Kapitel 6 - Uesan el Dar Demona.

Es giebt Bücher genug, die über Marokko handeln, und keine Geographie älteren oder neueren Ursprungs unterlässt es, irgend ein Capitel diesem Reiche zu widmen; aber wie Afrika im Allgemeinen noch heute ein Terra incognita für uns ist, so ist von all den Staaten, welche an den Küsten liegen, namentlich an den Küsten des Mittelmeers, kein Land so wenig bekannt wie Marokko und von allen Städten in Marokko ist Uesan die unbekannteste. So sehen wir denn auch, dass ein Hemsö, Ali Bey, Richardson und Renou nur ganz oberflächlich des Ortes Uesan im Vorübergehen erwähnen.

Ali Bey verlegt Uesan auf den 24° 42' 29" N. Br. und 7° 55' 10" L. von Paris, Renou, der die Breite gelten lässt, glaubt aber Uesan die Länge von 7° 58' geben zu müssen. Dieselbe Position finden wir auch auf Petermanns trefflichen Karten von Marokko61. Bis genauere Messungen an Ort und Stelle angestellt sind, können wir uns auch einstweilen recht gut daran halten. Die Stadt Uesan liegt etwa 900 Fuss über dem Meeresspiegel, erfreut sich also unter diesen Breiten eines äusserst günstigen Klimas.


[Fußnote 61: Mittheilungen, Jahrg. 1865.]

Vortheilhafter wird die Lage noch dadurch, dass die Stadt am Fusse des mächtigen und zweigipfligen Berges Bu-Hellöl aufgebaut ist. Dieser herrliche Berg, dessen ganze Nordseite von der Stadt an bis zum Gipfel zum Theil mit Oliven, zum Theil mit immergrünen Eichen und Wachholder bewaldet ist, hält wirksam die heissen Südwinde ab, während er zugleich den regentragenden Nord- und Nordwestwinden einen Damm entgegensetzt.

Der ganze Gebirgscomplex, der sich um Uesan herumzieht, steht im innigen Zusammenhange mit dem sogenannten kleinen Atlas. Ersteigt man den Bu- Hellöl, so sieht man über die Rharbebenen hinweg die blauen Fluthen des atlantischen Oceans, während andererseits nach Norden und Osten der Blick eine vollkommen zusammenhängende Gebirgslandschaft vor sich hat bis zu den zackigen Berggipfeln, der Habib, der Srual, der Schischauun und in erster Nähe der Erhona.

Es scheint, dass Uesan von einem Nachkommen Mulei Edris, Namens Mulei Abd- Allah Scherif, etwa um das Jahr 900 n. Chr. als Sauya gestiftet wurde. Da nun Edris der Gründer der Stadt Fes als der directeste Nachkömmling des Propheten angesehen wird, so ist seine männliche Nachfolge in erster Linie noch heute in demselben Ansehen. Aus diesem Grunde sind die Schürfa von Uesan, d.h. die Edrisiten, bedeutend heiliger gehalten als die übrigen von Mulei Ali stammenden, wozu die Familie des Sultans gehört.

Dennoch haben aber diese Vorrechte genug, und was der kaiserlichen Familie an Heiligkeit directer Abkunft abgeht, ersetzt sie eben dadurch dass sie die regierende ist. Bei den Mohammedanern nun ist aber das Heiligsein ganz anders als bei uns Christen.

Mein seltsamer Anzug, halb christlich, halb mohammedanisch, hatte rasch einen Haufen Neugieriger herbeigezogen, mein Begleiter und ich wurden umdrängt und befragt, wer ich sei, was ich wolle, woher ich komme, wohin ich wolle u. dergl. unverschämte Fragen mehr. Es ist vollkommen falsch, wenn man glaubt der Mohammedaner sei schweigsam, ernst und nicht neugierig; in Afrika habe ich überall das Gegentheil erfahren. Manchmal freilich mag der Vornehme, der Mann vom "grossen Zelte," sich gegen Christen so zurückhaltend benehmen, aber nie gegen seines Gleichen. Und man erinnere sich, dass ich als Mohammedaner reiste.

Nachdem die Neugier befriedigt und nachdem namentlich die Menge beruhigt war über meinen Glauben, d.h. nachdem ich auf ihre Aufforderungen zum "Bezeugen" mehrere Male "es giebt nur Einen Gott und Mohammed ist sein Gesandter" geantwortet hatte, sagten sie aus, "Sidi" befände sich mit den Schürfa und Tholba im Rharsa es Ssultan, so hiess man Garten und Gartenhaus des Grossscherifs.

Man kann sich denken, mit welcher Spannung ich der ersten Zusammenkunft mit diesem Manne, der in den Augen der meisten Marokkaner höher als Gott, ja höher als der Prophet gehalten wird, entgegen sah.

Meine Begleiter und ich gingen also nach seinem Landsitze, der sich bald, er liegt nur ca. 5 Minuten ausserhalb der Stadt, unseren Blicken zeigte. Wie erstaunt war ich, ein Haus halb im neuitalienischen, halb im maurischen Style zu erblicken. Dort ist Sidna,62 sagte man mir. Aus den Fenstern des oberen Stockes sah ich eine Menge Neugieriger herabgucken, vorne stand ein junger Mann in französischer Capitäns-Uniform mit dem Degen an der Seite, ein langes Fernrohr in der Hand. Jetzt rasch durch ein hohes gewölbtes Steinthor in den Garten tretend, befanden wir uns bald vor der Hauptthür, welche direct auf eine enge und so niedrig gebaute Treppe ging, dass jeder nur etwas grosse Mann sich bücken musste, um hinaufzuschreiten. Oben angekommen, riefen uns mehrere uniformirte Sklaven ein "Okaf" (Halt) entgegen, das aber gleich vom lauten "sihd" (marokk. Ausruf, bedeutend "tritt näher") des Grossscherifs übertönt wurde.

[Fußnote 62: Der Titel Sidna, d.h. "unser Herr," kommt eigentlich nur dem Sultan zu. Jeder Scherif hat den Titel sidi oder mulei, was "mein Herr" bedeutet Tholba, d.h. Schriftgelehrte, Standespersonen, Beamte, haben den Titel "sid," was Herr bedeutet. Der Plural von mulei, muleina, wird nur Gott und dem Propheten gegeben.]

Mein Begleiter prosternirte sich, küsste die gelben Stiefel Sidi-el-Hadj- Abd-es-Ssalam's, und berichtete dann über mich. Ich selbst begnügte mich, seine dargebotene Hand (der Grossscherif sass auf einem Teppich in einer Ecke des Zimmers) zu ergreifen, und sodann führte ich die meine an Stirn und Mund. Unter der Zeit hatte ich Musse, ihn und seine Umgebung zu betrachten.

Sidi-el-Hadj-Abd-es-Ssalam-ben-el-Arbi-ben-Ali-ben-Hammed-ben-Mohamméd-ben- Thaib63, wie sein ganzer Titel lautet, war (1861) etwa 31 Jahre alt; von fast zu hoher Statur, wurde das Ebenmaass seines Körpers durch eine angenehme Wohlbeleibtheit hergestellt. Sein Teint ist stark gebräunt, und auch etwas dick aufgeworfene Lippen deuteten auf Negerblut, wie denn in der That seine Mutter aus Haussa stammte. Eine gerade Nase, ein feurig schwarzes Auge, im Ganzen ein längliches Gesicht, so präsentirte sich der Mann, dem von fast der ganzen mohammedanischen Welt eine abgöttische Verehrung gezollt wird. Seine Bekleidung bestand in einer weiten skendrinischen64 rothen Tuchhose, einem französichen [französischen] Waffenrock mit französischen Epauletten, auf dem Kopfe hatte er einen tunesischen Tarbusch mit schwerer goldener Troddel. An der Seite trug er einen äusserst schön gearbeiteten Degen, wie ich später erfuhr, ein Geschenk vom General Prim.

[Fußnote 63: In seinen Briefen titulirt sich Abd-es-Ssalam bis zum Grossvater, Thaib, seines Urgrossvaters Hammed hinauf, weil Mulei Thaib der Erneuerer der religiösen Gesellschaft der Thaib gewesen ist, in ganz Nord- Afrika die allergrösste religiöse Genossenschaft. Seines marokkanischen Ahnen Mulei Edris, oder des Gründers der Sauya Uesan, Mulei Abd Allah Scherif, wird in den Briefen nicht Erwähnung gethan.]

[Fußnote 64: Skendrinischen = Alexandrinischen.]

Eine goldene Schärpe, die er um hatte, enthielt zugleich einen Revolver vom System Lefaucheux, der überdies mittelst einer rothseidenen Schnur um den Hals befestigt war. "Merkwürdig," dachte ich, "den Mohammedanern ist durch den Koran verboten, Gold und Seide auf ihren Kleidern zu tragen, und nun sehe ich den directesten Sprössling des Propheten damit überladen.["] Die übrigen Anwesenden bestanden zum Theil aus nahen Anverwandten, also ebenfalls Abkömmlingen Mohammed's, dann aus Tholba, endlich aus vielen Fremden von vornehmer und geringer Herkunft. Ueberdies ging es ohne Unterlass aus und ein, da ging kein Mann oder keine Frau aus dem Gebirge vorbei (das Gartenhaus lag an einer sehr frequenten Strasse), ohne rasch heraufzuspringen, um den Grossscherif zu küssen und um einige Mosonat65 niederzulegen. Da kamen Processionen von Ferne, um den uld en nebbi (Sohn des Propheten) zu besuchen, von diesen wurde nur der "Emkadem" (geistige Vorsteher und Hauptgeldeinsammler) vorgelassen, die anderen aber einstweilen fortgeschickt, um in die für Fremdenaufnahme eingerichteten weiten Hallen der Sauya in Uesan einquartiert zu werden und um später en bloc den Segen zu empfangen.


[Fußnote 65: Mosona, eine imaginäre marokkanische Münze, besteht aus 6 flus, pl. von fls. Ein fls. ist ungefähr gleich einem französischen Centime.]

Sidi winkte; gleich darauf brachte ein kleiner uniformirter Neger Namens Zamba eine silberne Platte, darauf stand ein silberner Theetopf, eine Schale mit grossen Stücken Zucker, eine Theebüchse, und, ausser den sechs üblichen kleinen Theetassen, ein Glas, woraus Sidi seinen Thee nehmen sollte. Alles dieses wurde vor den Sidi zunächstsitzenden Scherif, einen schon älteren Mann, Namens Sidi el Hadj Abd-Allah, gesetzt, und dann ging die Bereitung des Thees vor sich.

Der Hadj Abd-Allah nahm eine tüchtige Hand voll grünen Thees, warf ihn in den Topf, während ein anderer kleiner Neger, Ssalem, schon das siedende Wasser in Bereitschaft hielt; der erste geringe Aufguss diente nur dazu, den Thee zu reinigen. Sodann wurde eine tüchtige Portion Zucker in den Topf geworfen, und nun derselbe mit kochendem Wasser gefüllt. Unter der Zeit hatte der Hadj auch schon einige aromatische Kräuter in Bereitschaft, als Minze, Wermuth und Luisa, die noch obendrein hineingeworfen wurden. Nach einiger Zeit wurde sodann für Sidi ein Glas gefüllt, nachdem jedoch vorher der Hadj Abd-Allah mehrere Male durch Kosten sich überzeugt, dass der Thee genug gezuckert sei. Sodann wurden die übrigen sechs Tassen gefüllt, und sie den Gästen von den beiden kleinen Sklaven präsentirt; da wohl 30 Leute anwesend sein mochten, ohne die vielen Besucher, die ab- und zugingen, die meisten auch drei Tassen tranken, wie es die Sitte erheischt, so kann man sich denken, dass es ziemlich lange dauerte, ehe Alle, da nur sechs Tassen vorhanden waren, befriedigt wurden. Es versteht sich von selbst, dass die Theekanne verschiedene Male wieder nachgefüllt wurde.

Unter der Zeit wurden die verschiedensten Gespräche geführt, Sidi wollte vor allem von den politischen Zuständen in Europa unterrichtet sein, und ich merkte, dass es ihn ärgerte, dass einige ältere Schürfa mich fragten, wann, wo und wie ich zum Islam übergetreten, ob ich auch vollkommen überzeugt sei, dass die mohammedanische Religion besser sei als die jüdische und christliche, ob ich auch ordentlich "bezeugen" könne etc.

Sidi-el-Hadj-Abd-es-Ssalam, der wohl merkte, wie unangenehm mir solche Fragen sein mussten, sprang auf und winkte zu folgen. Alle erhoben sich, da er aber auf mich speciell gedeutet hatte, so blieb die ganze Versammlung im Zimmer und setzte sich wieder, während er und ich, begleitet von seinen beiden Günstlingen und einigen Dienern, die einen Teppich, ein Fernrohr, Doppelflinte etc. trugen, in den Garten hinabgingen.

Diese beiden Günstlinge, Ibrahim und Ali, die den ganzen Tag nicht von der Seite des Grossscherifs wichen, waren Ssalami66, d.h. jüdische Renegaten! Der eine, aus Fes gebürtig, war Schriftgelehrter, und aus freiem Antrieb übergetreten, Ali aber, aus Uesan gebürtig, war, wegen Diebstahls verfolgt, in die Sauya geflüchtet, und hatte sich dann, um der Strafe zu entgehen, mohammedanisirt. Beide trugen französische Capitäns-Uniform mit weiten Hosen und rothem Tarbusch. Sie waren beide verheirathet und wohnten sogar beide im Hause von Sidi, der ihnen je einen Flügel abgesondert angewiesen hatte. Sie waren zu der Zeit die Personen, die Sidi gar nicht entbehren konnte, Alles ging durch ihre Hände.

[Fußnote 66: Ein vom Judenthum zum Islam Uebertretender bekommt in Marokko den Namen Ssalami, d.h. Gläubiger, ein vom Christenthum Uebertretender bat den Namen Oeldj, d.h. wörtlich christlicher Sklave.]

Im Garten angekommen, gefiel sich Sidi darin, mir seine europäischen Einrichtungen zu zeigen; hier war auf einem Bassin ein Schiffchen mit Rädern, eine Nachahmung der europäischen Dampfschiffe, dort kostbare Blumen aus Europa und Amerika, Gewächse feinerer Art, wie sie im übrigen Marokko unbekannt sind, zwischen denen künstliche Springbrunnen auf verschiedenste Art Wasserstrahlen auswarfen, sogar eine kleine Eisenbahn mit Wagen, welche durch ein Radwerk in Bewegung gesetzt wurde.

"Der Sultan, die Grossen und auch die Schürfa," fing Sidi an, "wollen nichts vom Fortschritt wissen, deshalb sind wir auch von den Spaniern geschlagen; wenn ich nur könnte, ich würde Alles einführen wie es bei den Christen ist, d.h. vor allem eine feste Gesetzgebung und regelmässiges Militair."—"Aber, wenn du nur willst, Sidi," erwiederte ich, "so wird der Sultan auch wollen und müssen."—"Der Sultan und ich sind beide vom Volk abhängig, und dass ich mich christlich kleide, was doch die Türken jetzt auch thun, nimmt man gewaltig übel." Unter diesen Gesprächen waren wir durch einen blühenden Rosengarten, wo Jasmin und die köstlich duftende Verbena Luisa mit Heliotropen und Veilchen ihre Wohlgerüche der Luft spendeten, zu einem prächtigen Orangenhain gekommen. "Diesen ganzen Garten hat mir der Sultan geschenkt," sagte Sidi, "oder eigentlich zurückgeschenkt, denn mein Grossvater, Ali, schenkte ihn seinem Vater." Nach dem Orangengarten kamen ausgedehnte Olivenpflanzungen, wir drangen bis dahin durch, kehrten dann zurück, wo wir die Schürfa und Tholba noch im Zimmer versammelt fanden.

Gleich nach der Rückkehr Sidi's stellten sich Sklaven ein mit Schüsseln auf dem Kopf. Alles nahm Platz, da wurde zuerst eine Maida (kleiner Tisch) vor Sidi gestellt, und, nachdem Sklaven ein messingenes Becken und eine Kanne gebracht, die Hände abgewaschen. Ein Handtuch, vielleicht hatte es schon einmal als Hemd gedient, war für Alle zum Abtrocknen bereit. Es bildeten sich Gruppen: Sidi ass aus einer Schüssel mit 5 oder 6 Schürfa, hier sass wieder eine Gruppe, dort eine andere, ich selbst wurde eingeladen, an der Schüssel der beiden Günstlinge Ali und Ibrahim, zu der ausserdem noch zwei Vettern von Sidi zugezogen waren, theilzunehmen. Man ass, mit Ausnahme des Tisches, an dem Sidi sass, mit grosser Hast, um ja nicht zu kurz zu kommen. Die Speisen waren gut, gebratenes Fleisch, gebratene Hühner, und bei jeder Schüssel lagen fünf oder sechs Brode, die vorher gebrochen wurden. So, dachte ich, ass man zur Zeit Jesu aus einer Schüssel und mit den Händen.

Sidi, der in Frankreich gewesen, konnte es nicht lassen ein paar Mal herüberzusehen: "Mustafa (diesen Namen hatte ich angenommen), hast du schon oft mit der Hand gegessen?" fragte er. "Gott erbarm dich!" rief ein graubärtiger Scherif, "essen denn die Christenhunde nicht mit der Hand?" "Nein," erwiederte der Grossscherif, "als ich auf der französischen Fregatte nach Mekka reiste, ass ich mit einer Gabel." "Gott sei meinem Vater gnädig," erwiederte jener, "unser Herr Mohammed hat mit der rechten Hand gegessen, Mohammad ist der Liebling Gottes, und der Segen Gottes ruht auf seinen Nachkommen." Sidi, wohl um ein religiöses Gespräch abzuschneiden, rief einen Sklaven, gab ihm ein saftiges Stück Fleisch, das er vom Knochen abgelöst hatte: "gieb das Mustafa." Von dem Augenblick, d.h. seitdem ich aus der Hand Sidi's einen Bissen erhalten hatte, wurde ich als sein erklärter Günstling angesehen.

Nach beendetem Essen wurde Kaffee herumgereicht, und nachdem man noch eine Zeitlang gesessen und darauf in Gemeinschaft das l'Asser Gebet abgehalten war, befahl Sidi sein Pferd. Er bestieg einen ausgezeichneten Fuchs, die beiden Günstlinge Ali und Ibrahim hatten nicht minder schöne Pferde zur Verfügung, und nun ging's heimwärts. Vor den Thoren des Gartens lauerten Haufen von Menschen, alte und junge, Männer und Weiber, die sich bemühten, seinen Fuss oder den Saum des Burnus zu berühren, oder auch nur sein Pferd, denn diesem wird dadurch, dass der Sohn des Propheten es besteigt, ebenfalls eine Heiligkeit mitgetheilt, und man kann den Segen herausziehen.

Einige von den Schürfa bestiegen ebenfalls Pferde oder Maulthiere, die meisten folgten zu Fuss. Unter ihnen war ich; einer der Emkadem67 Sidi's hatte sich meiner Hand bemächtigt, als ob ich nicht allein gehen könnte, oder um ja ein von Sidi ihm anvertrautes Gut nicht zu verlieren: "ich soll für dich sorgen," sagte er, und so betraten wir Uesan el Dar Demana.

[Fußnote 67: Emkadem, Verwalter oder Intendant.]

Eine enge Strasse führte uns gleich in die eigentliche Sauya, d.h. das heilige Viertel, das Sidi bewohnt, welches von der übrigen Stadt durch Mauern und Thore geschieden ist. Denn wenn auch die ganze Stadt (Uesan el dar demana heisst: Uesan das Haus der Zuflucht) ein geheiligtes Asyl ist, so ist doch speciell das Stadtquartier, welches Sidi bewohnt, heilig und unverletzlich. In diesem Quartier, gleich unterhalb seiner Hauptwohnung, bekam ich im "Rheat"68 einen Pavillon als Wohnung angewiesen, der einstmals reizend gewesen sein musste, jetzt aber etwas vernachlässigt aussah.

[Fußnote 68: Rheat heisst eigentlich Blumengarten, Blumenterrasse.]

Dieser Rheat war zur Zeit Sidi-el-Hadj-el-Arbiis, des Vaters des jetzigen Grossscherifs, ein üppiger Garten gewesen; künstlich vom Djebel Bu Hellöl hergeleitete Wasser tränkten die Orangen- und Granatbäume, hübsche Veranden und Kubben im reinsten maurischen Style erbaut, aufs prächtigste geschmückt mit Stucco-Arabesken, mit echten Slaedj69 von Fes, standen an den schönsten Punkten, und von einer jeden hatte man eine unvergleichliche Aussicht auf die gegenüberliegende Gebirgslandschaft. Sie dienten dazu, die zahlreichen Pilger aufzunehmen, eine einzelne Kubba enthielt manchmal hundert solcher frommer Leute, die monatelang auf mühevollste Art gereist waren, um Uesan und den Sohn des Propheten zu sehen: hier auf den Terrassen der Kubben, im Schatten der Arkaden einer Veranda ruhten sie aus von ihren entbehrungsvollen Wegen, sie schauten auf das Bild zu ihren Füssen, sie bewunderten die Bauten, vor allem aber priesen sie Gott, dass er ihnen die Gnade erzeigt habe, Sidi-el-Hadj-Abd-es-Ssalam sehen zu können, dass er ihnen die Gunst gewährt habe, seine Nahrung geniessen zu können, denn alle Pilger, mochten auch 1000 vorhanden sein, werden zweimal täglich aus der Küche Sidi's gespeist.

[Fußnote 69: Slaedj sind kleine Fliesen von Thon verschiedenfarbig glasirt, man benutzt sie um den Fussboden damit zu belegen.]

Zwischen dem Rheat und dem Hauptgebäude befindet sich eine grosse Djema70, die auch Freitags zum Chotba benutzt wird; ein freier Platz, auf dem die Pferde Sidi's angebunden stehen, führte dann aufs Hauptgebäude. Dies zeigt nach aussen die Thür, welche zu den Küchenräumen führt, eine Schule, worin die Söhne Sidi's mit vielen anderen Altersgenossen ihren täglichen Unterricht erhalten, und eine andere sehr niedrige Thür, welche zur eigentlichen Wohnung des Grossscherifs führte.

[Fußnote 70: Marokkanischer Ausdruck für Moschee.]

Man kommt zuerst in einen von zwei Orangenbäumen beschatteten Hof, auf diesen Hof öffnen sich eine Veranda und eine reizende Kubba71, deren eine Seite ebenfalls nach dem Hofe zu offen war. In diesen Räumlichkeiten empfängt Sidi, und namentlich nach dem Freitagsgebet findet hier immer ein grosses Essen statt, woran, alle die Theil nehmen, die mit Sidi gemeinschaftlich das Chotba-Gebet verrichtet haben. Das eigentliche Wohngebäude, welches an diesen Hof stösst, besteht aus mehreren Abtheilungen. Zuerst kommen verschiedene Zimmer, zu denen man mittelst einer niedrigen Thür und einer Treppe hinangelangt und welche die Bibliothek Sidi's enthalten, dann folgen einige auf europäische Art eingerichtete. Ausser seinen beiden kleinen Söhnen, seinen Günstlingen, Ali und Ibrahim, und einigen Sklaven, die Nachts vor seiner Thür schlafen, hat der Grossscherif diese Zimmer von Niemand betreten lassen, für seine Frauen, für seine nächsten Verwandten sind sie ein vollkommenes Harem. Da ich die Beschreibung der Zimmer gegeben habe, brauche ich wohl kaum zu sagen, dass es mir ebenfalls vergönnt war, sie zu betreten: ich musste mehrere Male auf einem Harmonium spielen, welches in einem dieser Zimmer seinen Platz hat. Von diesen Räumen gelangt man in die Häuser seiner Frauen: das Harem. Sidi-el-Hadj-Abd-es-Ssalam hatte im Anfang der sechziger Jahre drei rechtmässige Frauen.

[Fußnote 71: Mit dem Worte Kubba bezeichnet man eine viereckige Räumlichkeit mit gewölbtem oder nach oben spitz zulaufendem Dache.]

Mittelst eines Thores gelangt man aus dieser Sauya in die eigentliche Stadt Uesan; eine enge Strasse windet sich den Berg hinan, überall kleine Läden, hier findet man siedende Sfindj (in Oel gebackene Kuchen), dort werden Kiftah (Leber und Fleischstückchen) über Kohlenfeuer geröstet, hier werden Fische gebacken, dort liegen flache Brode aus: es ist dies die Garküchenstrasse, sie geht allmälig in die Gasse der Oelhändler über, welche zugleich Butter und braune Schmierseife (diese wird in Marokko bereitet), eingemachte Oliven und Chlea (in Butter eingeschmortes Fleisch) verkaufen. Grosse Thorwege der auf die Strasse mündenden Häuser zeigen uns Fonduks (marokkanische Gasthöfe), und die zahlreichen Esel, Maulthiere und Kameele, die man im Innern erblickt, sagen, dass hier viel Leben und Treiben herrscht.

So ist es auch in der That! Die grossen Schaaren von Pilgern, welche täglich in Uesan zusammenströmen, ziehen viele Kaufleute herbei. Die Pilger, die in der Sauya eine dreitägige Gastfreundschaft geniessen, bleiben oft noch länger, sie haben Waaren oder Kleinigkeiten zum Verkauf mitgebracht, andererseits wollen sie Uesaner Gegenstände erhandeln. Man kann sich denken, dass Alles was von Uesan kommt für besonders gut gilt, die Frau zu Hause will Brod vom "dar demana" haben, oder ein Stück Zeug, der Sohn muss eine hölzerne Schreibtafel vom ssuk es Uesan (Markt von Uesan) haben, dann prägt er sich die Koransprüche viel leichter ein, der Grossvater muss einen neuen Rosenkranz von Mulei Thaib haben und die echten werden nur in Uesan verkauft.

Zahlreiche kleine Kaffeehäuser, mit heimlichen Zimmerchen, wo "Kif"72 geraucht wird, liegen allerorts zerstreut und meist an den schönsten Punkten der Stadt, welche übrigens, wohin man sieht, über paradiesische Gegenden das Auge schweifen lässt. Viele dieser Kaffeehäuser, wie überhaupt die meisten Buden, gehören Sidi zu, der sie vermithet oder auch an seine Günstlinge temporär zum Ausnutzen überlässt.

[Fußnote 72: Kif heisst eigentlich Ruhe, Wohlergehen, wird aber von den Marokkanern auf das Kraut Cannabis indica übertragen, welches jene Ruhe, mit der ein starker Rausch verbunden ist, hervorbringt.]

In einigen dieser Kaffeehäuser wird sogar zur Traubenzeit Wein, und fast zu allen Zeiten Schnaps, der von Gibraltar her importirt wird, verkauft. Denn auch hierin offenbart Uesan seine Aehnlichkeit mit andern religiösen Städten, dass es ein Ort der Laster und Schwelgerei ist. Wie häufig sah ich Schürfa, die nächsten Anverwandten Sidi-el-Hadj-Abd-es-Ssalams in einem total betrunkenen Zustande. Aber ebensowenig wie die grössten Ausschweifungen, die gröbsten Verstösse gegen Sitte und Religion, je Rom den Charakter einer heiligen Stadt genommen haben, ebensowenig leidet der Ruf Uesans darunter. Der Grossscherif selbst hat bei Lebzeiten seines Vaters der Flasche fleissig zugesprochen, und ob er nicht noch manchmal im Innersten seines Hauses, an der Seite seiner Günstlinge dem Bacchus opfert, wer wollte darauf mit Gewissheit Nein sagen? Oeffentlich freilich ist er jetzt die Enthaltsamkeit selbst, er raucht nicht, er schnupft nicht, er nimmt weder Kif noch Opium (beides, obschon ebenso religionswidrig wie Weintrinken, wird in Marokko keineswegs für sehr sündhaft gehalten), kurzum, äusserlich lebt er sehr streng nach den Vorschriften des Islam, wie duldsam er aber ist, geht daraus hervor, dass er, sobald ich mit ihm und seinen Günstlingen allein war, uns erlaubte, in seiner Gegenwart zu rauchen.

Kommt man noch weiter in die Stadt, so hat man die Kessaria vor sich, d.h. die Strassen, wo Kleidungsstücke Tuche, Baumwollenzeuge und Wollfabrikate verkauft werden. Hier sieht man auch jene schönen in ganz Marokko bekannten Djelaba Uesania ausbieten, Ueberwürfe aus feinster weisser Wolle gewebt. Man durchschreitet die Atharia, d.h. die Strassen, wo Gewürze, Essenzen und Kramwaaren feil geboten werden, und befindet sich nun vis à vis der grossen Moschee von Mulei Abd-Allah Scherif.

Diese Djemma ist eine der berühmtesten im ganzen marokkanischen Reiche, hier liegt der Gründer Uesans, der Stifter der Sauya, die heute dar demana, d.h. Zufluchtsort fürs ganze Reich73 ist, begraben. Wie alle marokkanischen Moscheen bildet ein grosser Hofraum, dann verschiedene Säulenreihen, deren Gallerien man Schiffe nennen kann, die architektonische Anordnung. Ausser Mulei Abd-Allah liegt der Hadj el Arbi, der Vater des jetzigen Grossscherifs, in der Moschee begraben. Ein kostbarer Sarkophag mit Tuch überhangen, birgt in einer Nebencapelle die irdischen Reste dieses grossen Heiligen. In der That war kein Abkömmling des Propheten so wunderthätig wie der Vater Sidi's, namentlich soll er die Gabe gehabt haben, die Fruchtbarkeit der Weiber zu vermehren. Er selbst hatte freilich nur einen Sohn, den jetzigen Grossscherif, der ihm im späten Lebensalter von einer Sklavin geboren wurde.

[Fußnote 73: Häufig entfliehen Leute ans den Gefängnissen des Sultans, gelingt es ihnen Uesan zu erreichen, wo sie sich entweder in das Grabgewölbe eines Heiligen flüchten, oder zu den Füssen des Pferdes des Grossscherifs legen, so werden sie immer begnadigt. Schwere Verbrecher dürfen aber die Sauya nicht mehr verlassen, sonst sind sie vogelfrei.]

Wie gross aber von jeher Macht und Ansehn der Schürfa von Uesan gewesen ist, geht am besten aus einer Beschreibung von Ali Bey hervor T.I. p. 269: Je parlerai ici des deux plus grands saints qui existent maintenant dans l'empire de Maroc: l'un est Sidi Ali Ben-Hamet qui réside à Wazen (dies ist der Grossvater Sidi's und Wazen ist englische Schreibart für Uesan) etc. Ferner p. 270: J'ai déjà remarqué que ce don de sainteté était héréditaire dans certaines familles (A. Bey bestätigt hier meine oben angeführte Thatsache von der mohammedanischen erblichen Heiligkeit). Le père de Sidi Ali était un grand saint, Ali l'est à présent et son fils aîné commence à l'être aussi.

Ausser diesen Hauptstadttheilen sind dann noch verschiedene Strassen, wo Handwerke betrieben werden: hier werden gelbe Pantoffeln, dort rothe Frauenschuhe verfertigt, hier arbeiten Sattler, dort sind Schmiede, hier wird gedrechselt, dort wird geschneidert; überall halten sie die verschiedenen Handwerke beisammen. Auch eine Mälha, d.h. ein Judenquartier, giebt es, und warum auch nicht, hatte nicht Rom auch sein Ghetto? Es giebt keine marokkanische Stadt, ja es giebt keine marokkanische Oase in der Sahara, wo nicht Juden wären74.

[Fußnote 74: In Tuat, welches politisch zu Marokko gerechnet wird, sind allerdings keine Juden, Tuat aber liegt geographisch ausserhalb Marokko's, es gehört seiner Lage nach zu Algerien.]

In Uesan unter dem milden Scepter Sidi's lebten die Juden ziemlich erträglich, aber in anderen Städten Marokko's Israelit sein, heisst die Hölle hier auf Erden haben. Dennoch dürfen sie auch in Uesan keinen rothen Tarbusch tragen, sondern nur einen schwarzen, sie dürfen die Oeffnung des Burnus nicht wie die Muselmanen nach vorn tragen, sondern müssen dieselbe auf der Seite haben, sie dürfen keine gelbe oder rothe Pantoffeln, sondern nur schwarze und auch diese nur in ihren Häusern und in der Mälha tragen. Sie müssen, sobald sie einem Gläubigen begegnen, links ausweichen, endlich sind ihnen verschiedene Strassen, wie bei der Hauptmoschee oder bei den Grabstätten der Heiligen vorbei, gänzlich untersagt. Sie dürfen ausserdem in den Städten und Oertern nie ein Pferd besteigen und müssen jeden Mohammedaner mit "Sidi," d.h. "mein Herr," anreden. Man könnte Seiten vollschreiben, wollte man all die Vexationen, die Erniedrigungen und Demüthigungen, welchen die Juden in Marokko unterworfen sind, aufschreiben.

v. Augustin75 sagt p. 129: "Auf dem Markte müssen sich die armen Juden die empörendsten Erpressungen von den Marokkanern gefallen lassen, und unter ihren Bedrückern stehen obenan die Garden des Sultans, welche sich alle möglichen Frechheiten erlauben. Nicht selten reisst ein solcher Halbmensch dem Juden eine Waare aus den Händen, welche dieser eben einem Käufer vorzeigt, und hat dieser selbst nicht die feste Absicht sie zu kaufen und wehrt sich gegen solche Eingriffe, so schreitet jener unbekümmert und laut lachend mit seinem Raube fort, trotz des Jammergeschreies, welches ihm von dem Beraubten nachtönt, welcher aber dennoch seine Bude nicht verlassen darf, um den Räuber zu verfolgen, weil sie sonst in wenigen Augenblicken rein ausgeplündert wäre. Wagte er es aber, sich thatsächlich zu widersetzen, so kann er sich versichert halten, halbtodt geschlagen zu werden, oder man führt ihn zum Kadi, wo er Unrecht bekommen muss, da kein Jude einen Mohammedaner schlagen darf."

[Fußnote 75: Marokko in seinen geographischen etc. Zuständen, von Frhrn. v. Augustin, Pesth 1845.]

Man kann die Bevölkerung von Uesan auf 10,000 Einwohner rechnen, wenn man die der Dörfer Rmel und Kascherin, die mit Uesan zusammenhängend sind, hinzurechnet. Von diesen sind etwa 800 bis 1000 Juden. An manchen Tagen vermehrt sich die Bevölkerung um einige 1000 Pilger, namentlich zur Zeit der grossen Feste.

Die Tendenz des jetzigen Sultans von Marokko, Sidi-Mohammed-ben-Abd-er- Rahman, ist darauf aus, den Einfluss der Schürfa so viel wie möglich einzuschränken, und so hat er es denn auch durchgesetzt, dass gegenwärtig ein Kaid und einige Maghaseni (Reiter von der regelmässigen Cavallerie des Sultans, die in Friedenszeiten auch zu Polizeidienst gebraucht werden), welche die Regierung des Sultans repräsentiren sollen, in Uesan wohnen. Ihr Einfluss ist aber gleich Null, und sie selbst sind angewiesen, in wichtigen Sachen die Entscheidung Sidi's einzuholen. Wie einflussreich beim marokkanischen Gouvernement der Grossscherif von Uesan ist, geht allein schon daraus hervor, dass kein marokkanischer Kaiser anerkannt wird, wenn er vorher nicht gewissermassen die Weihe vom Grossscherif von Uesan erhalten hat. Als nach dem Tode des Sultans Mulei-Abd-er-Rahman-ben-Hischam verschiedene Bewerber um den Thron von Fes auftraten, und namentlich der älteste Sohn des Sultan Sliman, ein gewisser Mulei-Abd-er-Rahman-ben- Sliman, mit viel grösseren Rechten zur Nachfolge hervortrat, verdankte Sidi Mohammed seine rasche Besteigung des Thrones nur dem Umstände, dass Sidi- el-Hadj-Abd-es-Ssalam ihm nach Mekines entgegen reiste und durch seine Anerkennung (er stieg von seinem Pferde und führte das edle Ross dem Sultan zu Fuss entgegen, der es bestieg und dann sein Pferd dem Grossscherif zum Geschenk machte) alle Mitbewerber aus dem Felde schlug.

Der Einfluss des Grossscherifs ist indess nicht bloss deshalb so gross, weil er der directe Nachkomme Mohammeds, sondern weil er der reichste Mann im ganzen Kaiserreich Marokko ist. Es giebt in Marokko keinen Tschar, keinen Dnar, keinen Ksor76, in dem der Grossscherif nicht eine Filialsauya oder einen Emkadem hätte. Die Emkadem sind angewiesen, in ihren Sprengeln jährlich Geld zu sammeln, das, wie der Peterspfennig nach Rom, in die Gasse Sidi's nach Uesan fliesst. In der ganzen Provinz Oran, in der Oase Tuat sind fast alle Mohammedaner "Fkra," d.h. "Anhänger" Mulei Thaib's von Uesan. Der reelle Einfluss geht bis Rhadames im Osten, bis Timbuktu im Süden. Aber selbst in Alexandrien, in Aegypten, in Mekka, in Arabien, sind Sauya des Grossscherifs von Uesan.

[Fußnote 76: Ksor, Ortschaften in den Oasen.]

Um den Glauben der Mohammedaner, d.h. die Opferwilligkeit, wach zu halten, werden jährlich zahlreiche Schürfa, die nächsten Verwandten Sidi's in die ganze mohammedanische Welt geschickt, um die Wunder und Herrlichkeit Uesans zu verkünden. Sidi beklagte sich bitter, dass die Franzosen in letzter Zeit den Schürfa von Uesan verboten hatten, in Algerien ihre Rundreisen zu machen. Es hat dies aber seinen guten Grund, zum Theil wollen damit die Franzosen verhüten, dass so viel Geld ausser Landes geht, zum Theil aber hatten die Schürfa sich in Politik gemischt, die Gläubigen gegen ihre ketzerischen Herren aufgereizt, was die algerische Regierung sich natürlich nicht gefallen lassen konnte.

Während der ganzen Zeit meines Aufenthalts erfreute ich mich der grössten Zuneigung und Gastfreundschaft des Grossscherifs.

Ich musste fast den ganzen Tag mit ihm zubringen, von Morgens früh, wo er mich rufen liess, Kaffee mit ihm und seinen Günstlingen zu trinken, bis Abends, wo er sich in seine Wohnung zurückzog. Wenn ich manchmal Zeuge war, wie er im selben Augenblicke den Leuten, die soeben ihr Geld, ihre Kostbarkeiten ihm geopfert hatten, mit ernstester Miene den Segen ertheilte, und dann, sobald sie den Rücken gekehrt hatten, sich über sie lustig machte, auch wohl sagte: "was für Thoren sind diese Leute, mir ihr Geld zu bringen", so dachte ich den aufgeklärtesten Mann vor mir zu haben, andererseits sah ich aber so viele Thatsachen, wo er von seiner eigenen Macht, von seinem besseren "Sein" überzeugt war, dass es mir schwer wurde, diese Widersprüche zu erklären.

Aber Alles dient in Uesan dazu, von Jugend auf dem Grossscherif einzuprägen, dass nicht nur die Mohammedaner, die vor Gott allein Gläubigen, sondern dass unter den Mohammedanern die Araber (der Koran darf z.B. bei allen mohammedanischen Völkern nur arabisch gelehrt werden) das auserwählte Volk sind, dass im auserwählten Volk die Schürfa als Nachkommen Mohammeds den vorzüglichsten Platz einnehmen, und dass unter den Schürfa wieder der directeste Nachkomme der von Gott am meisten Bevorzugte ist. In dieser Art und unter dieser Auffassung wird der Sohn Sidi's erzogen. Dieser, Namens Sidi-el-Arbi, entwickelte denn auch zu der Zeit schon ganz den Stolz und Eigendünkel, den eine solche Lehre hervorbringen muss. Dass trotzdem bei Sidi sowohl als auch, wie es den Anschein hatte, bei seinem ältesten Sohne, Sidi-el-Arbi, Herzensgüte und eine gewisse Bescheidenheit nicht unterdrückt werden konnte, ist wohl darin zu suchen, dass immer fremdes Blut in die Familie kommt, wie denn Sidi's Mutter, wie schon gesagt, eine Haussa ist. Es beruht dies auf dem Gesetz der Erblichkeit, denn während Hochmuth, Eigendünkel etc. väterlicherseits mitgebracht wird, können andererseits die Eigenschaften, welche von mütterlicher Seite in die Familie kommen, nicht unterdrückt werden.

Dass aber der spanische Krieg auch keineswegs nachhaltend civilisatorisch auf den Grossscherifs wirkte, sah ich daraus, dass er, als ich später wieder Uesan besuchte, seine christliche Militairuniform abgelegt hatte, und dafür sich mit einer Djelaba wie die übrigen Schürfa kleidete. Er mochte, wohl recht haben; auf meine Frage nach dem Beweggrund, erwiederte er: sein Ansehen leide, und er müsse, um die Gelder reichlich fliessen zu machen, dem Volke in seinen Vorurtheilen nachgeben.

Die Haltung des Grossscherifs hat aber natürlich auf das ganze Leben und Treiben in Uesan den grössten Einfluss. Und wenn wir auch Fortschritte in Tanger und Mogador constatiren können, wo die grössere Frequenz mit Europa neben Hotels in ersterer Stadt sogar Dampffabriken ins Leben gerufen hat, wo man angefangen hat, den Christen heute mit den Gläubigen eine gleichberechtigte Stellung einzuräumen, so braucht man solche Fortschritte von Uesan nicht zu fürchten. Sollte es einem Europäer heute gelingen, nach dieser heiligen Stadt hinzukommen, er kann sicher sein, Uesan el dar demana so zu finden, wie es geschildert ist, d.h. auf demselben Standpunkte der Bildung, auf dem es sich seit Jahrhunderten schon befunden hat: man glaubt sich ins volle Mittelalter zurückversetzt.