Hameln, den 3. August, 1808.

Hierher also musste mich mein wunderbares Schicksal führen, um meine letzte Lebensstunde zu feiern? – Unbegreifliche Verkettung der Dinge! – Fünf Tage musste ich, die Wiederherstellung meiner zerrütteten Gesundheit suchend, mit Extrapost reisen, um mich selbst hierher in die dringendste Gefahr und an den Rand des Grabes zu bringen!

Schwerlich war je die Situation eines Menschen wunderbarer, als es die meinige ist, indem ich dieses schreibe! Jeden Augenblick erwarte ich den Schlag, durch den es mit mir enden wird, und es ist geendet, vielleicht noch ehe ich diese Seite heruntergeschrieben habe. Seltsam fühle ich mich gestimmt, bald verwirrt bis zur Unmöglichkeit, meine Gedanken zu sammeln, bald wieder der Gefahr trotzend, der ich doch nun einmal nicht mehr auszuweichen vermag.


Aber wozu schreibe ich auch dies alles? Du wirst es nicht lesen, denn mit mir wird es untergehen. Nur die allgemeine Kunde wird auch endlich zu dir kommen, ich sei untergegangen mit Tausenden meinesgleichen und weiter nichts. Mein unbedeutender Name wird sich verlieren unter den vielen bedeutenden, mit denen ich meinen Untergang finde.

Ha, mein Kopf! mein armer Kopf! Ich bin angesteckt durch allen Tumult, ich kann nicht zur Besinnung kommen von dem Treiben um mich her, meine Ideen nicht aufhellen bei dem Toben, das mich umgibt.

Schon bei meinem Hereinfahren in die Stadt sah ich, dass alles durch- und widereinander lief. Keiner stand allein, oder ging ruhig seinen Geschäften nach, alles engte sich in großen dichten Gruppen, einer war der Erzählende, und die andern Hände schlagende, Augen zum Himmel aufhebende, seufzende und jammernde Zuschauer. Die gemeinen Weiber auf den Straßen kamen mit ihren Schürzenzipfeln den Tränen entgegen, die sich aus ihren unsauberen Augen drängten, und die Männer standen stumm mit in einander geschlagenen Armen.

Mein Postillion, der so wenig, als ich, ahnete, dass die Ursache des Kummers auch uns angehen könne, blies sich munter durch die Stadt. Aber selbst die Neugier war hier ausgestorben. Keinen Kopf, selbst keinen weiblichen, lockte das Posthorn ans Fenster, kein Blick der daraußen Stehenden gab auch nur auf das entfernteste zu verstehen, dass er den Inhalt dieser Postchaise zu wissen wünsche, kaum dass man ihr aus dem Wege ging, und dass ihrem Führer seine Bemühungen gelangen, keinen dieser Unbeweglichen überzufahren.

„Warte“, sagte er endlich, indem er sein Horn zürnend über den Nacken warf, „ich will euch bald aus dem Wege kehren“, schwang seine Peitsche und fuhr nun so rasch und im Galopp durch die Straßen der Stadt, dass alles zur Seite flog, bog aber zugleich so kurz um die Ecke vor dem Wirtshause herum, dass der Wagen kippte, und ich förmlich wie aus einem Kübel vors Wirtshaus hingeschüttet wurde.

„Dass dich der Tausend, da sollte ich bald umgeworfen haben“, rief er, als er wieder auf geraden Beinen stand, und sah ruhig zu, wie ich mich aus allen den Mänteln, Chenillen und Siebensachen heraushaspelte, die meinen Fall aus der Chaise begleitet hatten, und die nun über mich her lagen, ging um den Wagen herum und versicherte mit einem kräftigen Fluche, dass nichts zerbrochen sei.

„Als meine Knochen“, erwiderte ich seufzend, und hinkte ins Wirtshaus, in welchem man von meiner Ankunft so wenig als von meinem Unglücke die geringste Notiz zu nehmen schien, da mir keine Seele zu meinem Empfange entgegenkam.

Ich musste mir selbst den Weg ins Zimmer zeigen, wo ich die Wirtin in Tränen, und ein halbes Dutzend schreiender Kinder, die ihr anzugehören schienen, um sie her fand, die jedoch bei meinem Eintritt eine Pause machten.

„Na, was bringen Sie für Nachricht?“, rief sie mir entgegen.
„Ich? Nicht die allermindeste“, versetzte ich; „aber kann ich wohl ein Zimmer bekommen?“

„Alle, mein Herr“, sagte sie, in das vorige Lamento zurückfallend, „wir werden sie doch wohl nicht lange mehr brauchen.“

„Aber, mein Gott!, was ist Ihnen denn für ein Unglück widerfahren?“, fragte ich teilnehmend.

„Sie wissen also noch nichts, und ahnen auch nicht einmal, dass Sie hier in der größten Lebensgefahr sind? Denken Sie sich das Unglück“, fuhr sie fort, „vor einer Stunde ist eine Kasematte gesprengt und eine Mauer von Quadersteinen mitten auf den Markt durch das Dach eines Hauses bis in die untersten Zimmer geflogen, und hat hier ein junges Mädchen erschlagen, das gewiss den Abend nicht überleben wird. In einer Stunde nun soll eine zweite Kasematte gesprengt werden, die diesem Orte noch viel näher ist, und wobei die ganze Stadt mit auffliegen muss. Eine Deputation vonseiten der Stadt ist bereits zum Kommandanten gewesen, um ihm Vorstellungen und das Anerbieten zu machen, dass die Stadt alle Kosten der langsamen Abbrechung übernehmen wolle; allein alles Bitten ist vergebens gewesen. Der Kommandant hat schon 17.000 Pfund Pulver in die Kasematte bringen lassen, und wir erwarten nun jeden Augenblick, in die Luft gesprengt zu werden.“

„Ja, wenn das so ist“, sagte ich, und rannte zu meinem Postillion hinaus, der eben meinen Wagen wieder aufgerichtet hatte. Mit einem Satze war ich wieder darin und zur Abfahrt bereit.

„Augenblicklich“, rief ich ihm zu, „müssen wir zurück; die Stadt wird gleich in die Luft gesprengt werden; wende nur rasch um, und fahre, was die Pferde rennen können, zum Tor hinaus.“

„Ja sehen Sie nur hier, das geht nicht, wir kommen so nicht aus der Stadt“, erwiderte er mit unausstehlichem Phlegma, und wies mir zugleich einen vorhin unbemerkt gebliebenen Schaden am Wagen; „da muss der Schmied erst her, dröhnte er langsam, so geschwinde geht’s noch nicht, ich habe eben von dem Sprengen auch gehört; es wird noch wohl eine Stunde dauern; erst will ich meinen Pferden noch ein wenig zu fressen geben, und dann den Schmied hohlen.“ – „Nein, nein“, rief ich, „ich will selbst mit zum Schmied“, und bewog diesen nur durch große Versprechungen, sich in dieser allgemeinen Not meiner besonderen Notdurft anzunehmen. Er ist jetzt in voller Beschäftigung, und in dieser kritischen halben Stunde, darin alles fertig sein soll, schreibe ich dir mit pochendem Herzen und tobendem Blute, die flüchtigen Augen auf den Zeiger meiner Uhr gerichtet, die ich in meiner Linken halte.

So drehet sich des Schicksals Rad
In wunderbaren Kreisen:
Den schleudert ’s in den grausen Krieg;
Den treibt ’s hinaus auf Reisen.
Den früh erkornen Unglückssohn
Entführt ’s dem Vaterlande;
Zerrissen, ach! auf ewig sind
Die heiligsten der Bande.
Den drängt und plagt die Außenwelt;
Und diesen plagt ’s im Innern,
Der kargen Freuden, längst entflohn,
Kann er sich kaum erinnern.

Ihm raubt die kranke Gegenwart
Der Hoffnung schwächsten Schimmer;
Dem nie bisher das Glück gelacht, -
Er fühlt, dem lacht es nimmer. -

So treibt auch meinen kranken Geist
Des Arztes treuer Wille
Hieher, verheißt Genesung ihn
Durch Heilung seiner Hülle.

Das Schicksal tritt in seinen Plan;
Der Zauber ist verschwunden.
Genesung suchend hab’ ich ach!
Qualvollen Tod gefunden.
Ja der Vernichtung Schauer schleicht
Schon durch die kranken Glieder,
Und banger Zweifel quält den Geist:
Erwach’ ich einst auch wieder?
O heil’ge Stoa! gib mir Mut!
Und, die in tiefe Wunden
Oft Lind’rungsbalsam träufelte,
Und selbst die bängsten Stunden
Mit einem Rosenlicht umzog,
O Phantasie! Erhebe
Auf deinem Flügel mich, damit
Im Taumel mir verschwebe
Die kurze Frist bis zu dem Schlag,
Der bald mich wird vernichten.
Und werd ich dann - -


Pyrmont.

„Geschwind in den Wagen!“, rief der Postillion, „alles ist fertig!“, und ich flog vor ihm her, die Treppen hinunter, meinen unvollendeten Schwanengesang in der Hand, warf mich in den Wagen und befeuerte meinen Führer durch goldne Verheißungen zur möglichsten Eile.

„Halt!“, rief eine Schildwache, und hielt das Gewehr vor, als er im Begriff war, auf eine Brücke hinaufzufahren; „on ne passe pas ce pont, il faut retourner.“

„Um alles in der Welt willen, lasst uns hinüber; ich darf mich nicht aufhalten“, rief ich ihr zu. – „Geben Sie ihm ein Trinkgeld und lassen das Reden nur sein“, ermahnte mich mein Postillion. Ich befolgte seine Lehre, und dies wirkte auch sofort.

„Passez donc“, rief der Soldat, und der Postillion fuhr langsam die hohe, sich in einem Bogen über den Fluss hebende Brücke hinauf.

„Fahr zu, fahr zu!“, rief ich im ängstlichen Bewusstsein, der Gefahr noch nicht entronnen zu sein; aber kalt erwiderte er: „Das kann nicht angehen, die Brücke ist nicht sicher und gar nicht für Fuhrwerk, sondern bloß für Fußgänger eingerichtet. Ich schloss meine Augen, um wenigstens meinen Fall nicht mit anzusehen, besann mich aber im Augenblick, sprang zum Wagen hinaus, und rief dem Postillion zu, dass ich vorausgehe und er folgen solle. Unter mir Wasser- und hinter mir Feuergefahr – denn ich erwartete noch jeden Augenblick die Explosion, welche die Stadt in die Luft sprengen würde – beförderte ich meine Schritte in möglichster Schnelle vorwärts, ohne mich ein einziges Mal umzusehen.

Lange hatte ich Brücke und Stadt im Rücken, und mochte eine halbe Stunde fortgelaufen sein, als ich mich erst vor Feuer und Wasser sicher hielt, und nach meinem Wagen umschauete. Ich hoffte, ihn nahe hinter mir zu finden, allein ich wurde getäuscht. Lange stand ich, ihn erwartend; allein nichts wollte sich erblicken lassen, das nur entfernt einem Wagen ähnlich sah.

„Ist dies der Weg nach Ertzen?“, fragte ich eine alte mir entgegenkommende Frau.

„Ach Gott, nein!“, erwiderte sie, „dieser geht nach …“, der Himmel weiß, was für ein unbekanntes Nest sie nannte; „nach Ertzen geht der Weg ganz rechts; wenn Sie dahin wollen, sind Sie ganz vom Wege abgekommen.“

Ärgerlich über mich selbst und dann wieder über meinen Postillion, stiefelte ich nun querfeldein, um wieder in den rechten Weg zu kommen, und langte endlich, in Schweiß gebadet, in Ertzen an, wo mein Postillion eben anspannte und im Begriff war, ohne mich wieder davonzureisen. Ich strömte meine unwillige Laune über ihn aus, allein er wendete das Blatt, und richtete sein Zürnen wider mich, dass ich nicht den rechten Weg wieder zurückgegangen sei, den er doch beachtet habe. Was sollte ich machen? Ich musste schon nachgeben und mich schweigend mit meinem Unwillen beschäftigen. Ich warf mich in die Ecke meines Wagens und sank nach allen diesen Erschöpfungen bald in einen sanften Schlummer, der mir auch die Freuden einer ruhigen Nacht nicht störte, nach welcher ich, merklich erheitert und erquickt, am andern Morgen wieder erwachte.

Kaum hatte ich meine Toilette beendigt, als es schon an meiner Tür pochte, die sich auch, ohne dass mein Ruf zum Eintritt abgewartet wurde, öffnete.

„Endlich komme ich doch recht“, sagte das kleine niedliche Kammermädchen, indem es zu mir in die Stube trat, und ein ziemlich starkes Bündelchen, das ihre irdischen Habseligkeiten enthielt, unter dem Arme trug, „ich habe Sie seit diesem Morgen gesucht und nicht auffinden können. Ach! mein Herr, Sie haben mich sehr unglücklich gemacht. Durch Ihr Hereinbrechen in das Schlafzimmer meiner Gebieterin und durch die sonderbare Attitüde, worin man Sie mit mir fand, bin ich bei ihr in den Verdacht eines Verständnisses mit Ihnen gekommen, den meine heiligsten Beteuerungen ihr nicht auszureden vermocht haben.“ Ihre Tränen flossen und hemmten ihre Sprache. Die ganze nächtliche Szene stand wieder vor meinen Blicken da, dieselben Empfindungen wiederholten sich in mir.

Noch, rief ich, glüht es mir in allen
Fingerspitzen,

Wie in der unglücksel’gen Nacht,

In der ich Dich, - ich Armer!
missgeleitet, -

Um Glück und Ruh’ und selbst um Deinen
Ruf gebracht!

Ha! kann die Bosheit denn die Unschuld
so verlästern,

Dass man den Zufall gar Dir zum Verbrechen macht?

Und doch ließ er Dich kalt; nur mich durchglüht ein Feuer,

Das schadenfroh er angefacht.

Du hast auch nicht entfernt die Sittsamkeit beleidigt,

Du standst, - so hätte dort Madonna
können stehn,

Bis an den Fuß verhüllt, durch das Gewand
verteidigt, -

Der Frevel hätte selbst die Heil’ge nur
gesehn!

„Ja“, unterbrach sie mich, „das alles habe ich meiner Gebieterin auch vorgestellt; allein dessen ungeachtet, und trotz meinen inständigsten Bitten hat sie mich schon gestern ihres Dienstes entlassen, und da Sie, mein Herr“, setzte sie mit einem Jammerblick hinzu, „die einzige Ursache meines Unglücks sind, so wende ich mich an Sie um Hilfe, weil ich sonst in diesem fremden Ort keine Seele kenne, und mir weder zu raten noch zu helfen weiß.“

„Großer Gott!“, sagte ich, „ich selbst bin hier der Hilfe so bedürftig, dass ich es bei dem besten Willen, Ihnen, mein schönes Kind, zu helfen, nicht anzufangen wüsste.“

Aber ich werde hier doch Bekanntschaften haben und durch irgendeine Fürsprache bei einer meiner Freundinnen ihr wieder zu einem Unterkommen behilflich sein können, meinte sie.

„Auch nicht einen einzigen Menschen kenne ich hier, und habe auch so wenig Neigung, eine Bekanntschaft zu machen, dass ich auf dem Punkt stehe, diesen unglückseligen Ort zu fliehen, und zurück in meine Heimat zu reisen.“

„Gewiss“, sagte sie, „würden Sie es nicht übers Herz bringen können, mich hier mir selbst zu überlassen, da ich doch einzig auf Ihre Veranlassung, wenngleich ohne Ihre Schuld, in diese traurige Lage gekommen bin. Sie haben mich ins Unglück gebracht, von Ihnen erwarte ich Hilfe und mein ferneres Unterkommen. Ich verlasse Sie nicht“, setzte sie hinzu und legte ihr Bündelchen nieder, als ob sie dadurch den Mitbesitz meiner Wohnung förmlich ergreifen wollte.

„Nein“, rief ich, „schönes Kind“ – und
mich ergriff ein Beben! –

„Bei allen Göttern! Nein, es geht
um keinen Preis!

Ich seh Dich schlafen, seh des
Busens Reiz sich heben; –

Die Aussicht der Gefahr macht
mich schon glühend heiß.

Mit einem Krankenpass vom Arzte
hergetrieben,

Und durch sein Machtwort hier
verdammt zur Wasserkur,

Ist doch für Schönheit mir der
zarte Sinn geblieben,

Bei kranken Nerven ach!
gefahrenvoller nur.

Auch waltet über mir in diesen
Unglückstagen

Ein feindliches Gestirn und droht
mir Untergang.

Wie sollt’ ich Unglückssohn, an
Leib und Seele krank,

Zum Kampfe, der mich sucht,
den selbst gewählten wagen?

Einst konnt’ ich kühn, wie Du,
mit meiner Tugend prahlen,

Ich trotzte der Gefahr, sprach der
Versuchung Lohn.

Keck wagt’ ich an die Wand den
bösen Geist zu malen.

Jetzt ist zum Widerstand mir
Kraft und Mut entflohn.

Der kleinste Funke bringt mich
Schwächling jetzt zum Brennen;

Um nicht zu brennen, Kind, ist ’s
Pflicht, dass wir uns trennen.“

Sie hatte nicht diesen hohen Begriff von der Pflicht, den ich ihr durch mein Pathos vergebens beizubringen suchte.

„Ist es denn nicht hier, so werden Sie mich bei sich zu Hause doch irgendwo unterbringen können. Vielleicht sind Sie verheiratet, und Ihre Frau Gemahlin bedarf noch einer weiblichen Hilfe. Ich will mir gern alles gefallen lassen. Sie reisen ja doch allein, und es wird Ihnen also noch gesellschaftlich sein“, setzte sie mit fragendem Blicke hinzu.

„Großer Gott! Bedenken Sie selbst, liebes Kind, mit Ihnen zu meiner Frau zu reisen!“, fiel ich ihr ein. „Sie kennen die Menschen noch wenig. Meine Frau ist eine vortreffliche Frau, aber wenn ich mit einem so hübschen Kinde, wie Sie, angereiset käme, bedenken Sie selbst! Nein, nein, es ist unmöglich, rein unmöglich!“

Das Gemälde meiner Ankunft, – die großen Augen, die meine Frau machen würde, mich in dieser Begleitung aussteigen zu sehen, – die Verlegenheit, die mich treffen würde, ihr das in der Kürze zu erzählen, – der Zwang, in dem ich mich, von ihr bedachtet, finden würde, das alles drängte sich mit Gewalt in ein so verworrenes Bild vor mir zusammen, dass ich, um sie nur von dieser gefährlichen Idee abzubringen, tröstend sagte: „Es wird sich alles finden, liebes Kind, und jetzt, fällt mir ein, kann ich doch wenigstens einstweilen für Ihr Unterkommen sorgen.“

Das leere, für meinen Bedienten bestimmte Zimmer wollte ich beziehen, und Ihr das meinige lassen; allein sie gab es nicht zu, ich wies Ihr also jenes an, und war so wenigstens zu einer augenblicklichen Befreiung aus der Gefahr und zu einer vorläufigen Erfüllung ihres Wunsches gekommen.

Da ich sie eingeführt hatte, und einsah, dass ich nun doch nicht ganz von hier reisen konnte, bevor ich für diese Leidträgerin eine Versorgung ausfindig gemacht hatte, auch die plötzliche Aufwallung des ersten Unwillens, die mir diese Idee in den Kopf brachte, schon vorüber war, so beschloss ich, einstweilen mit Ernst aus dem Quell des Lebens zu trinken.

Ohne Vorschrift meines Brunnenarztes wagte ich es jedoch nicht, den ich, um ihn nicht zu verfehlen, auf meinem Zimmer erwarten zu müssen glaubte. Von der hohen Zinne meiner Wohnung sah ich das bunte Gewühl der zum heiligen Quell und von da Zurückwandelnden, sie um die Kühlung der hohen schattenden Linden aus meinem Treibhause beneidend, in welchem ich an der glühenden Hitze unaussprechlich litt, die ihm die direkten Sonnenstrahlen mitteilten, in deren Brennpunkte ich mich befand. Nach und nach nahm das Gewühl wieder ab, und nur hie und da kam noch ein einzelner verspäteter Kurgast in großen Zwischenräumen zum Vorschein und wiederholte seinen Trunk.

Ungeduldig schritt ich indessen in meinem Zimmer auf und ab, zum Ausgehen bis auf den Wink des Arztes, der mir dazu die Erlaubnis geben sollte, fertig, und von den Qualen der Ungeduld und des vergebenen Wartens schmerzlich gepeiniget.

Mein Verdruss über sein Ausbleiben stieg bei jeder Täuschung, die mir bald durch das Klopfen eines Barbiers, der mich zu rasieren Lust bezeugte, bald durch den Friseur, der mich Haarlosen pudern wollte, bald wieder durch den Tafeldecker ward, der meine Erklärung, ob ich an der Table d’hôte speisen würde, begehrte.

Ein rasches helles Läuten gab plötzlich meinen Ideenschwingungen eine andere Richtung, und mir fiel – der Himmel weiß, durch welche zufällige Kombination der Ideen, – das Comptoirbuch meines längst in Gott selig entschlafenen Großvaters ein. Omnia cum Deo, et nihil sine eo: Alles mit Gott, und nichts ohne ihn, – stand mit großen roten Buchstaben auf dessen erster Imperial-Folio-Seite, und diese standen in demselben Augenblicke ebenso groß und rot vor meiner Seele da.

„Omnia cum Deo, et nihil sine eo“, wiederholte ich laut! Wie, wenn du nach altväterlicher frommer Sitte auch diese wichtige Kur durch Teilnahme an dem Gottesdienste anfingest? Ein religiöses billigendes Gefühl stieg in mir auf, ich vergaß meinen Arzt sowie den Zweck meines bisherigen Zuhausebleibens, griff eilig nach meinem Hut, trabte spornstreichs meine sechs Treppen hinunter ins Freie, blickte in alle vier Winde nach einem Kirchturm, und da sich nichts dem Ähnliches meinen suchenden Augen darbieten wollte, so erkundigte ich mich bei dem ersten besten weiblichen Geschöpfe, das mir in den Wurf kam, nach dem Wege zur Kirche. Sie hieß mich eine lange Straße nur so weit verfolgen, bis ich auf die Kirche selbst stoßen würde. Die Reise war ziemlich weit, aber ich gelangte infolge dieser Nachweisung doch glücklich zum Ziele.

Totenstille herrschte in der Umgebung sowohl als im Inneren.

Ich horchte, ob vielleicht schon gepredigt würde; aber kein Laut ließ sich hören.

„Abermals zu spät gekommen; die Predigt wird bereits angegangen sein, und man betet das Vaterunser“, sagte ich zu mir selbst, „indessen da du hier nicht bekannt bist, so kannst du dich immerhin leise auch während des Gebets hineinschleichen.“

Vorsichtig bog ich mit meiner ganzen Kraft den Drücker der Kirchentür nieder, aber vergebens, sie ging nicht auf.

„Den Augenblick! Verziehen Sie nur ein klein wenig!“, rief ein Knabe mir zu, indem er in vollen Sprüngen vom Kirchhofe hinunter und in ein nahes Haus rannte. In weniger als einer Minute nachher trabte ein Mann mit einem großen Bündel Schlüssel heraus, der sehr eilig zu sein schien, indem er auf dem Wege zu mir seinen Rock anzog und zugleich in der Verbeugung, die er mir machte, seiner Perücke eine feste Situation zu geben suchte.

„Ich muss recht sehr um Verzeihung bitten, dass ich Sie so lange habe warten lassen“, redete er, in gebückter Stellung zur Kirchtür rennend, mich an, öffnete sie mit großer Hast, und ließ mich vor sich hineintreten.

„Ich bin noch viel zu frühe gekommen, wie ich sehe, und ich glaubte, ich käme schon zu spät“, redete ich ihn an.

„Im Mindesten nicht“, erwiderte er, „ich bin zu jeder Zeit zu Hochdero Befehl“, und nun begann er mir ein Langes und Breites von dem Ursprunge der Kirche und deren Dotationen zu erzählen, hie und da etwas Unbedeutendes als merkwürdig zu zeigen, von gestorbenen und begrabenen Brunnengästen zu berichten, und, der Himmel weiß, was sonst noch alles zu demonstrieren, so dass ich denn bald dahinter kam, wir beide wären aus zwei ganz verschiedenen Ursachen hier: er, um mir die Merkwürdigkeiten und Nichtmerkwürdigkeiten seiner Kirche für die Gebühr zu zeigen, und ich, um mich an einer Predigt zu erbauen, von der ich hier gerade etwas Vorzügliches erwartete.

„Ist denn die Kirche schon aus, oder geht sie noch erst an? Und wird das bald sein?“, fragte ich endlich, halb unwillig und in verdrießlichem Tone über meine Täuschung und über seine langweiligen Erzählungen.

„Halten zu Gnaden“, erwiderte er, „heute ist kein Gottesdienst. Ihr Gnaden haben sich vermutlich im Tage geirrt, es ist heute erst Sonnabend. Mich befremdet das auch ganz und gar nicht; bei der Brunnenkur passiert ein solcher Irrtum sehr leicht; das Wasser ist höchst kräftig, es greift die Organe des Kopfes wirklich an; man nennt das den Brunnenrausch, ich habe davon mehrere sonderbare Erfahrrungen gemacht, aber“, setzte er tröstend hinzu, „das hat nichts zu bedeuten; es pflegt sich nach einiger Zeit ganz wieder zu geben.

„Herr, ich bin, gottlob!, noch nicht toll“, stieß ich heftig heraus; „ich habe das Läuten vernehmlich gehört, ich fragte darauf selbst nach der Kirche, und da hat man mich hieher gewiesen. Etwas auffallend war es mir freilich gleich, dass sie nach dieser Gegend her sein sollte; denn das Läuten schien mir mehr rechts zu sein. Aber ich bin hier unbekannt, und alsdann ist ein solcher Irrtum leicht möglich. Sind denn etwa mehrere Kirchen hier und wird in der andern vielleicht gerade jetzt Gottesdienst gehalten?“

„Nein, erlauben Sie gütigst“, sagte er etwas schüchtern; „es ist vermutlich die Spielglocke gewesen, die Ihr Gnaden gehört haben; um diese Tageszeit pflegt das Spiel im Ballsaal anzugehen, und das wird jedes Mal durch die Bewegung einer Glocke angezeigt. Das bemerkte wenige“, setzte er hinzu, wahrscheinlich um mich Hitzkopf mit guter Manier wieder loszuwerden, „ist übrigens alles, was hier Merkwürdiges zu sehen ist, womit ich gnädigst fürlieb zu nehmen bitte.“ Ich verstand die Erinnerung und begriff es nun, dass der Mann an meinem Irrtum unschuldig war, belohnte ihn für seine Mühe und trat meinen Rückweg an.

Unterwegs versuchte ich es, mir selbst den Verdruss über diese Täuschung sowohl als über die abermalige unnütze Ausgabe auszureden, womit es mir aber so wenig gelang, dass ich durchaus keinen andern, als den armseligen Trostgrund des ersparten Klingelbeutelgeldes aufzufinden wusste, wobei ich mich jedoch notgedrungen niedergab.

Bei der Ankunft vor meinem Zimmer erfuhr ich von dem Bedienten meines Nachbars, dass soeben der Arzt zu mir gewollt habe, und von neuem wallte der kaum niedergeredete Verdruss über meinen vergeblichen Gang zur Kirche wieder auf. In der Allee hatte ich es stille gefunden; das Spiel meide ich, weil ich während der Kur nach Vorschrift meines Arztes alle Passionen ruhen lassen und nur vegetieren soll. Ich setzte mich also nieder, um meinen Freunden, die mich hieher geschickt hatten, meine glückliche Ankunft zu melden. Ziemlich weit war ich damit bereits gekommen, und fühlte mich merklich erheitert, als mit einem Male die verwünschte Glocke abermals zu meinen Ohren drang.

„Läute du nur zu“, rief ich; „mich wirst du nie verleiten, nur einen Schritt deines unsauberen Lockens wegen aus dem Hause zu tun. Spielt ihr in Gottes Namen, soviel ihr wollt; ich werde mich dadurch nicht irremachen lassen; ich will unterdessen etwas Besseres tun, und mir bis zur Mittagsmahlzeit die Ruhe geben, die ihr euch durch euer die Leidenschaften erhitzendes Geschäft so mutwillig raubt.“

Dieser Vorsatz gelang mir leicht, und ich erwartete, dann nach einer ziemlich langen Ausführung desselben, sehnsuchtsvoll und mit hungrigem Magen die Ankunft eines Marqueurs, der mich zur Tafel einladen sollte. Meiner Ungeduld und meiner Esslust dauerte es jedoch zu lange, und ich machte mich endlich auf die Beine, um unten im Hause zu rekognoszieren.

Beim Heraustreten aus meinem Zimmer fiel es mir zufällig ein, nach dessen Preise zu sehen. Meine Neugierde blieb aber unbefriedigt; denn ich fand über der Tür neben der Nummer auch die Worte der Woche – und des Tages, auf welche es vermietbar sei, sehr leserlich geschrieben; aber die Preise, die vorhin dabei gestanden hatten, waren total ausradiert.

Ich freuete mich dieser Entdeckung aus dem doppelten Grunde, weil ich mich nun nach dem Preise erkundigen konnte, der mir ohne diese Entdeckung im Voraus willkürlich wäre vorgeschrieben gewesen, und weil ich auch, wenn der geforderte mir etwa zu hoch wäre, meine Wohnung, die auch tageweise vermietet wurde, jeden Tag verlassen könnte. Schneller setzte ich nun meine Reise hinabwärts fort, und begegnete auf der letzten Treppe einer Art von Hausknechte, der hier einheimisch zu sein schien.

„Um welche Uhr wird hier gespeiset?“, redete ich ihn an.

„Um halb neun Uhr“, war seine Antwort.

„Erst zu Mittag?“, rief ich verwunderungsvoll.

„Nein“, erwiderte er, „zu Abend. Zu Mittag wird um ein Uhr geläutet, und die Mittagstafel ist vor etwa einer Stunde aufgehoben worden.“

„Geläutet“, rief ich verwunderungsvoll, „wird ja zum Spiel.“

„Und zum Essen“, entgegnete er, „eins und das andere richtet sich nach der Tageszeit.“

„Verdammt!“, platzte ich unwillig heraus, setzte meinen Gang, die liebe lange Zeit bis zur Abendmahlzeit traurig berechnend, langsam fort, und fasste den Vorsatz, vor allen Dingen die Gewohnheiten dieses Ortes zu studieren, worüber doch irgendwo Belehrungen angeschlagen sein würden.

Ich erfuhr nun, ohne mir etwas von meiner ungleich versäumten Mittagsmahlzeit merken zu lassen, auf Befragen, dass mein Zimmer die Woche fünf und einen halben Taler koste, aber auf Tage gar nicht vermietet werde.

„Aber es steht doch über der Tür“, sagte ich. Dessen ungeachtet, hieß es, könne man sich darauf nicht einlassen. Ich hatte also zwei Zimmer auf eine Woche zu bezahlen, und musste demnach meinen Vorsatz, das eine, mir hoffentlich bald nicht mehr brauchbare wieder aufzusagen und nur bis dahin zu bezahlen, abermals rein bei mir behalten.

Jetzt sah ich mich allenthalben nach einer Affiche um, die ich denn auch bald entdeckte. Sie enthielt die Brunnengesetze. Ihr Anfang gab das Versprechen eines sichern, ruhigen und angenehmen Aufenthalts sowohl als einer zuvorkommenden Begegnung, und enthielt, um solche zu erreichen, die menschenfreundliche Aufforderung an alle hier eintreffende Fremde, diese Ruhe nicht zu stören, sondern dazu mitzuwirken. Dann folgten Nachweisungen und Vorschriften. Unter anderem hieß es darin: Livree Bediente und andere nicht anständige Personen dürften die Hauptallee nicht betreten. War ich nun einer der anständig gekleideten oder nicht, das war ein bedenklicher Zweifel, den ich mir nicht zu lösen wusste; zumal ich mir bewusst war, dass mancher Bediente ohne und mit Livree leicht besser gekleidet sein mochte, als ich es in meinem sehr einfachen blauen Rocke war, den bloß ein etwas ausgeblichener roter Kragen zierte.

Nicht ohne mich recht zusammengenommen zu haben, wagte ich mich ungeachtet dieser bedenklichen Zweifel endlich, nachdem ich in den Nebenalleen mich ein paarmal auf- und abgeführt hatte, mit meiner Person in die Hauptallee unter die dort Lustwandelnden, weil es mir zum Glück einfiel, dass ich noch immer meinen Pass bei mir trug und mich dadurch nötigenfalls legitimieren konnte, wenn meine Kleidung nicht gehörig kostümiert befunden werden sollte. Aus Vorsicht hielt ich mich indessen nahe an den Bäumen, um im Notfall, wenn ich merkte, dass man mich zu den Ungeweiheten rechnen würde, mich gleich in die Nebenallee zurückziehen zu können.

„Was sind das?“, hörte ich einen wahrscheinlich ebenso neuen Kurgast, als ich es selbst war, einen andern hier schon bekannteren, der neben ihm ging, fragen. „Was sind das für Leute, die dort in gleichfarbiger grüner Kleidung, mit dem Blech am Hute das Pflaster treten?“

„Alleevögte“, erwiderte der andere, „und ihr Amt ist, die Allee rein zu halten, und auf die Ordnung in derselben zu achten.“

„Das sind sie also“, sagte ich, mich selbst warnend, „von denen du, wenn du hier nicht auf rechtem Wege bist, eine Zurechtweisung zu besorgen hast“, und behielt sie fortwährend im Auge, um beizeiten ausweichen zu können, wenn ich etwa merken sollte, dass sie einen pflichtmäßigen Angriff auf mich machen wollten. Da ich jedoch deutlich sah, dass sie mich wahrnahmen, und da sie dennoch keine gefährliche Miene gegen mich machten, so ging ich beruhigter weiter; aber kaum hatte ich zwanzig Schritte getan, und sie, rechts meine Augen an dem bunten Gewimmel der Vorübergehenden weidend, aus der Acht gelassen, als ich plötzlich links einen dieser gefürchteten Männer mit aufgehobenem Stocke und schnellen Schritten auf mich zueilen sah.

„Na!“, stieß ich unwillkürlich heraus, und trat einige Schritte rückwärts, als sich der aufgehobene Stock desselben dichte neben mir senkte, und ein Paar von mir übersehene unschuldige Möpse ziemlich unsanft traf, die, mit den Brunnengesetzen völlig unbekannt, neben mir ihre unschuldigen Sprünge trieben. Noch eiliger als ich, da sie schon empfunden hatten, was ich nur besorgte, begaben sie sich mit mir zugleich auf die Flucht, richteten aber, in der damit verbundenen Bestürzung sowohl von ihrer als von meiner Seite, unter meinen Beinen eine solche totale Verwirrung an, dass ich bei der doppelten Bemühung, ihnen kein Leid zuzufügen und mich selbst doch mit ihnen zugleich zu retten, ins Stolpern kam, und mich kaum nur noch dadurch vor dem nahen Falle schützte, dass ich mich an einem Baum begriff. Aber neuer Unfall! Ich mochte es zu ungestüm tun, denn ich riss dem Kupferstichhändler, der seine Stücke, um sie den Augen der Vorübergehenden so nahe als möglich zu bringen, an die Bäume der Allee geheftet hatte, in der ängstlichen Hast eins derselben beinahe mitten voneinander, und wurde nun von diesem wegen der Bezahlung in Anspruch genommen. Ich protestierte zwar sofort auf die gesetzlichste und feierlichste Weise von der Welt gegen dieses Ansinnen, und suchte ihm mit juristischen Gründen ans Herz zu legen, dass der Vorfall ohne meine Schuld, und lediglich durch einen Umstand, der nur unter die Kategorie des Zufalls zu rechnen sei, veranlasst worden, und dass ebendarum sowohl nach dem allgemeinen Römischen Rechte als nach dem neuen Kode eben des großen Mannes, dessen Bildnis er da unter so mannigfachen Formen zu Kauf stelle, dieser zufällige Schaden von ihm, als dem Herrn des Kupferstichs, zu tragen sei. Allein er bestand hartnäckig auf seinem Sinn und meinte, dass der Vorfall sich nicht ereignet haben würde, wenn ich besser auf den Beinen gewesen wäre. Und da ich, setzte er hinzu, wie schon an diesem Vorfall selbst abzunehmen sei, sicherlich die hiesige Kur wegen Beinschadens gebrauchen müsse, so werde diesem Vorfall einzig und allein der Ungelenkheit meines Unterparlements, wie er es spottend zu nennen beliebte, zuzuschreiben sein. Ich war im Begriff, ihm zum Zweck des Gegenbeweises sofort eine Untersuchung durch Kunstverständige über meine Beine vorzuschlagen, und ihm dabei auseinander zu setzen, dass nichts weniger als ein so tiefes, sondern ein hohes, ein wirkliches Kopfübel mich hieher geführt habe, – als ich bemerkte, dass der Streit bereits eine ziemliche Menge von Kurgästen zu uns herangeführt hatte, die einen Zirkel formierten, der sich mit jedem Augenblick stärker und enger um uns schloss. Bei so bewandten Umständen hielt ich es fürs Sicherste, mich ihren Augen zu entziehen, bezahlte ihm die fünf Reichstaler für das verletzte Stück, als den bloßen Einkaufspreis desselben, wie er heilig versicherte, schied eiligst von dannen, und schlug den ersten Seitenweg, der zur Hauptallee hinaufführte, in eine Nebenallee ein, in der ich vor allen ähnlichen Unglücksfällen mich völlig sicher hielt, da ich darin den einzigen Lustwandelnden machte.


Ist ’s doch, als hatte man sich
wider mich verschworen.

Ich seh ’s, rief ich, ich bin zum
Leiden auserkoren.

Die kranke Phantasie, mit jedem
Tage milder,
Sie schreckte, quälte mich vorhin.
durch trübe Bilder.

Mich ihrer Marter hier zerstreuend zu entziehn,

Hieß mich Bedrängten man zu
diesem Orte fliehn.

Hier wurde Ruhe mir, hier
Linderung versprochen;

Und Foltern warten mein, als
hätt’ ich schwer verbrochen.

Nichts ist es, als ein Tausch,
der mir Vernichtung dräut:

Phantom war meine Qual, hier
Ward’s die Wirklichkeit.


„Das nenn’ ich mir eine schöne Ruhe, die in den Brunnengesetzen den Kurgästen verheißen wird“, setzte ich boshaft hinzu, „ja, wenn ich durch Ärger geheilt werden könnte, dann wäre meine Kur hier möglich; sonst wahrlich in Ewigkeit nicht. Wohl!“, nahm ich mir vor, „um all diesem Übel zu entgehen, das mich in Gesellschaft der Menschen treffen kann, will ich fortan in diesen unbesuchten Alleen meinen Weg allein für mich hin wandeln, und philosophisch, mir selbst genug, meine eigene Welt sein!

In diese Betrachtungen vertieft, schlenderte ich fort und stieß auf einen Menschen, der neben einer großen Stange stand, auf die mich mein Weg zufällig geführt hatte. Ich stand bereits neben ihm, ohne ihn bemerkt zu haben. Aber selbst in dem Augenblicke, da ich seiner Existenz innewurde, sagte er: „So, wenn Ihnen gefällig ist?“, und gab mir einen Strick in die Hand. „Sie zielen nun nach dem Mittelpunkt der Scheibe.“ – „Was soll denn das?“, sagte ich, und ließ unwillkürlich den dargebotenen Strick los. Das Losgelassene schlug an eine Scheibe, und es gab einen Knall.

„Magnifique! Exzellent!“, sagte der Patron; „gleich bin ich wieder da“, und lief zur Scheibe, während ich verwundert stehen blieb, ohne begreifen zu können, was denn so exzellent und magnifique war. Die Neugier hielt mich, statt dass ich auch hier gleich hätte weitergehen sollen, und mein Mann, der eine Pistole zu laden schien, brachte mir außer Atem den Strick wieder und versicherte mir untertänigst, dass schon viele hohe Herrschaften dies Jahr sich exerziert haben, aber dass noch keiner so glücklich gewesen sei, beim ersten Wurfe, gleich mir, das Zentrum zu treffen, und er es wohl einsehe, dass ich kein Laie sei, sondern es schon oft exerziert haben müsse. Ich versicherte ihm so ehrlich als ich konnte, dass es nicht der Fall sei, ja dass ich sogar nicht einmal wisse, wovon hier eigentlich die Rede sei, wodurch er sich denn bewogen fand, mir umständlich zu erzählen, wie vermittelst eines bleiernen Vogels an einer Leine das Zentrum einer Scheibe zu treffen versucht werde, dass, werde es getroffen, alsdann dadurch eine Pistole abgedrückt werde, und dass, weil ich gleich zum ersten Male das Zentrum getroffen habe, derjenige bewunderungswürdige Effekt hervorgebracht worden sei, über den er sich von seinem Erstaunen noch nicht erholen könne. Ihro Durchlaucht haben dies öffentliche Vergnügen zum Divertissement der vornehmen Kurgäste verordnet, setzte er mit einer so ehrerbietigen Verbeugung, die aber nicht mir, sondern seinem gnädigsten Landesherrn galt, hinzu, dass ich es unmöglich unerwidert lassen konnte.

„Es ist sehr gütig von Ihro Durchlaucht“, versetzte ich, und da ich mir doch vorgenommen hatte, mich auf meine eigene Hand zu amüsieren – es auch nichts kostet, flüsterte mir die Sparsamkeit zu – so ließ ich es mir wohlgefallen, meinen bleiernen Vogel die Reise zur Scheibe ein Mal über das andere machen zu lassen, um den Effekt durch die Kunst wieder hervorzubringen, den der Zufall meinem ersten Wurfe gegeben, und den mein Begleiter so bewunderungswürdig gefunden hatte.

Endlich gelang mir, nach einer mehr als halbstündigen Bemühung dieser mein vorgesetzter Zweck, und da mein Unbekannter es sich dabei so sauer hatte werden lassen, so hielt ich es für billig, ihm im Gegensatze zu seinem gezeigten guten Willen auch den meinigen darzulegen, und drückte ihm eine Kleinigkeit in die Hand.

„Erlauben Sie,“ sagte er, und öffnete sie langsam; „ich will nur nachrechnen, ob Sie noch etwas herausbekommen. Nein“, setzte er hinzu, „es wird noch nicht genügen. Vierundfünfzig Würfe, die Sie machten, betragen à einen Groschen – mithin würde ich noch zu erhalten: – doch rechnen Sie selbst.“

„Ja, ja,“, sagte ich unwillig und gab ihm mehr als er forderte, weil mir Kaltblütigkeit und kleines Geld fehlte.

„Aber angeschlagen sollte es denn doch sein“, setzte ich brummend hinzu, „damit man nicht so angeführt würde.“

„Erlauben Sie“, entschuldigte er, aber ich war viel zu erbost, um das Übrige verstehen zu können. Ich hörte ihn nicht an, sondern eilte ins weite Feld mit dem festen Vorsatze, von nun an durchaus mit keiner lebendigen Seele ein Sterbenswort zu reden, sondern stumm wie ein Fisch mich bloß mit mir selbst zu unterhalten, und einzig mir selbst zu leben.

Weit hinein wanderte ich ins Feld, um mein tobendes Blut abzukühlen, und allem auszuweichen, was mir in den Weg kommen könnte. Lange ging ich die Kreuz und in die Quer, bis der Zufall mich in einen Steinbruch führte. Gedankenlos trat ich an den Rand und schauete von oben in die Tiefe hinunter, mochte aber aus Unachtsamkeit zu weit an die von unten ausgehöhlte Oberfläche hinausgetreten sein, denn im Nu fuhr der Erdboden unter mir dahin, und ich mit ihm unter einem Geprassel von mich begleitenden Steinen in die Tiefe hinunter.

Glücklich genug kam ich indessen das Mal mit dem Schrecken und einigen leichten Kontusionen davon, und ließ mich, um auszuruhen, auf einer Art von Leichenstein nieder, der mir nicht weit davon einen Sitz darbot.

Zufällig entdeckte ich darauf eine nur halb leserliche Aufschrift, von der ich jedoch so viel enträtseln konnte, dass hier eine Merkwürdigkeit sei, die durch diesen Stein angedeutet werde. Von Natur mit einer ziemlichen Dosis Neugier, die mein seliger Vater für ein Erbteil meiner Mutter hielt, begabt, und obendrein von jeher ein großer Freund von Altertümern, sah ich mich forschend nach so etwas um, und erblickte in einem Winkel des Steinbruches eine geräumige neu gemauerte Öffnung. Ich sehnte mich nach einer näheren Untersuchung dieser Merkwürdigkeit, und doch besorgte ich eine neue Szene von widrigen Ereignissen, die hier zu meinem Schicksale zu gehören schienen.

Am Eingang stand ich so, und mit
mir selber kämpfend,

Trieb mich bald Neugier vor, Besorgnis
bald zurück.

Stand jetzt mein Missgeschick, die
Neugier mächtig dämpfen,

Mir drohen vor; – gleich wirkt der
Hoffnung Zauberblick.

Gebot mein Genius mir, plötzlich umzukehren;

Hielt unbeweglich sie den aufgehobnen
Fuß.

Ich strebt’ umsonst, von mir die
Täuschung abzuwehren,

Mein harr’ auf diesem Weg’ ein
seltener Genuss.

Äneas stand vor mir, wie ihn in
die Spelunke

Mit Dame Dido einst ein
Hagelwetter trieb,

Und der zur Flamm’ emporgeschlagne
Liebesfunke

Den ersten Funken dort zum künft’gen
Holzstoß rieb,

Auf dem die Heldin sich, im Gram
verschmähter Liebe,

Als treulos sie der Held im
Wittwenstande ließ,

Damit sie treuer ihm, als ihr der
Frevler bliebe,

Mit eigner Hand den Dolch in ihren
Busen stieß.

Ihr Bild hielt mich zurück. Doch als
ich überdachte,

Wie er mit vielem Glück die Schelmerei
dort trieb,

Auch sein Gewissen ihm einst keinen
Skrupel machte,

Ja, dass ihm, nach wie vor, des
Frommen Name blieb;

Da schritt ich rasch hinein mit so
gestähltem Mute,

Ein gleiches Abenteu’r im Notfall
zu bestehn.

Den Schatz zu finden, fehlte es an
der Wünschelrute;

Dem Schicksal musst’ ich drum hier
blind entgegengehn.

Nachdem ich mich allenthalben spähend umgesehen, und mich fest überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe sei, der mich bemerke, und dass ich das Abenteuer ohne Kosten werde bestehen können, so trat ich schleichend in das Dunkel hinein. Ich hoffte, bei einigem Vordringen wieder Helle zu finden; kaum aber mochte ich ein Dutzend Schritte gegangen sein, als ich plötzlich meine Besinnung verlor, so dass ich weder etwas von dem weiß, was weiter mit mir vorging, noch auch, wie lange ich mich in diesem Zustande der Bewusstlosigkeit befunden haben mag.

Als ich meine Augen aufschlug, befand ich mich entkleidet, unter den Händen mehrerer Menschen mit entblößten Armen, gerade als wenn man etwas schlachten will, – der Länge nach auf einen Tisch hingestrecket, in einer solchen Lage, als ob ich geschlachtet werden sollte. Und da ich daraus vermutete, dass ich unter die kannibalischen Hände der Bewohner dieser Mordhöhle geraten sei, so schloss ich – zumal es schon bis zum letzten Akte mit mir gediehen zu sein schien, und es unmöglich war, mir in diesem Zustande noch etwas Weiteres als das Leben nehmen – um wenigstens den Todesstoß, den man mir meiner Meinung nach eben beizubringen vorhatte, nicht selbst mit anzusehen, in philosophischer Resignation, meine kaum erst eröffneten Augen wieder. Allein nun erfolgte von meinen Mördern ein so heftiges Reiben, Streichen und sogar Rollen meines Körpers, man hielt mir so beißende Sachen unter die Nase, und kitzelte und stach meine Fußsohlen so empfindlich und unbarmherzig, dass ich mit heftiger Gewalt und einem plötzlichen Schrei aufsprang, und durch ein unbändiges unaufhörliches Niesen alle Prosits und Kontentements, die von meiner zahlreichen Umgebung an mich gerichtet wurden, zum Schweigen brachte.

Die allgemeine Freude aller Umstehenden, die Ausrufe: „Gott sei gedankt, dass er wieder lebt“ – die lebendige Geschäftigkeit um mich her – ließ mich aber doch bald merken, dass ich unter etwas Besseres als unter Kannibalen geraten sein müsse.

„Wo bin ich denn aber?“, fragte ich verwundernd, als man mir meine Kleidung reichte und man erzählte mir während des Anziehens, dass ich wohl unvorsichtig in die Dunsthöhle gegangen sein müsse, wohinein sich niemand ohne Gefahr, zu ersticken, wagen dürfe, – dass ein paar Knaben, die sich hier gewöhnlich aufhalten, um solche den Fremden zu zeigen, um sich ein Trinkgeld zu verdienen, mich aus der Entfernung haben hineinschlüpfen sehen, und nur, als ich in einiger Zeit nicht wieder herausgekommen, auf dem Fuße gefolgt, und da sie mich besinnungslos fanden, gleich nach Hilfe gelaufen seien.

Nachdem ich mich wieder erholt und über die besorglich nachteiligen Folgen von meinen Entdeckern sehr beruhigt war, beschenkte ich, da ich meine Börse völlig unversehrt fand, meine Retter aus dieser Lebensgefahr reichlich, verschwieg ihnen jedoch meinen Namen, um wenigstens zu verbergen, wem dieser Unfall widerfahren sei.

Dieses war jetzt meine größte Sorge. Daher ging ich auch nach der überstandenen Angst, bei lebendigem Leibe seziert zu werden, abwärts vom Brunnenorte, um meine Retter glauben zu machen, ich gehöre anderwärts zu Hause. Sowie sie mich aber aus den Augen verloren hatten, wandte ich mich rasch und froh auf mein Zimmer.

Kaum war ich dort, so ward mir ein Zettel zur Unterschrift für einen Ball auf denselben Abend vorgelegt, woran, wie der Überbringer versicherte, alle Herren von der Noblesse teilnehmen würden, und wovon sich niemand ausschlösse.

Dies kam mir sehr erwünscht, da ich mir vorgenommen hatte, mich noch heute recht viel zu zeigen, damit nur niemand auf mich als den Unglücklichen, dem der Vorfall in der Höhle begegnet sei, argwöhnen könne; und da ich auf dem Balle die größte Frequenz finden sollte, so durfte ich nur dort mich durch etwas Auszeichnendes bemerklich machen, und niemand würde späterhin in mir den Unglücksvogel finden.

Ich unterschrieb also freudig, und da doch der Ball erst um zehn Uhr seinen Anfang nehmen sollte, so beschloss ich, von dem vorgestern unbenutzt gebliebenen Einlassbillet in die Komödie Gebrauch zu machen.

Ich kleidete mich tanzmäßig an, nahm den Komödienzettel, den ich neben meiner Stubentür angeheftet fand, zur Hand und ging in die große Allee, aus der mich die ausgestellten Sachen eines Konditors in seine Bude lockten, zumal ich bei der versäumten Mittagsmahlzeit hier keine Gelegenheit wusste, meine Speisebedürfnisse außer der gewöhnlichen Zeit zu befriedigen.

Ich hatte mich bereits häuslich dort niedergelassen, als ein paar junge Leute hereintraten, und einen ganzen Vorrat Konfitüren einkauften, weil sie, wie sie dem Konditor erzählten, ihre gewöhnliche Nachmittagswanderung machen wollten. Indem sie noch damit beschäftigt waren, kam ein langer, buntgemischter Zug von Herren und Damen die Allee herauf, und sie erzählten einem Dritten, der sich nach der Bedeutung dieser Kavalkade erkundigte, dass diese Gesellschaft unter der Leitung des Rektors Werner, eines sehr humanen Mannes, gewöhnlich des Nachmittags eine kleine Wanderung vornehme, um die Merkwürdigkeiten in der Nähe herum zu besehen. Seine Frage, ob es eine geschlossene Gesellschaft sei, verneinten sie, und versicherten hingegen, dass man sich zufolge der hier geltenden Brunnenfreiheit nur stillschweigend anschließen könne.

Da der Dritte sich zur Begleitung erbot, und sie aus meinem zufälligen Aufstehen schließen mochten, dass ich auch Neigung habe, von der Partie zu sein, welches gar nicht der Fall war, weil mir schon die so benannte Brunnenfreiheit höchst verdächtig vorkam, so sagte der eine zu mir: „Wenn Sie mit wollen, so wird es nun Zeit sein, wir gehen heute zu den Erdfällen.“

„Sehr obligiert“, erwiderte ich rasch und ablehnend, „die kenne ich und bin sie auch bereits hinuntergefallen, ohne Neigung zu haben, die Reise zu wiederhohlen, von der ich gar nicht einmal wüsste, was sie besonders Interessantes haben könnte.

Ich trat dann wieder in die Allee, und da ich gedankenlos von dem Tische des Konditors ein gedrucktes Blatt mitgenommen hatte, mit dem meine beschäftigungsleeren Finger ihr unnützes Spiel trieben und mir es im Gehen vor die Augen brachten, so fand ich darin, dass man, wie es wörtlich hieß, „mit Bewilligung einer hohen Obrigkeit die Ehre haben werde, im kleinen Ballsaale zu zeigen: das
Non – plus – ultra

hier zu deutsch: einen Mann, der seinesgleichen nicht habe. Er kommt“, lautete es weiter, „von der Insel Tanna, einem der erst kürzlich neu entdeckten Oerter, welche die Hebriden an dem Pacifique-See genannt werden. Dieser Mann besitzt außerordentliche Leibesstärke, und die Natur hat ihm eine ausgezeichnete Muskelkraft verliehen. Er zerbricht nicht nur Feuersteine mit den Zähnen, und lässt die Stücke auf einen Teller fallen, sondern er verschluckt auch beträchtlich große Steine, und wenn er sodann auf seinen Bauch schlägt, entsteht ein Gerassel, als wenn man auf einen mit Steinen angefüllten Sack schlägt. Er ist nach seiner Landesmanier gekleidet.“

Was konnte mir interessanter sein, als dieses Wunderkind der Natur zu sehen? – Ich eilte dahin, sah diesem zebramäßig gekleideten Wilden mit forschenden Augen eine Weile zu, wie er, mit einer Esslust ohnegleichen, eine Menge Steine verschlang, und mich von ihrer Ankunft an den Ort ihrer Bestimmung durch das hörbare Zusammenschlagen derselben überzeugte. Ich Armer, dem mein Magen schon so viele Erdenleiden bereitet hatte, sah ihm mit neidischen Augen zu, und das Gefühl meiner eigenen Schwäche lag schwer auf mir.

„Beneidenswerter Mensch!“, rief ich,
„von den Hebriden

Aus fernem Weltteil kommst Du
schiffend übers Meer;

Von Deinem Friedenssee bist Du
warum? - geschieden;

Was führte Dich zu uns aus
fremden Zonen her?“

Ich hielt inne, weil ich von ihm Belehrung erwartete, und vergaß es ganz, dass diesem Insulaner meine Sprache durchaus unverständlich sein musste. Er schien jedoch zu merken, dass ich etwas von ihm wissen wollte, und gab mir durch pantomimische Bewegungen und durch einige wilde Töne zu verstehen, dass er unvermögend sei, meine Wünsche zu erraten.

Mit Neid, - so fuhr ich fort, -
Du wirst es mir vergeben,

Dem Magenschwächling, der nie
deinesgleichen sah. -

Blick ich Dich an, und seh Dein
männliches Bestreben,

Des Morgens Herr zu sein; ach nie
war ich es ja !

Wie frei sich wohl Dein Geist,
vom Körper unbelastet,

Mit kühnem Flug’ empor, im
Reich des Denkens schwingt,

Indes der meinige, wenn auch
der Körper fastet

Die Alltagsschranken kaum mit Mühe
überspringt!

Die Deine Phantasie in ungebundnem
Fluge


Kühn in Vergangenheit und in
der Zukunft kreist,

Indes die meine bald ein Raub
von schnödem Truge

Sich fühlet, bald vom Druck
des Körpers geeist.

Ach könnte ich, großer Mann, die
Sprache Deines Landes

Wär mir Ideentausch mit Deinem
Geist erlaubt!

Auch mein Geist löste bald die
Fessel dieses Bandes,

Durch das mein Körper ihm der
Denkkraft Freiheit raubt.


Gebieter bald, wie Du, von meinem
kranken Magen,

Heilt’ ich der Schwachen Heer,
die hieher mit mir flohn;

Es würde bald der Quell des
Heils verlassen klagen,

Und der Genes’nen – Dank mir
wär’ er Götterlohn!

„Meine Herren, Sie müssen erst die Entree bezahlen!“

„Das wollen wir aber nicht!“, unterbrach mich ein hinter mir sich erhebendes Gezänke, und zwei eintretende Fremde nahten mit vielem Geräusch, das in meinen erhabenen Betrachtungen eine höchst unangenehme Unterbrechung veranlasste, dem Tische, hinter dem mein beneidenswerter Insulaner stand, welchem gegenüber ich mich, in meine Betrachtungen über ihn vertieft, diesseits postiert hatte.

„Infamer Spitzbube!“, polterten sie gegen ihn an; „treibst du hier deine Betrügereien nach alter Weise fort? Haben die fünfzig Rohrhiebe, die du erst vor einigen Wochen in (ich weiß nicht mehr, was für einen mecklenburgischen Ort sie nannten) empfangen hast, so wenig Eindruck auf dich gemacht, dass du hier schon wieder deine Schelmereien auskramest und die Leute prellst?“ Ich war im Begriff, diesen Polterern den offenbaren Irrtum, in dem sie sich über diesen Insulaner befanden, der so wenig ihren Vortrag zu verstehen, als selbst zu beantworten meiner Meinung nach imstande war, zu benehmen. Aber zu meinem größten Erstaunen überhob er selbst mich dieser Mühe.

„Nu mein!“, hub er an, „hab’ ich doch mein ganzer Lebtag keenen Menschen was genommen, tu das doch, hier noch nit, gibt ’s mir doch jeder aus eignem guten Willen, und nehm ich ’m doch nischt. Is doch nit fein von so hüpschen Leiten, als die Herren sein, mir das bisschen unschuldig Verdienst so zu verstören. Is doch hier nit Schwerinisch Land, nischt verboten, mein Permissionsschein ehrlich gelöst, steht ’s doch auf dem gedruckten Advis, – nu? Und was geht ’s die Herren an? Werd’ ich mich doch hüten, wieder zu Sie zu kommen, sein Sie mir doch mit Ihre Röhrchen so nahe gekommen, dass ich hier noch an den Kurgästen verdienen muss, und behaupten Sie doch, es hätte keenen Eindruck auf mich gemacht! Is doch keene Kunst, den Meister zu verraten, wenn man ’s weiß! Und was vorteilt es Sie?

„Lieber Herre“, wandte sich dann der in einen Israeliten so plötzlich verwandelte Hebride an mich, indem er mit der Linken einen Steinbeutel aus seinem Bauche hervorzog, ihn unverlegen vor sich auf den Tisch legte, und mich, der ich noch unbeweglich auf einem Fleck stand, vertraulich auf den Arm klopfte, „Ihnen will ich dienen, lassen Sie sich Ihr Geld nit gereuen, sein Sie doch zu einer glücklichen Stunde hergekommen; ich mach’ Ihnen ein Elixierchen, eine Universalmedizin, reinigt das Blut und stärkt den Magen. Morgens und abends 60 Tropfen acht Täg gebraucht, nach der Vorschrift, kriegend gratis gedruckt dabei. Für zwei Lijedor hab’n Sie ’n Magen, wie ich, kriegen ’n Appetitchen, dass ’s ’ne Lust is, in kurzer Zeit, können ’s sparen hier, das Wasser zu trinken. Is probat und geb ich dem Herrn sein Geld wieder, wenn ’s nicht hilft. Wo logieren der Herr? Will ich ’s Ihnen noch heut in Tag in Ihr Logis bringen. Hat ’s doch viel tausend Menschen schon geholfen, söllen Sie auch gesund werden, wie ’n Fisch im Wasser. Sagen Sie nur: Schmul hat ’s gesagt, und Schmul is ’n ehrlicher Jüd.“

Mir war die Sprache vergangen. Schweigend wandte ich mich, schweigend wandelte ich die Allee einige Mal auf und ab, und rieb mir die Stirne mit der flachen Hand, als wenn ich die Fibern der Klugheit in Schwingung bringen wollte, die vielleicht durch das Mineralwasser in Stillstand gebracht waren.

„Nein, auch so arg geprellt zu werden!“, rief ich endlich. Der Küster und seine Prophezeiung fiel mir ein, und Zutrauen und Misstrauen gegen die Mineralquelle fingen ihren Kampf in mir an. Dieser ward ein Ableiter für meinen Verdruss, ich vergab drüber meinen Unwillen gegen mich selbst, und eilte mit dem Schlage fünf Uhr, zu welcher Stunde nach dem Inhalte meines Komödienzettels der Anfang sein sollte, um nicht den schlechtesten Platz zu bekommen, ins Schauspielhaus. Ich gab mein Billett ab und wurde rechts gewiesen, aber kaum hatte ich ein halb Dutzend Schritte getan, als einer der Schauspieler oder der Aufwärter – der Himmel weiß, was für ein Geschöpf es war – hinter mir drein gerannt kam, mich am Arme fasste und sich erkundigte, ob ich das Billett heute habe holen lassen?

„Nein“, sagte ich ebenso ehrlich als wahr, „nicht heute, sondern bereits vorgestern.“

„Dann gilt es auch nicht mehr“, sagte er; „denn die Billette gelten nur an dem Tage, an dem sie geholt werden.“

„Aber wo steht denn das geschrieben?“, sagte ich.

„Haben Sie die Güte und kommen mit mir an die Kasse“, erwiderte er. Ich sträubte mich dagegen; allein vergebens. Ich musste meinen Führer begleiten, der mich am Rocksknopf hinter sich herzog, und wurde dann am Eingange belehrt, dass ich ein neues Billett zu lösen habe, wenn ich eintreten wolle. Meine Beschwerden über Unbilligkeiten, und meine Versicherung, dass ich noch zwei ebenso richtig bezahlte Billette, von denen ich in den folgenden Tagen Gebrauch zu machen gedächte, in der Tasche habe, – die ich zu besserer Überzeugung vorwies, weil nach den Regeln der Rhetorik das Vorzeigen des Streitgegenstandes selbst in dem kritischen Augenblicke, da man ihn nennt, wie mein längst in Gott ruhender Lehrer zu sagen pflegte, dem Vortrage einen größeren Impuls gegen die Zuhörer geben soll, – wurden weder beachtet noch beantwortet, sondern sämtliche drei Billette als Kontrebande mir alles Ernstes abgenommen.

„Aber ich werde denn doch mindestens die Billette, die ich bar bezahlt habe, behalten können, da sie mein Eigentum sind?“, fragte ich keck und kühn und mit allem Ernste, den ich mir nur zu geben wusste.

„Sie sind Ihnen von keinem Nutzen“, erwiderte man mir kalt; und wollte ich nicht an der Kasse mit der ganzen Komödiantenbande in Händel geraten, und mit ihnen, die ich zu meinem größten Verdrusse größtenteils schon um mich her wahrnahm, in eigner Person eine Posse aufführen, so musste ich ein neues Billett lösen. Ich trat dann ins Schauspielhaus zurück, und hatte doch den Vorteil, dass mich der Streit um nichts gebracht hatte, da dort noch keine Seele außer mir gegenwärtig war, daher ich den besten und bequemsten Platz für mich aussuchte.

Murrend über mein unglückliches Verhängnis, setzte ich mich in eine Ecke, die Idee meines Arztes vermaledeiend, der mich hierher geschickt hatte, wo ich keinen Schritt tun konnte, ohne anzustoßen und angestoßen zu werden.

Und doch befahl er streng’, und bannt
mir’s auf die Seele,

Die üble Laune hier, wie eine Pest,
zu fliehn,

Um, wenn sich jeder Nerv an diesem
Wasser stähle,

Durch Gegenwirkung ihm die Kraft
nicht zu entziehn.-

Der Rat des Toren war’s, dem Toren
mitgegeben.

Denn welcher Erdensohn hat übers
Schicksal Kraft? –

Das Fatum hat ihn längst dem Zufall
hingegeben,

Der launisch um ihn her stets die
Umgebung schafft.

Wenn alles hier sich eint, mich ausgesucht
zu quälen,

Und alles gegen mich sich auf die Wolken
türmt;

Wie soll dawider ich Ohnmächtiger mich
stählen?

Wie ruhig sein, wenn mich des Schicksals
Mut bestürmt?

Ich hatte zu diesem Selbstgezänke die größte Muße. Denn als ich mich endlich mit mir selbst bis zur Erschöpfung abgezankt hatte, war ich gerade eine volle Stunde da gewesen, immer noch der Einzige im Schauspielhause geblieben.

„Aus der ganzen Komödie wird gewiss auch nichts! Wie immer wirst du hier auch angeführt werden“, sagte ich zu mir selbst.

Ich fühlte ein Misstrauen in mir aufsteigen, ob ich wirklich im Komödienhause sei, und da meine Sinne mir sagte, ich sei es in der Tat, so blieb ich zwar noch ferner dort, jedoch mit der zuversichtlichen Besorgnis, ich werde wieder auf irgendeine Weise düpiert werden. Diesmal aber hatte ich mich geirrt, denn um sechs Uhr sah ich aus dem Kommen mehrerer Leute und aus den Zurüstungen, welche gemacht wurden, dass es mit der Sache doch werde Ernst werden.

Man spielte auch; allein mir wurde das Ding so bunt, da das Gesungene weder dem Texte noch der Musik nach zu dem angekündigten Stücke passen wollte, dass ich nicht wusste, wie ich daran war. Ich gab mir ohne Erfolg die Mühe, den Zusammenhang dessen, was ich vernahm, herauszubringen; denn bald war mir zum Sterben weinerlich, und dann musste ich wieder mit Gewalt lachen. Kurz – ich begriff nicht, was ich aus der ganzen Geschichte machen sollte.

Das Stück hieß „Das forcierte Quodlibet“, und erst nachher erfuhr ich, dass es auf ausdrückliches Verlangen eines reichen Kaufmannes gegeben worden, auch die Komödie, statt wie gewöhnlich um fünf Uhr, auf sein Anstiften eine Stunde später ihren Anfang genommen, ja dass durch ihn und für sein bares Geld auch die auf dem Zettel angezeigten Teile des Stückes selbst abgeändert seien, durch welche Neuerungen ich um mein ganzes Vergnügen gekommen war.

Der reiche Herr, der so mit Hilfe der Theaterdirektion mich und das übrige Publikum zum Besten hatte – hörte ich – hatte dafür nach Akkord hundert Billette auf sein Konto genommen. Der Herr muss ein sehr guter Handelsmann sein, dachte ich, oder ein sehr schlechter, dass er das Publikum so zu taxieren weiß. Auf meine Person rechnete ich nichts; denn ich hatte ohnehin so mancherlei Verdruss gehabt, dass meine ganze Galle schon verärgert sein musste.

In diesem verworrenen Gemische aus zwanzig Stücken, sagte ich zu mir selbst, werden auch sicher gar keine Aufzüge sein, sondern das ganze Ding wird wohl in einem fortgehen. Ich hätte das Gegenteil auf dem Zettel sehen können, allein es war, als ob ich nachgerade wirklich spürte, dass mein Verstand zu leiden anfange. Indessen geschah das Nichterwartete, der Vorhang fiel, und ich, der schon so lange hier angekettet gesessen hatte, eilte, um in der kurzen Zwischenzeit frische Luft zu schöpfen, ins Freie.

Ich machte einige rasche Gänge in der Allee, und trat ebenso rasch wieder ins Schauspielhaus hinein, allein ich wurde abermals mit den Worten: „Mein Herr, Ihre Contremarque!“ angehalten.

„Was Contremarque!“, versetzte ich, „ich habe keine Contremarque.“

„So werden Sie so gütig sein“, hieß es, „und bei der Kasse ein Billett lösen.“

„Schurke!“, rief ich wütend, und griff den Burschen vor die Brust, der diesen empörenden Anspruch an mich machte; allein in demselben Augenblicke fühlte ich mich von den beiden am Eingange des Schauspielhauses stehenden Schildwachen am Arme zurückgezogen und ohne weiteres so künstlich zum Schauspielhause hinaus gedreht, dass ich mich plötzlich in der Allee befand, ohne selbst eigentlich zu wissen, wie ich dahin gekommen war.

Es dauerte sehr lange, ehe ich vor Wut und Bosheit wieder zu mir selbst kam. Indessen, da ich bei näherer Besinnung mir nicht verhehlen konnte, dass ich mich durch die ausgeübte Tätlichkeit im Komödienhause sehr übereilt hatte, so war ich am Ende noch froh, dass sie keine schlimmeren Folgen für mich gehabt hatte.

Ich fühlte mich selbst durch alle diese Begebenheiten nachgerade zu einer Art von Stoizismus emporgehoben, und nahm mir vor, trotz meinen bisherigen erlittenen Widerwärtigkeiten meinen Platz auf dem Ballsaale gehörig auszufüllen, und meiner Passion zum Tanz noch einmal ihren vollen Lauf zu lassen, ehe ich die Kur wirklich begönne. „Dies ist ohnehin“, sagte ich mir selbst, „die beste Gelegenheit, dir einige, hier so notwendige Bekanntschaften zu erwerben, und da du ohne Ruhm zu melden, nicht uneben tanzest, so wird dich das unstreitig poussieren.“

Tanzmäßig gekleidet, und voll Zutrauens zu mir selbst, da mir einige Entrechats, die ich zur Probe auf meinem Zimmer gemacht hatte, wohlgeglückt waren, verfügte ich mich mit dem Schlage zehn Uhr in den großen Ballsaal, fand dort auch Kronleuchter, Stühle und Musikanten in voller Rüstung.

Mir war es nichts weniger als unangenehm, der Erste im Saale zu sein, weil ich dadurch der Verlegenheit entging, die mich – ich weiß selbst nicht warum – beim Eintritt in ein volles Zimmer von geschmückten Herren und Damen jedes Mal zu ergreifen pflegt. Das Vergnügen, allein zu sein, dauerte mir indessen fast zu lange. Denn als ich mich schon müde und matt im Saale auf und nieder promeniert hatte, war ich noch immer der einzige Tanzlustige darin.

Die Musiker hatten schon mehrmals Walzer und Schottische – mir zu Ehren, wie ich schloss, weil außer mir keine Seele dort war – durchgespielt, auch jetzt noch war und blieb ich allein. Es begann nun allmählich eine Besorgnis in mir aufzusteigen, ob ich nicht auch hier, wie immer, werde bei der Nase herumgeführt werden, und allein diese Musik bezahlen müssen, als endlich nach dem Verlaufe von einer guten Stunde ein ganzer Tross Herren, aber noch immer keine Damen, ihren Einzug in den Saal hielten.

„Nun endlich!“ rief ich froh, „wird es angehen, und jetzt werden auch die Damen folgen.“ Erwartungsvoll nahm ich meinen Platz neben der Saaltür, um die eintretenden Schönen sämtlich genau beobachten, und bei meinem etwas blöden Gesichte die tanzfähigen von den älteren mit erscheinenden Matronen gleich unterscheiden und mir zur Auswahl merken zu können.

Eine Weile mochte ich da, und vielleicht in zu demütiger Stellung, vergebens – denn noch immer erschien keine Dame, – gestanden haben, als einer von den anwesenden Herren mir ziemlich nahe auf den Leib trat, mich von oben bis unten lorgnierte, und dann mich fragte: „Werden Seine Herrschaften noch zum Ball kommen?“

„Herr!“, erwiderte ich trotzig, schon voraussehend, dass man mir hier gar keine Lakaiendienste ansinnen werde, „ich bin selbst eine Herrschaft.“ Die Kraftsprache wirkte, mein Frager entschuldigte sehr höflich seinen Irrtum, der durch meinen langen Aufenthalt an der Tür des Saals veranlasst war, mit seinem kurzen Gesichte, und vermaledeiete die Mode, welche die Livreen der Bedienten abgeschafft habe, und es den Blinden unmöglich mache, die Herren von der Dienerschaft zu unterscheiden.

„Haben Sie die Güte, näher zu uns zu treten; aus dem Balle wird wohl nichts werden“, sagte er mit vieler Artigkeit, mich vertraulich am Arm fassend, als wenn er dadurch meine Degradation wieder aufheben wollte. „Der Zettel zum Engagement ist diesen Nachmittag zu spät herumgegangen, es hat sich außer uns Gegenwärtigen fast niemand unterschrieben, und da aus dem Tanze sonach nichts werden kann, so haben wir beschlossen, stattdessen eine Partie Pharao zu machen, und die Herren Bankiers sind so artig gewesen, sich gleich dazu zu verstehen. Setzen Sie sich“, sagte er, indem er während der Unterredung mit mir an einen großen grünen Tisch gegangen war, bot mir einen Stuhl, und, ohne mich, der ich ihm versichern wollte, dass ich gar nicht spiele, zu Worte kommen zu lassen, zog er mich – um, wie es mir schien, durch diese Vertraulichkeit das mir angetane Unrecht wieder gutzumachen – neben sich auf einen Stuhl nieder, und pries es mir als ein Glück, dass man sich durch das Spiel im Bade defennüyieren könne, wo man ohne das vor Langeweile sterben würde.

„Nicht wahr, Herr Graf?“, fragte er meinen Nachbar, der rechts neben mir Platz genommen hatte, und dieser setzte den Nutzen des Spiels noch umständlicher auseinander. Beide Herren machten es sich bei dieser so interessanten Unterredung bequem, legten ihre Arme wechselseitig über die Lehne meines Stuhls, sprachen bald vor mir, bald hinter mir über, und setzten mich also in die Notwendigkeit, meinen Platz zu behalten, da ich weder vor noch rückwärts weichen konnte. Ich war auf die Weise ihr Gefangener, und ans Weglaufen, wozu ich große Neigung in mir spürte, war bei so bewandten Umständen nicht zu denken.

Ängstlich lauerte ich auf das Ende ihrer Suade, oder mindestens auf eine Pause in derselben, und stellte vorläufig in meinen Gedanken die Worte, wodurch ich mich aus der Verlegenheit ziehen, und meine mit ihrer geäußerten Vorliebe fürs Spiel so sehr kontrastierende Gesinnung auf eine bescheidene Art erklären wollte. Allein ehe es bis zu einem solchen Stillstandspunkte in ihrer Unterredung kam, präsentierte mir einer der Herren, die es mir gegenüber mit dem Mischen der Karten sehr eifrig trieben, mit einem französischen Komplimente eine Partie Karten, die er ein Buch nannte. Da ich auf eine französische Ablehnung gar nicht gerüstet war, es schweigend annahm, um mich von der Antwort zu dispensieren, vorzüglich aber den Verdacht scheute, ehrenhalber nicht eine Kleinigkeit aufopfern zu wollen, so glaubte ich mich verpflichtet, zu spielen.

So zog zur Sünde sonder alle Reize

Die falsche Scham mich
Schwächling hin ;

Dem Argwohn zu entfliehn, ich sei
beherrscht vom Geize,

Zeigt’ ich mich gierig nach Gewinn. -

Das ist des Siechen Los ! Gleich
schwankem Rohre schmieget

Er jedem Luftstrom sich, der ihm
vorüberfährt.

Der Wetterfahne gleich, von jedem
Wind gewieget,

Hat oft ein Augenblick ihn umgekehrt.

Unüberwindlich dünkt ihm jedes
Hindernis;

Im Licht des Mittags selbst umhüllt
ihn Finsternis.

Ihm scheint ein flücht’ger Reiz
verdorbner Wille,

Scheint, was von außen kommt, im
Herzen tief erzeugt,

Und wenn das Bess’re selbst einmal
nicht schweigt,

Bebt er zurück, verabscheut in der Stille

Den Sinn, der fremd ihm ist, den Fehl,
den er nicht hat,

Und wirft die Tat sich vor, die er
nicht tat,

Und um dem Schein des Bösen
auszuweichen,

Lässt von dem Bösen er sich
überschleichen.

Mit einem Seufzer fuhr ich in die Tasche und mit einem zweiten holte ich aus meinem Geldbeutel einen großen Taler hervor. Ich nahm in Gedanken von ihm Abschied und setzte ihn dann mit schwerem Herzen auf die erste beste Karte, die mir aus dem so genannten Buche in die Hand fiel. Kaum stand er da, der zur Trennung bestimmte, so kam eine Art von Krücke, die von einem der Bankiers geleitet wurde, und schob den Taler und die Karte über einen gelben Strich, der vor mir auf dem grünen Tuche herlief, so rasch zu mir herüber, dass ich schnell unter dem Tische beide Hände vorhielt, um ihn aufzufangen.

„Das wird nicht angenommen“, erscholl es zugleich, wogegen ich, in der Meinung, dass der Bankier den Taler für falsch halte, heftig protestierte, denselben für sehr gut erklärte, die Bude, in der ich ihn diesen Morgen eingewechselt, mit Platz und Nummer, und deren Besitzer als einen bekannten ehrlichen Mann nannte, und im Begriff war, der Gesellschaft die ganze Geschichte des Talers zu geben, als mein Nachbar mir aus dem Traum half und zu mir sagte: „Der Taler, mein Herr, ist wohl gut, aber dies hier ist die Goldbank, hier wird kein Silber angenommen. Sie müssen Gold, einen Louisd’or wenigstens oder einen halben setzen. Die Einrichtung ist im Grunde sehr gut, es würde sonst alles hierher laufen. Eine Silberbank ist im Kaffeehause dort gegenüber.“

Was war zu tun? Um nicht für einen Knicker gehalten zu werden, musste ich schon ein Goldstück daran wenden. Ich sah auch das für verloren an, allein es ging besser als ich dachte, ja es kamen wirklich einige Goldstücke aus der Bank zu mir herüber. Dies brachte meinen schon so oft gesunkenen Mut wieder zurück.

„Endlich lächelt dir noch ein Sonnenstrahl wieder“, sprach ich zu mir selbst; „hier wird dir dein pekuniärer Verlust dieser Tage bald ersetzet werden“, und ich fühlte es mit Zuversicht in mir, dass ich ob diesem Ersatze meiner übrigen Leiden leicht vergessen würde. Ich beschloss dieses augenblickliche Lächeln der Glücksgöttin zu benutzen, ich verdoppelte Satz und Karten; aber ach! die wankelmütige drehte mir schnell den Rücken. Ich verlor den Kopf, und erneuerte meine Versuche, den gehabten Verlust einzuholen, solange, bis ich in allen Taschen vergebens suchte, was zu ihrer Fortsetzung unentbehrlich war.

„Bist du’s oder ist es dein Geist?“, redete mich eine bekannte Stimme an, als ich vom Spiel aufgestanden war, um mich nach Hause zu schleichen, und zugleich erhielt ich mit der flachen Hand einen sanften Schlag auf die Achsel. Verwirrt und verstört, wie ich war, wandte ich mich um, zu sehen, woher diese ungewöhnlich freundliche Stimme kam?

„Himmel!“, rief ich aus, „mein Rudolf!“ Ich vergaß, wo ich war, stumm hing ich an seinem Halse, und Tränen der Freude und der Wehmut netzten die Wangen des Freundes. „Komm von hier weg!“, sagte er nach einer Weile, sich meinem Arm entwindend, und ich folgte ihm, wohin er mich führte. Der größte Teil der Nacht ward auf seinem Zimmer verplaudert. Was hatte er mir nicht alles von den langen Jahren zu erzählen, die uns das Schicksal getrennt hatte!

Mit dir will ich ziehen“, rief ich, „hier bleibe ich um keinen Preis!“

„Und doch musst du das, wenn du um mich sein willst“, erwiderte er, „denn ich werde hier die Kur gebrauchen.“

Es sei unmöglich, wiederholte ich ihm, und erzählte ihm die Geschichte meiner Leiden.

„Wir bleiben trotz alledem hier zusammen!“, sagte er, als ich meine Erzählung geendigt hatte. „Versprich mir nur das Einzige, dich ganz meiner Leitung zu überlassen, und ich verspreche dir: Geheilt kehrst du zurück. Ich bin ganz der Meinung deines Arztes, dass dir diese Quelle sehr heilsam sein wird. Nur eines hat er nicht bedacht: Er hätte dich nicht allein hier herreisen lassen sollen. Jetzt ist dieser Mangel gehoben; ich bleibe bei dir, nur, wie gesagt, gib mir dein Wort, in allem meinen Vorschriften zu folgen, und dich nur leidend zu verhalten.“

Ich versprach es; denn was hätte ich ihm nicht versprochen? So war ich denn förmlich unter Aufsicht gestellt, hatte einen Hofmeister, und von nun an für nichts mehr zu sorgen.

Wir trennten uns dann, und ich legte mich zum ersten Male mit neu erwachten frohen Hoffnungen zur Ruhe, von der ich am andern Morgen durch einen Abgesandten der hiesigen Polizei geweckt wurde. Es sei, kündigte er mir im Namen derselben an, wider die hiesigen Brunnengesetze, einen weiblichen Kammerdiener zu haben; daher ich zur Aufrechthaltung der bestehenden Ordnung der Dinge höflichst eingeladen werde, das für meinen Bedienten bestellte, und von einer Freundin – wie er sich sehr bescheiden ausdrückte – besetzte Zimmer räumen zu lassen. Da es hier aber bloß auf Beobachtung der Delikatesse, in Rücksicht deren man Pflichten gegen alle übrigen Brunnengäste habe, keinesweges aber auf eine Beschränkung meiner Einrichtungen abgesehen sei, so werde es nicht das mindeste Bedenken haben, wenn dieses Frauenzimmer sich anderweitig außer dem Hause selbst ein eigenes Zimmer nehmen wolle, und erbot er sich zugleich, mir dazu einige Nachweisungen zu geben, wodurch meiner Bequemlichkeit, wie er meinte, kein bedeutender Eintrag geschehen werde.

Ich war, im Vertrauen auf den Beistand meines Freundes, so keck geworden, dass ich mir nicht einmal die Mühe nahm, die geäußerte ungünstige Meinung von mir durch Darstellung des wahren Verlaufs der Sache zu widerlegen, sondern meinen Mann nur mit dem Bescheid entließ, dass, obwohl die Polizei in Rücksicht meiner und des Frauenzimmers sehr unrichtige Ansichten habe, ich doch mich nicht entlegen werde, ihrer und meiner Delikatesse das Opfer zu bringen und sie noch heute zur Räumung des bewussten Zimmers zu bewegen, worüber er seinen Vorgesetzten namens meiner die Versicherung erteilen möge. Meinem Freunde entdeckte ich dann auch diesen Umstand, und er riss mich auch hier aus der Verlegenheit, söhnte das schöne Kind mit ihrer Gebieterin durch offenherzige Erzählung meiner Leiden leicht wieder aus, stellte zu meiner großen Freude ihr ehemaliges Verhältnis her, und verschaffte mir noch obendrein an der Dame eine interessante Bekanntschaft.

Dann zerstörte er, infolge meines ihm gegebenen Versprechens einer unbedingten Folgsamkeit gegen seine Vorschriften, unbarmherzig genug den mir gleich nach meiner Ankunft auf meinem Zimmer eingerichteten Schreibtisch, nahm mir bis auf wenige Bogen meinen ganzen Vorrat von Schreibpapier, und als ich feierlich gegen seine Eigenmacht protestierte, mich auf die meinen Freunden gegebenen Versprechungen, posttäglich Nachrichten von mir zu geben, berufend, erinnerte er unbiegsam mich nur an mein Gelübde. Doch erhielt ich endlich gegen sein erstes Verbot, dir von meiner Kur etwas zu schreiben, weil mich das nur, wie er meinte, zu aufmerksam auf meinen Krankheitszustand machen würde, die Erlaubnis, dir in kleinen Pausen meine viertägigen Leiden zu klagen und zu beschreiben. Und so löse ich denn mein Versprechen gegen dich auf diesen wenigen mir gebliebenen Bogen meines von ihm unbarmherzig geraubten Papiers.

Ach was würden ohne meinen Rudolf aus mir geworden sein ! ! !

Vier ganzer Tage hatte mich
Mein Schicksal hart gequälet.
Schon wähnt’ ich Armer
hoffnungslos
Der Reise Zweck verfehlet.
Zur Heimkehr trieb die Angst
mich schon,
Nichts hielt zurück mich, als der Hohn,
Der, glaubt ich, mein dort harrte.
Da kam, gleich einem Engel mir
Aus höhern Regionen
Gesandt, ein Freund ! – ach! Kann ich je,
Was er mir war, ihm lohnen? –
Besänftigte mein tobend Blut,
Belebte den gesunk’nen Mut“
Gab mir die Hoffnung wieder.
So hab ich an der Freundschaft Hand,
Was ich begann, vollendet,
Und neues Ungemach hat sie
Mich schützend, abgewendet.
Den längst verlernten Silberblick
Des Frohsinns führte sie zurück,
Das weit’re tat die Quelle.
Mit heiterm Sinne malte ich Dir
Die überstand’nen Leiden;
Jetzt am erwünschten Ziel sind sie
Die Würze meiner Freuden.
Der Hypochonder ist entflohn.
Frei sitz’ ich auf des Glückes Thron,
Mir selbst zurückgegeben!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meine viertägigen Leiden im Bade zu Pyrmont