Kapitel 25 - Übrigens enthält dieses „die Deutschen“ in seiner Wiederholung und Fixierung ...

Kapitel 25 - Übrigens enthält dieses „die Deutschen“ in seiner Wiederholung und Fixierung eine Absurdität. Ich kenne deutsches Leben genug, um zu wissen, was an der Oberfläche liegt und was in der Tiefe; was auf der Straße vorgeht und was im verschwiegenen Innern des eigentlichen Volks. Ich kenne vor allem Deutsche genug, um nicht in Zweifel zu sein, wogegen die Missbilligung und der heimliche Ekel der Besten unter ihnen sich kehrt. Freunde und Weggenossen weiß ich da und dort; stolze Einsame; Tapfere, die gegen den Strom schwimmen; Künstler, Gelehrte, Aristokraten, Kaufleute; solche, mit denen mich gleiches Ziel und gleiches Wollen verbindet und solche, die mir einfach Liebe schenken; Unbekannte dann, die mich bisweilen grüßen, und auf die ich dennoch zählen kann; und weit, an der Peripherie des Kreises, viele, von denen ich nur, wie durch elektrische Wellen, den Ernst ihres Blicks und Wesens, die Beharrlichkeit in fruchtbringender Arbeit, die unzerstörbare Wirkung weiser und großer Gedanken, leuchtender und tiefer Werke spüre.

Diese sind mir „die Deutschen“. Es sind die Deutschen, zu denen ich mich rechne, und zu denen ich mich stelle.


Sie wissen es ihrerseits, und sie halten es für natürlich und selbstverständlich. Aber wenn ich mit meiner Qual, mit meiner Bitterkeit, mit meinem unentwirrbaren Problem, mit Hinweis, Frage, Sorge zu einem von ihnen komme, ich supponiere zum Edelsten, Bewährtesten, so fasst er doch nicht die ganze Tragweite des Unglücks und verschlimmert meine Ratlosigkeit nur durch Argumente, die kein Gewicht mehr für mich haben. Er meint mich trösten zu können, wenn er von der Ebbe- und Flutbewegung geistiger Seuchen spricht; er übersieht, daß ich mich darin, gerade darin als Arzt betrachte und die Erfolglosigkeit meiner Bemühung einer Unzulänglichkeit in mir zuschreiben muss. Er meint, daß die Wut der Lärmmacher und Schaumschläger nicht beweisgültig sei für die Gemütsverfassung und sittliche Richtung der Nation; er übersieht aber die Zahl der Opfer; er übersieht die Beredsamkeit von furchtbaren Tatsachen; und er übersieht, daß es müßig ist, wenn ich mich als Gefangener in einem Raum voll Kohlenoxydgas befinde, mich damit zu beruhigen, daß morgen die Fenster geöffnet werden. Endlich fehlt ihm, sogar ihm, das Verständnis dafür, daß ich in allerletzter Linie mehr für die Deutschen als für die Juden leide.

Leidet man nicht immer am meisten dort, wo man am tiefsten liebt, wenn auch am vergeblichsten?

Und er fragt wohl, durchdrungen von der Notwendigkeit der Wandlung, dennoch zaghaft: Was soll geschehen? Was soll Deutschland tun?

Ich vermag es nicht, ihm zu antworten, denn die Antwort liegt zu nahe, und ich schäme mich für ihn.

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Ross mit der Peitsche dermaßen misshandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand.

Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh beladen, so sage ich ihm: das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand.

Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiss nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude