Architektur

Bei Bertram ist die Architektur wie die Landschaft nicht mehr bloß Ornament oder Andeutung, sondern schon Hintergrund und Rahmen für die Figuren. Er sieht schon Menschen im Raum des Hauses.

Doch hat er vor der Wirklichkeit der Architektur weniger Respekt als vor der Wirklichkeit der Landschaft. Wenn wir bei ihm schon einer Eiche, einem Apfelbaum, einer Erdbeere begegnen, können wir doch kaum bei einer seiner Architekturen annehmen, dass er in demselben Grade Natur in der Erinnerung oder vor Augen gehabt hat. Er geht offenbar eben so willkürlich mit den Formen wie mit den Verhältnissen um. Eine einheitliche Formel für die Verwendung der Architektur auf seinen Bildern lässt sich deshalb schwer geben. Doch können mehrere Gruppen unterschieden werden.


Am altertümlichsten wirken seine phantastischdekorativen Erfindungen, für die es ein Vorbild in der Wirklichkeit nur in den Einzelheiten, nicht aber als Ganzes gegeben hat. Dahin gehören die krausen Baldachine, die auf dem Grabower Altar Innenräume andeuten sollen (Isaak und Esau, Darstellung im Tempel). Auf dem Buxtehuder Altar kommen sie schon nicht mehr vor.

Verwandt damit sind das Baldachindach über den Wänden und der Decke des Zimmers, das den Hintergrund zum Segen Jakobs bildet, die Bekrönung des Paradiestors und einige der Baldachine über denThronen. Bei allen erheben sich über einer steinernen Balustrade mit runden Ecktürmchen Erker in Form von rotgedeckten kleinen Häusern mit Fenstern und Türen. Auch auf dem Baldachin des Throns Salomonis, auf dem die Jungfrau gekrönt wird, kommen sie vor. Der Baldachin des Throns auf dem bethlehemitischen Kindermord des Grabower Altars hat die roten Treppengiebel des Backsteinbaues.

Eine zweite Gruppe bilden die Gebäude, die als Nachbildung der Wirklichkeit gedacht sind. Dazu gehören die gelben, roten und grauen Häuser und der Tempel hinter der goldenen Pforte auf dem Buxtehuder Altar, das Paradiestor auf der „Verwarnung“ und die Innenräume.

Dann kommen Bauten vor, die sich an eine aus der Wirklichkeit bekannte Form anlehnen, aber mit ornamentalen Erinnerungen phantastisch umkleidet sind. Dahin gehört das Türmchen rechts auf der „Verwarnung“ des Grabower Altars. Das Vorbild scheint der Schildturm der mittelalterlichen Befestigung gewesen zu sein, wie er in Lübeck noch heute neben dem Burgtor steht. Die Dachbildung ist dann Phantasie, Fialen und Wimperge des Steinstils in Backstein übertragen, darüber am Achteck ein Motiv, das an die vorspringenden gedeckten Balkone der Verteidigungsbauten erinnert, zu oberst an dem Spitzturm vorspringende Erker, die ihr Vorbild wohl in Hauskranen haben dürften.

Dieselben Elemente, die hier zur Gewinnung phantastischer Silhouetten dienen, kehren an Toren und Baldachinen immer wieder. Selbst wo die Baldachine aus Holz gedacht sind, haben sie dieselben Formen wie die Steinarchitektur.

Die Farbe der Architekturen wechselt beständig. Das Rot des Backsteins steht überall neben dem Grau des Sandsteins. Braungrau oder gelb getünchte Häuser heben sich von roten Backsteinwänden ab. Einmal kommt ein tiefes Violett vor — an dem Tempelchen, in dem Maria sitzt beim Besuch der Engel.

Holz ist bald grün bemalt, bald steht es naturfarben in der Maserung.

Für die Beurteilung des Weges, den Bertram in seiner Entwicklung der Raumanschauung zurückgelegt hat, ist der Vergleich zwischen dem Stall auf dem Grabower Altar und dem des Buxtehuders sehr lehrreich. An die Stelle des einfachen Gebildes mit sehr mangelhafter Perspektive des Grabower Altars tritt später ein Strohdach mit einem erkerartigen Giebel und auffallend richtig gefühlter Konstruktion. Die Rückwand ist von einer Tür durchbrochen, durch die ein Engel hereinblickt.

Bei der Bedachung ist sehr genau unterschieden, ob Stroh, Ziegel oder Kupfer gemeint ist. Die roten Ziegel sind sehr lang. Wir kennen genau dieselben Formen von Ausgrabungen mittelalterlicher Wohnstätten in unserer Umgebung.

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Meister Bertram sah seine Architektur mit andern Augen an als ein Geschlecht wie das unsere, das so reife Architekturmalerei und so viele großartige Architekturphantasien vieler Zeiten und Kulturen hinter sich hat. Was uns an seinen Phantasien als Unbeholfenheit erscheint, war ihm — und seiner Zeit — Leistung. Wollen wir ihm gerecht werden, so heißt es, nicht von der Höhe zu ihm zurückblicken sondern hinter ihn treten. Dann wird uns seine Architektur als eine Tat erscheinen, die seinen Tierbildern und seiner Landschaft gleichwertig ist.

Und dann werden wir eine so liebliche Formerfindung wie den auch farbig märchenhaft reizvollen Pavillon, in dem Maria beim Besuch der Engel sitzt, als originelle Schöpfung genießen, werden die Phantastik des Paradiestores auf der „Verwarnung“ bewundern und mit einem Gefühl der Ehrfurcht den Formenund Farbenreichtum des Thrones Salomonis auf uns wirken lassen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415