mit der Wasserfläche. Aber die Figuren des Zuges bewegen sich noch fast als Relief am Hintergrund entlang. Sie stehen nicht in demselben Sinne im Raum wie bei der „Verwarnung“ Bertrams. Der Raum des Vordergrundes ist eins bei Francke, die Gruppe ein anderes. Bertram hat in glücklicher Stunde schon die Einheit erreicht.
Die Merkmale, die daraufhinweisen, dass Francke die Werke seines Vorgängers gekannt hat, sind übrigens bald aufgezählt. Ich sehe sie zunächst in der Übernahme eines Kunstmittels, dem Antlitz einen besonders lebendigen Ausdruck zu geben. Bertram lässt zu diesem Zweck wiederholt einen Hut oder einen Helm das Gesicht in der Mitte der Augen überschneiden (Kindermord, Verkündigung an die Hirten). Bei Francke findet sich dies Motiv auf der Ermordung des heiligen Thomas von Canterbury. Auch die Überschneidung des Gesichts durch einen erhobenen Arm, bei Francke so auffällig, findet sich schon bei Bertram (Gott Vater der Schöpfungstage). Außerdem ist mir eine seltene Farbenzusammenstellung aufgefallen, die sich zuerst bei Bertram findet: das Grün-gelb-weiß des knieenden alten Königs auf der Anbetung des Buxtehuder Altars. Bei Francke hat es die Magdalena in der Gruppe der Frauen unter dem Kreuz. Das ist nicht sehr viel Positives.
Ein näheres Verhältnis würde sich vielleicht erkennen lassen, wenn bei Francke eine Reihe von Kompositionen sich mit Bertrams Werk deckten. Unter den von beiden Künstlern auf uns gekommenen Werken tritt nur zweimal derselbe Stoff auf, die Geburt Christi und die Anbetung der Könige.
Die Geburt Christi bei Francke hat keinerlei Verwandtschaft mit der Auffassung Bertrams, Maria ruht nicht mehr auf dem Lager, das Kind liegt nicht mehr in der Krippe. Francke kennt schon den neuen Typus — als einer der ersten im Norden — , wo Maria vor dem an der Erde liegenden Christkinde in Anbetung niederkniet: Mein Herr und mein Gott! Über die Entstehung der neuen Ikonographie des 15. Jahrhunderts, der diese Komposition Franckes schon angehört, geben Thode in seinem Franciscus von Assisi und Male in der Gazette des Beaux arts 1904 die Aufklärung.
Franckes Anbetung der Könige geht durch die Betonung der Nacht und durch die Einführung Josephs über Bertram hinaus. Aber auch ihm fällt es noch nicht ein, das Gefolge der Könige zu schildern. Eine Verwandtschaft mit Bertram lässt sich vielleicht in der Schilderung des knieenden Greises empfinden, wenn man ihn mit dem des Buxtehuders Altars vergleicht. Die Empfindung wenigstens scheint mir nahe verwandt.
In den Illustrationen bei Staphorst sind uns (schlecht wiedergegeben) noch andere Kompositionen Franckes erhalten, die Verkündigung und die Darstellung. Von diesen scheint die Verkündigung dem Typus, der bei Bertram in drei Abwandlungen vorkommt — der Engel zur Seite Marias knieend, Maria auf den Knieen vor ihrem Betpult — , zu entsprechen. Diese zuerst bei Bertram vorkommende Anordnung hält sich lange im Norden. Noch der (Lübecker) Meister des Neukirchner Altars hat sie beibehalten.
Franckes Kunst bleibt, von Einzelheiten abgesehen, wenn sie auch für die Einschätzung der Ursprünglichkeit noch so wichtig sind, im ganzen selbstverständlich die reifere und ist uns deshalb unmittelbarer zugänglich. Er ist schon deshalb im Vorteil, weil er weit größere Flächen zur Verfügung hatte. Hier erst konnte er seine neue Kunst des Aufbaus entfalten. Szenen, wie die Kreuzschleppung mit den vielen schrägen, den Eindruck der hastigen Bewegung unterstützenden Linien, die Grablegung mit der einen redenden Querlinie des Leichnams, der Auferstehung mit der aufstrebenden Gestalt im Gegensatz zu dem Gewimmel der ruhenden Krieger, die Gruppe der Frauen unter dem Kreuz mit dem zart abgewandelten Ausdruck der Beziehungen der heiligen Frauen zur Maria und dem beredten Spiel zarter Frauenhände konnte Bertram auf den Bildflächen der uns erhaltenen Altäre noch nicht entwickeln. Freilich muss gefragt werden, wie weit die Darstellung der Passion ihn über das uns Erhaltene hinausgeführt haben mag. Wenn die Passion des Tempziner Altars ebenso wie dessen Marienleben auf Bertram zurückgeht, was mir nicht ganz unmöglich vorkommt, müssen wir unser Urteil über Bertram noch wesentlich ändern. Kompositionen wie die der Grablegung des Tempziner Altars stehen an Breite und Wucht des Aufbaus, an Klarheit und Kraft des Rhythmus, an Innigkeit der Empfindung den Bildgedanken Franckes nicht nach. Wo so viel Wunder schon geschehen sind, bleibt uns die Hoffnung, dass die weitere Forschung auch über Bertrams Auffassung der Passion noch einmal einige Sicherheit schaffen wird.
Dem Gefühl wird heute die nahe Verwandtschaft der beiden großen Meister vor allem in ihrem koloristischen Wesen anschaulich. Wir fangen erst an, Francke zu fassen, seit wir ihn neben Bertram sehen. Bertram ist auch hier der große Bahnbrecher, Francke der genial begabte Erbe. Das Kapital koloristischer Kultur, mit dem Francke wirtschaftet, stammt nicht nur aus seiner eigenen Begabung, sondern auch aus dem Vermögen Bertrams, das Francke im Erbwege übernahm.
Wir beginnen erst eben, wo wir seit August 1905 den ganzen Bertram mit Francke nebeneinander beobachten können, wo nun der eine den andern beleuchtet, uns in ihr Wesen hineinzufühlen. Franckes Bedeutung hat sich nicht verringert, seit wir nun die Grenzen seiner Absicht oder Begabung erkennen gelernt haben, für die wir bis dahin keinen Maßstab besaßen. In diesem Stadium lässt sich noch nicht sagen, zu welchen Entdeckungen eine innigere Vertrautheit Vieler mit den Werken unserer alten Hamburger Meister führen wird.
Der Vergleich ihrer Werke lehrt zunächst das eine, dass auch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert das jüngere Geschlecht keineswegs den Trieb fühlte, mechanisch und logisch alle Ansätze des älteren weiter zu entwickeln. Es ging, nachdem es sich die Hauptergebnisse angeeignet, seine eigenen Wege und entwickelte das Neue neu aus sich heraus.
So kommt es, dass Bertram der ältere, in mehr als einer Richtung sehr viel weiter vordringt als sein Nachfolger Francke, und dass dieser Kräfte und Mittel entwickelt, die bei Bertram nicht einmal im Keim vorhanden scheinen.
Was Bertram voraus hat, ist zunächst eine sehr viel eindringlichere Beobachtung des Pflanzen- und Tierlebens. Als wir nach der Erwerbung von Franckes Werken den Buxtehuder Altar untersuchten, dessen Urheber wir damals nicht kannten, waren wir geneigt, die Arbeit eines Zeitgenossen Franckes darin zu sehen, der einige altertümliche Züge noch nicht abgestreift hatte, daneben aber einen Fortschritt über Francke hinaus bezeichnete.
Ebenso auffallend sind die technischen Verschiedenheiten. Auch hier stecken in Bertrams Werken Keime, deren Ausbildung bei Francke nicht erkennbar wird. Die Mittel, die Bertram auf seinen späteren Werken anwendet, um Farbe zum Leuchten zu bringen — Strichelung, Tüpfelung, Schraffierung mit einer andern Farbe, die als solche nur aus der Nähe in die Erscheinung tritt, bei geringem Abstand mit der Farbe des Grundes im Auge verschmilzt und dadurch stärkern Reiz ausübt — verwendet Francke nachher an keiner Stelle. So stark seine Farbe wirkt, er erreicht doch nach meiner Empfindung nirgend die Glut und Kraft Bertrams, wo er am stärksten ist (Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Christusknabe im Tempel).
Wenn es einen Umstand gibt, der gegen die unmittelbare Schülerschaft Franckes zu sprechen scheint, so ist es dieser. Es lässt sich zunächst sehr schwer einsehen, dass der große Kolorist Francke als Schüler in Bertrams Werkstatt die Wirksamkeit solcher Mittel kennen gelernt und nicht sollte zu würdigen gewußt haben. Aber er hat ja bei Bertram auch andere Dinge unbeachtet gelassen, die Landschaft, das Tierleben. Der Künstler selbständigen Wesens kann nur das aufnehmen, was seiner Art entspricht. Francke ging in der Farbe auf eine Flächenwirkung hinaus, die an das Feinste der Japaner gemahnt. Bertrams Prinzip der Auflockerung und Auflichtung der Farbe ist räumlicher Natur und arbeitet der Flächenwirkung entgegen. Auf einer Franckeschen Harmonie einzelne Farben mit den Mitteln Bertrams ausdrücken, hieße die Einheit zerstören. Es wird sich schon so verhalten, dass Francke die Mittel, die er kennen musste, auch wenn er nicht Bertrams Schüler war, im Ringen auf ein anderes Ziel mit Bewusstsein verschmäht hat.
Der Unterschied in der Behandlung der Farbe mag überhaupt auf das verschieden entwickelte Raumgefühl zurückgehen. Bei Bertram ist Farbe Mittel, bei Francke schon fast Zweck. Bertram braucht sie, um seine Kompositionen aufzulockern. In dieser Beziehung ist sein Verhältnis zum Grau und Braun sehr charakteristisch. Bertram verwendet sie fast überall, um zu vertiefen oder zu harmonisieren. Wie fein steht das Grau des Esels der Ruhe auf der Flucht zu dem Braun des Erdbodens, wie überaus geschickt ist ein sehr lebendiges Grau bei der Krönung Maria verwendet. Es bildet mit seinen zarten und starken Abschattungen einen unsagbar räumlich gefühlten Vordergrund, dem sich oben mit ähnlicher Wirkung der grüne Baldachin anschließt mit der schwarzen Decke — was für ein Schwarz in dem Grün — , mit den goldenen Rauchfässern, die das Schwarz lebendig machen und dem Rot und Violett, die das Grün umgeben, um es zu stärken, ohne es hart zu machen. Auf diesem Krönungsbilde rückt das Grau funktionell an die Stelle des Goldgrundes. Auf dem Buxtehuder Altar sind die Grau besonders zart verwandt, so auf dem Altar der Beschneidung.
Eine solche Verwendung der Grau und Braun kommt beim Grabower Altar nur erst ganz ausnahmsweise vor. Die Wirkung des Grau auf die Kraft und Harmonie der farbigen Gesamthaltung dürfte eine ganz persönliche Entdeckung Bertrams gewesen sein.
Im Raumgefühl scheint mir Bertram, namentlich, wenn man den Abstand der Generationen in Anschlag bringt, über Francke hinauszugehen. Francke bleibt auch im körperlichen Aufbau seiner Bilder mehr in der Fläche, als in seinen kühnsten Kompositionen Bertram. Francke sucht durch vorgeschobene Kulissen von Erdreich, durch Gebüsch, ein Gitter, einen überschneidenden Arm die Dimension in die Tiefe fühlbar zu machen und bleibt für den Gesamteindruck doch in der Fläche. Wo er am kühnsten vorstößt, bedient sich Bertram dagegen keinerlei solcher äußeren Hilfsmittel. Ein Vergleich der vorgeschrittensten Kompositionen beider Meister lässt diesen wesentlichen Unterschied leicht erkennen. Bei der Verwarnung unter dem Baum der Erkenntnis gibt Bertram eine volle Aufsicht auf die Fläche des Bodens und stellt Adam und Eva mit erstaunlichem Gefühl für die Tiefenwirkung lose hinein. Francke erreicht auf der Kreuzschleppung schon eine volle Aufsicht auf den Vordergrund mit der Wasserfläche. Aber die Figuren des Zuges bewegen sich noch fast als Relief am Hintergrund entlang. Sie stehen nicht in demselben Sinne im Raum wie bei der „Verwarnung“ Bertrams. Der Raum des Vordergrundes ist eins bei Francke, die Gruppe ein anderes. Bertram hat in glücklicher Stunde schon die Einheit erreicht.
Die Merkmale, die daraufhinweisen, dass Francke die Werke seines Vorgängers gekannt hat, sind übrigens bald aufgezählt. Ich sehe sie zunächst in der Übernahme eines Kunstmittels, dem Antlitz einen besonders lebendigen Ausdruck zu geben. Bertram lässt zu diesem Zweck wiederholt einen Hut oder einen Helm das Gesicht in der Mitte der Augen überschneiden (Kindermord, Verkündigung an die Hirten). Bei Francke findet sich dies Motiv auf der Ermordung des heiligen Thomas von Canterbury. Auch die Überschneidung des Gesichts durch einen erhobenen Arm, bei Francke so auffällig, findet sich schon bei Bertram (Gott Vater der Schöpfungstage). Außerdem ist mir eine seltene Farbenzusammenstellung aufgefallen, die sich zuerst bei Bertram findet: das Grün-gelb-weiß des knieenden alten Königs auf der Anbetung des Buxtehuder Altars. Bei Francke hat es die Magdalena in der Gruppe der Frauen unter dem Kreuz. Das ist nicht sehr viel Positives.
Ein näheres Verhältnis würde sich vielleicht erkennen lassen, wenn bei Francke eine Reihe von Kompositionen sich mit Bertrams Werk deckten. Unter den von beiden Künstlern auf uns gekommenen Werken tritt nur zweimal derselbe Stoff auf, die Geburt Christi und die Anbetung der Könige.
Die Geburt Christi bei Francke hat keinerlei Verwandtschaft mit der Auffassung Bertrams, Maria ruht nicht mehr auf dem Lager, das Kind liegt nicht mehr in der Krippe. Francke kennt schon den neuen Typus — als einer der ersten im Norden — , wo Maria vor dem an der Erde liegenden Christkinde in Anbetung niederkniet: Mein Herr und mein Gott! Über die Entstehung der neuen Ikonographie des 15. Jahrhunderts, der diese Komposition Franckes schon angehört, geben Thode in seinem Franciscus von Assisi und Male in der Gazette des Beaux arts 1904 die Aufklärung.
Franckes Anbetung der Könige geht durch die Betonung der Nacht und durch die Einführung Josephs über Bertram hinaus. Aber auch ihm fällt es noch nicht ein, das Gefolge der Könige zu schildern. Eine Verwandtschaft mit Bertram lässt sich vielleicht in der Schilderung des knieenden Greises empfinden, wenn man ihn mit dem des Buxtehuders Altars vergleicht. Die Empfindung wenigstens scheint mir nahe verwandt.
In den Illustrationen bei Staphorst sind uns (schlecht wiedergegeben) noch andere Kompositionen Franckes erhalten, die Verkündigung und die Darstellung. Von diesen scheint die Verkündigung dem Typus, der bei Bertram in drei Abwandlungen vorkommt — der Engel zur Seite Marias knieend, Maria auf den Knieen vor ihrem Betpult — , zu entsprechen. Diese zuerst bei Bertram vorkommende Anordnung hält sich lange im Norden. Noch der (Lübecker) Meister des Neukirchner Altars hat sie beibehalten.
Franckes Kunst bleibt, von Einzelheiten abgesehen, wenn sie auch für die Einschätzung der Ursprünglichkeit noch so wichtig sind, im ganzen selbstverständlich die reifere und ist uns deshalb unmittelbarer zugänglich. Er ist schon deshalb im Vorteil, weil er weit größere Flächen zur Verfügung hatte. Hier erst konnte er seine neue Kunst des Aufbaus entfalten. Szenen, wie die Kreuzschleppung mit den vielen schrägen, den Eindruck der hastigen Bewegung unterstützenden Linien, die Grablegung mit der einen redenden Querlinie des Leichnams, der Auferstehung mit der aufstrebenden Gestalt im Gegensatz zu dem Gewimmel der ruhenden Krieger, die Gruppe der Frauen unter dem Kreuz mit dem zart abgewandelten Ausdruck der Beziehungen der heiligen Frauen zur Maria und dem beredten Spiel zarter Frauenhände konnte Bertram auf den Bildflächen der uns erhaltenen Altäre noch nicht entwickeln. Freilich muss gefragt werden, wie weit die Darstellung der Passion ihn über das uns Erhaltene hinausgeführt haben mag. Wenn die Passion des Tempziner Altars ebenso wie dessen Marienleben auf Bertram zurückgeht, was mir nicht ganz unmöglich vorkommt, müssen wir unser Urteil über Bertram noch wesentlich ändern. Kompositionen wie die der Grablegung des Tempziner Altars stehen an Breite und Wucht des Aufbaus, an Klarheit und Kraft des Rhythmus, an Innigkeit der Empfindung den Bildgedanken Franckes nicht nach. Wo so viel Wunder schon geschehen sind, bleibt uns die Hoffnung, dass die weitere Forschung auch über Bertrams Auffassung der Passion noch einmal einige Sicherheit schaffen wird.
Dem Gefühl wird heute die nahe Verwandtschaft der beiden großen Meister vor allem in ihrem koloristischen Wesen anschaulich. Wir fangen erst an, Francke zu fassen, seit wir ihn neben Bertram sehen. Bertram ist auch hier der große Bahnbrecher, Francke der genial begabte Erbe. Das Kapital koloristischer Kultur, mit dem Francke wirtschaftet, stammt nicht nur aus seiner eigenen Begabung, sondern auch aus dem Vermögen Bertrams, das Francke im Erbwege übernahm.
Wir beginnen erst eben, wo wir seit August 1905 den ganzen Bertram mit Francke nebeneinander beobachten können, wo nun der eine den andern beleuchtet, uns in ihr Wesen hineinzufühlen. Franckes Bedeutung hat sich nicht verringert, seit wir nun die Grenzen seiner Absicht oder Begabung erkennen gelernt haben, für die wir bis dahin keinen Maßstab besaßen. In diesem Stadium lässt sich noch nicht sagen, zu welchen Entdeckungen eine innigere Vertrautheit Vieler mit den Werken unserer alten Hamburger Meister führen wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415