Kapitel 10 - Politische Zustände.

Marokko hat eine Regierung so despotisch und tyrannisch eingerichtet, wie man sie eben nur da findet, wo zu gleicher Zeit geistige und weltliche Herrschaft in einer Person vereint ist, und der Grund zu diesem absolutesten Despotismus liegt doch keineswegs im Charakter des arabischen oder berberischen Volkes, einzig und allein die mohammedanische Religion ist Schuld daran.

In allen Ländern, auf welche sich der Islam ausgedehnt hat, ist es ähnlich. In der Türkei, in Persien, in Aegypten, in Tunis, überall die absoluteste monarchische Herrschaft, ja sogar in Centralafrika hat die mohammedanische Religion in den Staaten, von denen sie Besitz ergriffen hat, dem jeweiligen Fürsten unbeschränkte Macht verliehen, so in Uadai, Bornu, Sokoto und Gando.


Vor dem Islam lebten die Araber in kleinen Triben unter patriarchalischen Herrschern, und wenn die Berber Nordafrika's es zuweilen vermochten, sich zu Königreichen zu vereinigen, so war dennoch die Gemeindeabtheilung, kleine von einander unabhängige Republiken, ihre Urregierungsform. So finden wir in Nordafrika die Araber und Berber noch da, wo sie sich unabhängig von den grossen Staaten zu erhalten gewusst haben.

Nach der Entstehung des Islam folgte es von selbst, die politische Autorität mit der des obersten Priesters in einer Person zu vereinigen. Nach unten giebt es im Mohammedanismus keine Hierarchie, keine Priesterkaste, keine privilegirten Menschen, mit Ausnahme derer, welche Mohammed selbst als bevorzugt bezeichnete: das sind seine eigenen Nachkommen.

Freilich die vollkommene Unbeschränktheit, wie sie jetzt die Sultane von Marokko gemessen, "absolute Unfehlbarkeit," kam erst dann zu Stande, als im Anfange des 16. Jahrhunderts Sultane aus der Familie der Schürfa auf den marokkanischen Thron kamen. Seit der Zeit hat im eigenen Lande der Marokkaner die Macht und Unfehlbarkeit der Herrscher immer mehr zugenommen, das Wohl, die Bildung und der Fleiss des Volkes aber von dem Augenblick an auf merkwürdige Weise abgenommen.

Der Sultan von Marokko nennt sich "Beherrscher" oder auch "Fürst der Gläubigen," Hakem el mumenin, oder will er politisch als Herr des Landes sich bezeichnen, schreibt er Mul' el Rharb el Djoani97.

[Fußnote 97: Alle anderen Titel, wie z.B. bei Lempiere: "Emperor of Africa" (die Marokkaner wissen gar nicht was Afrika ist), "emperor of Marokko, King of Fes, Suz and Gago, Lord of Dara and Guinea and great Sherif of Mohamet" (?), sind Erfindungen der Europäer selbst.]

Von seinen Unterthanen wird er "Sidna," unser Herr, oder auch "Sultan," "Sultana," Sultan, unser Sultan genannt. Andere Ansprachen sind nicht üblich. Seine erste Frau, die nicht nothwendig ein weiblicher Scherif zu sein braucht, hat den Titel Lella-Kebira, und gebiert sie einen Thronfolger, so hat sie für immer das Recht den Harem zu regieren und bei der Wahl der übrigen Weiber eine gewichtige Stimme. Der älteste Sohn bekommt den Titel Sidi el Kebir oder Mulei el Kebir, denn Sidi und Mulei im Singular wird immer gleichbedeutend gebraucht, während Muleina, der Plural, nur auf den Propheten angewendet wird. Wie alle Mohammedaner, hat der Sultan gleichzeitig nur vier rechtmässige Frauen, die nach Belieben fortgeschickt oder erneuert werden; wie viele unrechtmässige, d.h. nicht angetraute junge Mädchen und Frauen in den vier Harems sind, weiss der Sultan, trotz seiner Unfehlbarkeit wohl selbst nicht.

Ein Gesetz über Erbfolge giebt es bei den Mohammedanern nicht, also existirt darin auch keine Regel für Marokko. Der augenblicklich auf dem Thron sitzende Fürst ist der zweite Sohn des verstorbenen Sultans, und dieser selbst war Neffe seines Vorgängers. Er heisst Sidi Mohammed ben Abd- er-Rhaman und ist im Jahre 1805 geboren. Wenn schon unter seinen Vorgängern, Sultan Sliman und Abd-er-Rhaman, Vieles anders am marokkanischen Hof geworden ist, so wechselte noch mehr unter der Regierung des jetzigen Herrschers, und trotzdem dieser nicht wie sein Vater Gelegenheit gehabt hat, mit Europäern auf gleichem Fuss zu verkehren und sie so besser kennen zu lernen, schätzt doch gerade Sidi Mohammed mehr als einer seiner Vorgänger die Christen. Der Vater Mohammed's war nämlich vor seiner Thronbesteigung Bascha in Mogador gewesen, hatte dort viel mit den Consuln verkehrt und somit europäische Gewohnheiten und Gebräuche kennen gelernt. Sidi Mohammed war aber fortwährend Bascha von der Stadt Marokko gewesen, ehe er Sultan ward.

Die Regenten von Marokko haben keinen eigentlichen Divan oder Midjelis, und die Etikette am Hofe ist äusserst streng. Es giebt aber gewisse Leute, die den Vorzug haben, sich setzen zu dürfen, z.B. die Prinzen, Gouverneure der Provinzen, vornehme Schürfa, während die gewöhnlichen Sterblichen vor dem Kaiser nur hocken oder knieen dürfen. Vorgelassene Bittsteller dürfen nur von weitem ihr Anliegen vorbringen in knieender Stellung, und nachdem sie vorher den Erdboden geküsst haben. In Gegenwart des Sultans darf das Wort "gestorben" nicht ausgesprochen werden, damit er nie an den Tod erinnert werde. Man umschreibt dies, z.B. mit: er hat seine Bestimmung erfüllt, ebenso darf nie die Zahl "fünf" vor dem Sultan ausgesprochen werden, man sagt dafür "4 und 1" oder "3 und 2". Dieser sonderbare Brauch98 erklärt sich wohl daraus, weil fünf die Zahl der Finger das Symbol der Hand, der despotischen Macht ist. In allen mohammedanischen Landen wird man auch häufig an den Häusern eine rothangemalte Hand oder einfach den Abdruck einer Hand oder mehrerer finden, man glaubt dadurch Gewalt und Einbruch abhalten zu können, das Haus wird hiemit unter die unsichtbare Macht einer starken Hand gestellt.

[Fußnote 98: S. Jackson, Account]

Spricht man in Gegenwart des Sultans von einem Juden, so wird vorher "Verzeihung" gebeten, "Haschak," weil die Juden für unrein gehalten werden. Früher galt das auch von den Christen, aber schon unter Abd-er-Rhaman kam diese Unsitte ab. Es versteht sich von selbst, dass Niemand mit Pantoffeln vor dem Sultan erscheint, doch haben die hohen Beamten die Erlaubniss, ihre gelben ledernen Stiefelchen anbehalten zu dürfen. Decorationen giebt es in Marokko nicht, indess dachte man im Jahre 1864 daran, einen Orden zu stiften, den vom Sultan Salomon (dem jüdischen König). Modelle waren angefertigt, ähnlich wie die, welche König Theodor von Abessinien hatte machen lassen. Die grösste Auszeichnung, die der Sultan von Marokko gewährt, ist die, wenn er selbst seines Burnus sich entledigt, und ihn einem der Anwesenden schenkt. Vornehme Personen werden zum Handkusse zugelassen, seine Kinder, seine Brüder und die allernächsten Günstlinge dürfen auch die innere Fläche der Hand küssen99.

[Fußnote 99: S. Aly Bei el Abassi.]

Der vom Sultan gemachte Aufwand ist verhältnissmässig gering und besteht hauptsächlich in schönen Waffen, herrlichen Pferden und einem grossen Harem, bewacht von einer glänzend gekleideten Schaar von Eunuchen. Die einflussreiche Stellung, welche diese unglücklichen Geschöpfe unter den früheren marokkanischen Fürsten hatten, hat indess jetzt ganz aufgehört und beschränkt sich lediglich darauf, unbeschränkt in dem Theile des Palastes zu herrschen, in den auser [außer] dem Sultan keine Mannsperson eintreten darf. Aehnlich gekleidet wie die marokkanischen Maghaseni oder Reiter, haben sämmtliche Eunuchen silbergestickte Leibgürtel. Alle haben einen stark riechenden duftenden Namen; so hiess in Mikenes der Eunuchenoberst "Kaid Kampher", andere hiessen Moschus, Amber, Thymian etc. Ein Theil des Harems ist stets mit dem Sultan unterwegs, dieser besteht aus den Lieblingsfrauen, Quintessenz der vier Harem von Fes, Mikenes, Rbat und Marokko. Marschirt der Sultan, so hat er zwei grosse Zelte, ein jedes umgeben von einer äusseren vom Hauptzelte unabhängigen Zeltwand. Beide Zelte sind durch einen Zeltgang verbunden: das eine bewohnt der Sultan, das andere ist für die Frauen. Im äusseren Umgang des für die Frauen bestimmten Zeltes halten sich die Eunuchen auf.

Die Regierung des jetzigen Sultans besteht aus dem ersten Minister, der vom Volke Uisir el Kebir genannt wird, sonst aber den Titel "Ketab el uamer", Schreiber des Fürsten, hat. Dieser ist der allmächtigste Mann im Reiche, ehemaliger Lehrer des Sultans, und sein Einfluss, namentlich in allen äusseren Angelegenheiten, ist entscheidend; sein Name ist Si-Thaïb-Bu- Aschrin-el-Djemeni. Der unmittelbare Verkehr mit den europäischen Consuln findet in Tanger statt, durch den dortigen Gouverneur, der den Titel Uisir- el-uasitha hat, und der seine Instructionen in dieser Beziehung vom Uisir- el-Kebir oder auch direct vom Sultan bekommt.

In allen despotischen Staaten, und vorzugsweise in mohammedanisch- despotischen Staaten, wird manchmal der niedrigste und dümmste Mann durch eine Laune des unfehlbaren Herrschers zum obersten Posten hinaufgehoben. Wer sollte sich dem auch widersetzen? In Marokko Niemand; allerdings giebt es fast allmächtige Kaids, unabhängig in ihren Provinzen regierend; allerdings giebt es die Classe der Schürfa, der Abkömmlinge Mohammeds, die sich wohl erdreisten, fern vom Sultan in Gegenwart des ganzen Volkes zu sagen: "Ich bin auch Scherif, und der Sultan hat kein besseres Blut in seinen Adern als ich;" allerdings ist da der Grossscherif von Uesan, der sagt, er stamme directer von Mohammed, als der Sultan selbst, und dieser allein wagt auch manchmal zu trotzen—aber sonst ist Niemand im Lande, der in Gegenwart des unfehlbaren Herrschers nicht von seiner eigenen Nichtigkeit und Unbedeutendheit überzeugt wäre.

So ist denn auch der zweitmächtigste Mann im Reiche, Si-Mussa, den ich gewissermaßen "Minister des kaiserlichen Hauses" tituliren möchte, weiter nichts, als ein ehemaliger Sklave, ein Neger von Haussa. Er hat nur das Verdienst, mit dem jetzigen Sultan aufgewachsen zu sein, und leitet augenblicklich alle inneren Palast-Affairen. Sein Bruder, Si-Abd-Allah, ebenfalls ein Haussa-Neger und ehemaliger Sklave, ist dermalen Kriegsminister.

Wichtiger Posten am Hofe von Marokko ist der des Mschuar. Der Kaid el Mschuar hat das Amt, Bittende, Fremde, Besuchende dem Sultan vorzuführen. Da man nur ausnahmsweise, um vom Sultan empfangen zu werden, sein Gesuch durch einen andern Minister anbringen lassen kann, ist dieser Posten sehr einträglich, folglich auch einflussreich. Denn jedes derartige Gesuch muss erst durch ein Geschenk, angemessen nach dem Reichthum des Petenten, unterstützt sein. Ebenso werden Consuln, wenn sie in Gesandtschaft zum Sultan kommen, oder auch in Rbat in gewöhnlicher Audienz empfangen werden, durch den Kaid el Mschuar eingeführt. Wie viele Plackereien damit für Europäer verbunden sind, wie vom Kaid el Mschuar abwärts Jeder, der ein Aemtchen hat, seinen Fremden auszubeuten bestrebt ist, davon hat Maltzan eine anziehende Schilderung gegeben.

Der, welchen man in Marokko den Minister des Innern nennen könnte, der aber zugleich auch Gross-Siegelbewahrer ist, der Mul-el-taba oder Kaid-el-taba, ist derzeit auch eine vollkommen aus dem Staub, oder, wie der Marokkaner sich viel kräftiger ausdrückt, aus dem Dr. ... "Sebel" heraufgekommene Persönlichkeit. Der Mul-el-Taba beräth mit dem Sultan die Besetzung der Kaid- oder Gouverneurstellen in den Provinzen und Städten.

Es giebt keinen eigentlichen Schatzmeister in Marokko, oder gar einen Finanzminister, denn den Schlüssel zur Hauptcasse, welche in Mikenes sein soll, hat der Sultan selbst. Dass eine Hauptabtheilung des dortigen Palastes, von aussen einen vollkommen viereckigen steinernen Würfel darstellend, "el dar-el chasna," oder "bit el mel", Schatzhaus heisst, kann ich aus eigener Anschauung bestätigen; anscheinend hat dieses massive Gebäude von aussen gar keinen Zugang, indess liegt eine Seite nach dem Harem zu, von wo aus der Eingang wohl sein wird. Die Marokkaner behaupten, der Zugang zum Schatz sei unterirdisch vermittelst eines Tunnels. Das Innere wird beschrieben als eine ausgemauerte Höhlung, in deren Innerem wieder ein gemauertes Gemach enthalten sei100. Alles dies ist wohl Fabel, denn Niemand, auch nicht der Kaid-etsard oder Schatzmeister, hat wohl je einen Blick ins Innere gethan. Ebenso sind die Summen, welche im Schatzhaus angehäuft liegen sollen, wohl lange nicht so bedeutend, als Manche herausgerechnet haben. Französische Schriftsteller haben die Ersparnisse der marokkanischen Regenten auf 300 Millionen Franken, ja auf eine Milliarde veranschlagt, ohne zu bedenken, dass das, was der eine Sultan zurückgelegt hatte, oft vom folgenden, der durch Usurpation und Gewaltmittel auf den Thron kam, in einem Tage der Plünderung preisgegeben wurde. Als z.B. an Spanien jene 22 Millionen spanische Thaler Kriegsentschädigung gezahlt werden mussten, fand es sich, dass der Staatsschatz leer war. Oder durfte und wollte der Sultan ihn nicht angreifen? Das Nichtvorhandensein des Geldes ist das Wahrscheinlichere.

[Fußnote 100: S. Höst p. 221, der die Höbe des damaligen Schatzes auf 50 Millionen Thaler angiebt.]

Eine kirchliche Behörde giebt es in Marokko nicht, der Sultan als unfehlbar vereinigt Papst, Cultusministerium oder oberste Synode, wie man bei den Christen dergleichen Einrichtungen nennt, in seiner Person.

Ich unterlasse es, auf niedere Aemter am Hofe von Marokko einzugehen, werde jedoch einige derselben, wie sie jetzt noch existiren, erwähnen: den Mundkoch Mul' el tabach, den Sonnenschirmträger Mul' el schemsia, Säbelträger Mul' el skin, den Theeservirer Mul' el atei, Speiseträger Mul' el taam. Alle diese Aemter werden meist von Sklaven versehen, viele aber auch, und es giebt derer noch fünfzig, von freien weissen Leuten. Für die kleinste Handthierung ist ein besonderer Angestellter vorhanden, z.B. für den, der die Pantoffel des Sultans umdreht, damit er sie beim Anziehen gleich wieder fussgerecht vor sich hat. Um den Steigbügel zu halten, um eine Schale mit Wasser zu bringen, um die ausgetrunkene Theetasse in Empfang zu nehmen, um die Serviette zu reichen, um das Waschbecken zu präsentiren, für jeden kleinen Dienst hat der Sultan einen besonderen Angestellten. Man glaube aber nicht, dass alle diese Leute besoldet sind. Ziemlich gute Kleidung, oft die, welche der Sultan oder die Prinzen abgelegt haben, und die sieh von der fürstlichen Tracht durch nichts unterscheidet, als durch grössere Fadenscheinigkeit—dann Nahrung, das ist Alles, was dieses Heer von Bedienten und Beamten bekommt. Aber keineswegs sind sie deshalb ohne Geld, von Jedem, der nach Hofe kommt, wissen sie etwas zu erpressen; gehen sie in die Stadt auf die Märkte, so entlocken sie bald hier einem unglücklichen Juden, dort einem leichtgläubigen Landmann eine Mosona, wer würde der Bitte oder der Drohung eines Ssahab sidna widerstehen? Es ist das officieller Name aller Beamten und Diener. Der erste Minister des Sultans, wie sein letzter Sklave, schämt sich dieses Titels nicht, was wiederum seinen Grund daher hat, weil in den Augen des Sultans der höchste Beamte keinen grösseren Werth hat als der letzte Sklave. Vor der marokkanischen Unfehlbarkeit verfällt mit derselben Leichtigkeit das Haupt des rechtschaffensten Beamten dem Schwert, wie das eines Verbrechers, der es wirklich verdient hat. Eigentlich kann daher Unfehlbarkeit nur in einem solchen Lande vollkommen blühen und existiren wie in Marokko, d.h. in einem Lande, wo das Gesetz nichts gilt, sondern Alles sich der Laune eines schwachköpfigen Fanatikers fügen muss.

Es giebt kein höchstes Justizamt in Marokko; vom Kadi einer einzelnen Provinz oder einer Stadt, oder eines kleinen Ortes kann nur an den Uisir oder an den Sultan appellirt werden, welche letztere nach ihrem Gutdünken das gefällte Urtheil bestätigen oder verwerfen.

Die einzelnen Provinzen und Ortschaften werden manchmal von Kaids und Schichs regiert, die direct, wenn es sich um Provinzen und um grössere Städte handelt, vom Sultan ernannt werden. So wie wir auf den meisten Karten die verschiedenen Provinzen abgegrenzt finden, existiren sie in administrativer und gerichtlicher Beziehung nicht. Die Kaid stehen einem Kaidat vor, das manchmal aus einer Stadt mit verschiedenen Triben oder Dörfern besteht. Oft ist ein Kaid direct vom Sultan abhängig, oft hat ein Kaid oder Schich 40 oder gar 100 Kaids, die unter ihm stehen. Ein Kaid hat manchmal nur einen Duar101, einen Tschar102, eine Tribe zu commandiren, manchmal deren 20, 50 und noch mehr. Ein Kaid commandirt z.B. vielleicht zu einer Zeit die beiden Rhabprovinzen mit den Triben darin, oder wie zur Zeit des jetzt regierenden Sultans sind sie getheilt, und werden von zwei Kaids regiert. Der Titel "Kaid" ist der allein officielle, sowohl für die Beamten einer grossen Provinz, wie für die einer kleinen Ortschaft. Gleichbedeutend ist der Name "Schich", den man vorzugsweise in den Gegenden von überwiegender Berber-Bevölkerung antrifft. Der Titel "Bascha" wird nur einzelnen besonders hervorragenden Gouverneuren, z.B. dem von Alt-Fes, verliehen. Der Titel "Chalifa" schliesst immer eine Stellvertretung in sich, so hat z.B. der älteste Sohn des Sultans unter der Regierung des jetzigen Kaisers, sobald dieser nach Marokko übersiedelt, den Titel "Chalifa von Fes" als seines Vaters Stellvertreter. Kehrt der Sultan nach Fes zurück, hat einer der Brüder des Sultans, Mulei Ali, in der Hauptstadt Marokko den Titel "Chalifa". Es ist dies die einzige Erinnerung daran, dass ehemals Fes und Marokko getrennte Königreiche waren.

[Fußnote 101: Zeltdorf.]

[Fußnote 102: Bergdorf aus Häusern.]

Es würde unmöglich sein, genau die Grenzen der verschiedenen Provinzen Marokko's angeben zu wollen, da überhaupt je nach den Launen der Regierung heute eine Provinz vergrössert, morgen verkleinert oder gar entzwei geschnitten wird, heute eine Tribe dieser, morgen jener Provinz einverleibt wird, manchmal mit den Provinzen eine geographische Bezeichnung für immer verbunden ist, manchmal auch nicht.

Auf der Abdachung des Atlas nach dem Mittelmeer und Ocean, umfasst von der Gebirgskette, welche zwischen Cap Gehr und Cap el Deir hinzieht, haben wir im Norden die Andjera und Rif-Provinz, südlich von Andjera die beiden Rharb-Provinzen, und dann längs des Oceans von Norden Beni-Hassen, Schauya, Dukala, Abda, Schiadma und Haha. Südlich vom Rif die Hiaina, und südlich von der Hiaina die Provinz Fes. Auf den Stufen des Atlas liegen östlich von Haha die Ahmar und die Erhammena, dann Maroksch (District der gleichnamigen Stadt), und nördlich von Maroksch, Temsena und östlich Scheragna. Diese soeben aufgeführten Districte, die aber keineswegs alle eine besondere Regierung haben, und deren Grenzen nicht genau bestimmt sind, dürften die Benennungen für die bezeichneten Oertlichkeiten sein. In denselben, sind indessen Districte enthalten, die ebenso gut den Namen Provinz führen könnten. Die östliche Partie des Garet, welche Provinz westlich mit dem Rif zusammenhängt, ist in den letzten Jahren als Beni-Snassen bekannt geworden, ein eigener politisch begrenzter District, mit eigenem Kaid. Südlich von der Provinz Fes, von Scheragna, Maroksch und Erhammena sind Atias aufwärts noch die verschiedensten Districte bis zum Kamme des Gebirges, aber die Namen derselben zum Theil unbekannt, zum Theil wissen wir nicht mit derselben Sicherheit anzugeben, wohin sie setzen. Von Fes in südöstlicher Richtung könnte ich constatiren den District der Beni Mtir und der Beni Mgill.

Südlich vom Cap Gehr längs des Oceans sind die Provinzen Sus und Nun (mit Tekna), der Staat des Sidi Hischam existirt nicht mehr103. Die Provinz Draa kommt natürlich nur soweit hier in Geltung, als sie bewohnt ist, das ist bis zum Umbug des Flusses nach Westen. Es folgt sodann östlich vom Draa Tafilet mit seinen verschiedenen Districten, und nordöstlich von Tafilet die verschiedenen kleinen Oasen am südöstlichen Atlasabhange, die bedeutendste davon ist Figig. Endlich die südöstlichste Provinz von Marokko ist Tuat.

[Fußnote 103: Per Name "Dschesula" oder, wie Renou auf seiner Karte hat, Gezoula, existirt nirgends südlich vom Atlas, vielleicht soll er auf den Karten bloss die Gaetuler der Alten in Erinnerung bringen.]

Ueber die Einnahmen und Ausgaben des Sultans von Marokko lässt sich nichts Bestimmtes sagen, da keine Staatsbücher darüber existiren, die Einkünfte dem Zufall unterworfen und der Laune der einzelnen Kaids anheimgegeben sind, oft auch andere Umstände eintreten, die ganz unvorhergesehen sind.

Im Jahre 1778 veranschlagte Höst, auf Koustroup fussend, die Einnahme auf eine Million Piaster104, hervorgegangen aus Zoll, Schutzgeldern, Thorsteuern, Judenabgaben, Monopolen, Miethen, Strassenzöllen und ausländischen Geschenken, letztere figuriren allein mit 250,000 Piastern. An Ausgaben giebt er nur 300,000 an, so dass 700,000 Piaster für den Schatz geblieben wären. Da der zu der Zeit regierende Sultan im Jahr 1778 zwei und zwanzig Jahre regierte, meint Höst den Schatz in der Bit el mel auf 13 Millionen Piaster veranschlagen zu können.

[Fußnote 104: Ein spanischer Piaster ungefähr 1 Thlr. 13 Sgr.]

Im Jahr 1821 giebt Hemsö die Einkünfte auf 2,600,000 Thaler an, darunter an Geschenken für 225,000 Thaler. Die Ausgaben berechnet er auf 990,000 Thaler, und wie Höst schliessend, dass Sultan Soliman seit seiner Thronbesteigung im Jahre 1793 jährlich eine Ersparniss von 1,600,000 Thaler gemacht habe, meinte er, müsse in der Bit ei mel nach einer Regierung von 34 Jahren zum mindestens die Summe von 50 Millionen Thaler sein.

Neuere Nachrichten liegen über den Staatshaushalt nicht, vor, denn Jules Duval in der Revue des deux Mondes von 1859 hat einfach von Hemsö abgeschrieben, die Zahlen für die neuesten ausgegeben, ohne der Quelle dabei auch nur zu gedenken; ebenso wenig verdienen Calderons Angaben Glauben.

Auch über Gesammtausfuhr und Einfuhr, über Handel und Wandel liegen keine statistischen Nachrichten vor. Ueber verschiedene Häfen besitzen wir in dieser Beziehung gar kein Material. Agadir mit sehr bedeutender Importation von Naturalien aus Sudan, der Sahara, Nun, Draa und Sus hat, wie Asamor, keine Consuln irgend eines Staates. Und Asamor ist eine der bedeutendsten Städte. Aus einzelnen Häfen jedoch liegen über ein- und ausgelaufene Schiffe, Tonnengehalt, Aus- und Einfuhrartikel, Nationalität der Schiffe etc. genaue Angaben vor105.

[Fußnote 105: Siehe Richardson Vol II, p. 316.]

Serafin Calderon schätzt den Gesammtwerth des Handels auf 50,000,000 Thaler. England vermittle davon zwei Drittel, das dritte vertheile sich auf Spanier, Portugiesen, Franzosen, Belgier etc. Beaumier giebt die Handelsbewegung von Marokko mit einem jährlichen Mittel von etwa 40 Millionen Franken an, und was die Wichtigkeit der daran theilnehmenden Häfen anbetrifft, stellt er Mogador mit 5/8 voran, während L'Araisch, Tanger, Rbat, Casablanca und Masagan je mit 1/8, und Tetuan und Saffy mit je 1/16 im gleichen Verhältniss daran Theil nehmen106.

[Fußnote 106: Siehe Beaumier, Déscription sommaire de Maroc, p. 31.]

Obschon nun verschiedene Tractate mit den christlichen Nationen geschlossen sind über Zoll bei Einfuhr und Ausfuhr, so hebt sie der Sultan manchmal ohne besonderen Grund auf, weshalb sollte er auch nicht? Braucht er, der unfehlbare Herrscher der Gläubigen, Sklave seines Wortes zu sein? ist er nicht Herr und uneingeschränkter Gebieter aller Leute, die im Rharb sich aufhalten, folglich auch der Christen, so lange wie sie dort wohnen? Giebt es überhaupt einen Fürsten, der sich mit ihm messen kann? Freilich regiert der Sultan von Stambul die andere Hälfte107 der Gläubigen, aber das ist von Gott so geschrieben. Freilich schlugen die Franzosen bei Isly den jetzt regierenden Sultan aufs Haupt, aber das war auch Mektub Allah (von Gott geschrieben); freilich nahmen die Spanier Tetuan, aber auch das war Mektub Allah; einige alte Wahrsager sagen sogar, die Christen werden einst in Mulei Edris (Fes) einrücken, und man antwortet in Marokko: "Gott verfluche sie, aber vielleicht ist es geschrieben."

[Fußnote 107: Anschauungsweise der Marokkaner.]