Kapitel 19 - Ein Umstand machte mich bereits nach kurzem Aufenthalt in Wien stutzig. ...

Kapitel 19 - Ein Umstand machte mich bereits nach kurzem Aufenthalt in Wien stutzig. Während ich draußen mit Juden fast gar keinen Verkehr gepflogen hatte und bloß hier und da einmal einer, von dem es weder ausdrücklich von andern noch von ihm selbst betont wurde, daß er Jude sei, in meinem Bezirk aufgetaucht war, zeigte es sich, daß hier fast alle Menschen, mit denen ich in geistige oder herzliche Berührung kam, Juden waren. Außerdem wurde es von andern stets betont, und sie betonten es selbst. Dies zwang mich zur Abwehr, da mir eine solche Exklusivität das Blickfeld beengte.

Ich erkannte aber bald, daß die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, die gesellschaftlichen Veranstaltungen, alles war in den Händen der Juden. Nach einer Erklärung mußte man nicht lange suchen. Der Adel war vollkommen teilnahmlos; mit Ausnahme einiger Fehlgeratener und Ausgestoßener, einiger Abseitiger und Erleuchteter, hielt er sich nicht nur ängstlich fern von geistigem und künstlerischem Leben, sondern er fürchtete und verachtete es auch. Die wenigen patrizischen Bürgerfamilien ahmten dem Adel nach; ein autochthones Bürgertum gab es nicht mehr, die Lücke war ausgefüllt durch die Beamten, Offiziere, Professoren; danach kam der geschlossene Block des Kleinbürgertums. Der Hof, die Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge. Dass die Juden als die beweglichste Gruppe alle übrigen in unaufhörlicher Bewegung hielten, ist nicht weiter erstaunlich. Dennoch war meine Verwunderung groß über die Menge von jüdischen Ärzten, Advokaten, Klubmitgliedern, Snobs, Dandys, Proletariern, Schauspielern, Zeitungsleuten und Dichtern. Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. Um aufrichtig zu sein, muss ich gestehen, daß ich mir bisweilen wie in Verbannung geraten unter ihnen erschien. Ich war bei den deutschen Juden mehr an bürgerliche Abgeschliffenheit und soziale Unauffälligkeit gewöhnt. Hier wurde ich eine gewisse Scham nie ganz los. Ich schämte mich ihrer Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den andern ist ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und Rasseverwandtschaft im Spiel ist, und man durch ein unabwälzbares inneres Gebot wie infolge moralischer Selbsterziehung verpflichtet ist, für jede Äußerung und jede Handlung von ihm in irgendwelcher Weise einzustehen. Wahre Verantwortung ist wie ein mit Herzblut unterschriebener Vertrag. Er bindet über alle Einwände der Vernunft hinaus, und Freiwilligkeit und Urteil vermögen nichts gegen ihn.


Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum Ekel. Anlass war das Geringe wie das Bedeutende; das Idiom; schnelle Vertraulichkeit; Misstrauen, das das unlängst verlassene Ghetto verriet; apodiktische Meinung; müßige Grübelei um Einfaches; spitzfindiges Wortefechten, wo nichts weiter nötig war als Schauen; Unterwürfigkeit, wo Stolz am Platze war; prahlerisches Sichbehaupten, wo es galt, sich zu bescheiden; Mangel an Würde, Mangel an Gebundenheit; Mangel an metaphysischer Befähigung. Gerade dies letztere bestürzte mich am meisten und am meisten bei den Gebildeten. Es ging ein Zug von Rationalismus durch alle diese Juden, der jede innigere Beziehung trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen, Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht, Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze; der Geist war unumschränkter Herr; was sich der Errechnung versagte, war untergeordnete Kategorie; errechnet werden konnte auch das Schicksal, zerfasert die heimlichsten, dunkelsten Gebiete der Seele. Es war überhaupt in ihnen ein Wille und Entschluss zur Entgeheimnissung der Welt, und sie wagten sich darin so weit, daß in vielen Fällen, für mich wenigstens, Schamlosigkeit von Forschertrieb nicht zu unterscheiden war. Mich dünkt, die Menschheit gewinnt auf der einen Seite nicht so viel durch Entschleierung an Wissen und an Kraft, als sie auf der andern durch Entweihung an Scheu und fragender Demut verliert. Wahrheit ist doch nur im Bilde und in der Ehrfurcht.

Ausgezeichnete Eigenschaften einzelner traten im Umgang gewinnend hervor, Verstand und Güte, Bereitschaft zu dienen, zu fördern, Blick für das Seltene, das Kostbare; sie hatten Wärme, Gabe der Ahnung sogar, ein nervöses Mitschwingen war ihnen eigen, ungeduldiges Vorauseilen oft, wobei das Tempo über die Intensität und Tiefe täuschte. Ich lernte sehr kultivierte Juden kennen, verfeinert bis zur Gebrechlichkeit; man hätte glauben mögen, mit ihnen als letzten müden Sprossen sei die Rasse am Endpunkt der Bahn angelangt. Dann wieder Typen des entgegengesetzten Gepräges: unverbrauchte Sendlinge einer breiten, der europäischen Zivilisation noch abgekehrten, aber drohend zu ihr drängenden, feindselig oder begehrlich von ihr faszinierten Schicht. Sie waren erfüllt von brutaler Entschlossenheit, sich durchzusetzen; sie kamen als Eroberer, erzwangen sich Raum, bemächtigten sich binnen kurzem und in skrupellosem Wetteifer der Hilfsmittel, die ihnen Staat und Gesellschaft gewährten. Zwanzig Jahre später gründeten ihre Söhne bereits literarische Wochenschriften oder publizierten Gedichtbände allermodernsten Stils, und ihre Töchter hatten sich dermaßen mimikrisiert, daß sie sich in Allüre und Ausdrucksweise von den Komtessen mit sechzehn Ahnen kaum mehr unterschieden. Daneben aber gab es Erscheinungen von strenger Art, Einsame; Lautlose; beharrliche Wühler; Menschen von hagerer Geistigkeit, bei welchen die harte und finstere Religion der Väter ein hartes und finsteres Verhältnis zum Leben selbst erzeugt hatte. Unsinnlich, negierten sie, was an der Menschheit Blüte ist, übertragene Form und wurden, genau wie die Väter, denen gegenüber sie doch Abtrünnige waren, Geknechtete einer Lehre und unermüdliche Werber dafür. Auch sie waren entschlossen, sich durchzusetzen.

Um die Zeit, als ich nach Wien kam, war gerade der Zionismus im Entstehen. Der dauernde Zuzug aus dem Osten und Norden des Reichs schuf eine völlig andere Stimmung unter den Juden und völlig andere Zusammensetzungen, als sie mir bis dahin bekannt waren. Die Kunde von den Schändlichkeiten, die die zaristische Regierung beging, die unbezweifelbaren Zeugnisse über Bedrückungen, Mord, Folter und Vergewaltigung, Beugung des Rechts, Verhöhnung des Gerichts, zudem die jammervolle soziale Lage der Juden sogar in den österreichisch-slawischen Provinzen hatten nach und nach eine außerordentliche Gärung hervorgerufen, und einige Männer von Mut und Willen widmeten sich dem Plan der Errichtung eines palästinischen Reiches. Die Wirkung war gewaltig. Daß der Siedlungsgedanke nicht als solcher propagiert wurde, daß er sich als staatliche Gründung ins Politische gesteigert und weiterhin als religiöse Idee in messianischer Fassung darbot, verschaffte ihm zahllose Anhänger. Ich hörte damals von Juden, die irgendwo in Podolien oder in der Bukowina ihr geplagtes Dasein schleppten und in Tränen ausbrachen, als die neue Heilsbotschaft zu ihnen gelangte. Ich hörte von solchen, die sich auf die Wanderung begaben, tage-, wochenlang, um nur den Mann mit Augen zu sehen und, wie sie sich ausdrückten, den Saum seines Gewandes zu küssen, den Propheten, den Ersehnten, der ihnen die Möglichkeit dieses Glücks geschenkt hatte. Sie hatten ja unter einem gefrorenen Himmel gelebt, seit Jahrhunderten, und ihre Welt war ein Kerker gewesen.

Mein persönliches Verhalten zu dieser Bewegung war unsicher, bisweilen schmerzlich unsicher. Erstens mußte ich von Anfang an den Sinn ganz anders richten, da ich mich ja in ganz andere Zusammenhänge eingelebt hatte. Manche der Adepten sagten, ich müsse erwachen, und ich würde auch eines Tages erwachen, zur Wahrheit und zur Tat erwachen. Sie wussten von mir nichts. Zweitens hatte es sich gefügt, daß ich mit dem Schöpfer der Idee gesellschaftlich in Berührung gekommen war, und daß ich weder Zuneigung für ihn fassen konnte, für ihn als Schriftsteller nicht und als Menschen nicht, noch an seine Ungewöhnlichkeit und Größe zu glauben vermochte, wie er es voraussetzte und heischte. Ich kann nicht umhin, dessen Erwähnung zu tun, weil es mich im stillen oft beschäftigt hat und mir zum Selbstvorwurf geworden ist. Das Bedeutende eines Menschen wesentlich und nachhaltig verkennen, wäre nicht allein Blindheit, sondern auch Verblendung. Ich war verstockt; ohne Zweifel auch nicht willig; der Anblick und die Nähe kleiner Schwächen und Eitelkeiten verdross mich, und Gefolgschaft zu leisten, war mir nicht gegeben, nicht bestimmt. Weil ich den Menschen zu übersehen glaubte, übersah ich sein Werk, schuldvolles Wortspiel, an das sich viel Wahn und Irrtum knüpft.

Dass ich von Juden immer wieder für diese lebenswichtige jüdische Sache gefordert wurde, ist begreiflich. Es setzte mich stets in Verlegenheit. Ich war bereit, die Leistung anzuerkennen, die dafür aufgewendet wurde, Opfer und Hingabe, auch die Hoffnungen zu teilen, aber ich selbst stand nicht da, wo sie standen. Ich fühlte nicht die Solidarität, auf die sie mich verpflichten wollten, nur weil ich Jude war. Die religiöse Bindung fehlte, aber auch die nationale Bindung fehlte, und so, in meinem noch nicht zur Klarheit gediehenen Widerstreben, vermochte ich im Zionismus vorläufig nichts anderes zu sehen als ein wirtschaftlich-philanthropisches Unternehmen. Es widerstrebte mir das, was sie die jüdische Nation nannten, rundweg gesagt, denn mir war, als könne eine Nation nicht von Menschen gewollt und gemacht werden; was in der jüdischen Diaspora als Idee davon lebte, schien mir besser, höher, fruchtbarer als jegliche Realität; was war gewonnen, so schien es mir, wenn im Jahrhundert des Nationalitätenwahnsinns die zwei Dutzend kleinen, in Hader verstrickten, aufeinander eifersüchtigen, einander zerfleischenden Nationen durch die jüdische zwei Dutzend und eine geworden wären? Historisch-psychologisch betrachtet, war ich vielleicht im Recht; die aus der Not geborene Erscheinung gab mir in jedem Augenblick Unrecht. Und die Not baut den Weg.

Der Konflikt blieb bestehen. Es handelte sich um die Menschen, um ihr Antlitz, um ihr Wesen, um ihre Gebärde, ihr Wort, ob sie in mir waren schließlich, ob ich in ihnen war. Ich konnte den oder jenen würdigen, schätzen, lieben, weil er so war, wie er war, eben dadurch würdigens-, schätzens-, liebenswert. Ich konnte aber nicht eine Gruppe, eine Gesamtheit würdigen, schätzen und lieben, nur weil man mich in den Verband einschloss. Vielleicht können es andere; mich hatte Gott nicht so geschaffen. Wirft man mir entgegen: um der Idee willen musst du die Gruppe, die Gesamtheit, das Volk lieben, so erwidere ich: zu einer Idee, einer unbeirrbaren, mich völlig durchdringenden und all meinem Tun gebietenden war ich bereits geboren; sie durch eine andere zu ersetzen oder ihr eine andere koordinieren, war nicht möglich, ist menschlich, geistig, organisch nicht möglich, oder es geht nicht mehr um Wahrheit und Ernst, sondern um Versuch, Gelegenheit und Lückenfüllen. Was man ist und tut, hat man ganz zu sein und zu tun; sonst könnte jeder die Geschäfte eines jeden betreiben.

Sah ich einen polnischen oder galizischen Juden, sprach ich mit ihm, bemühte ich mich, in sein Inneres zu dringen, seine Art zu denken und zu leben zu ergründen, so konnte er mich wohl rühren oder verwundern oder zum Mitleid, zur Trauer stimmen, aber eine Regung von Brüderlichkeit, ja nur von Verwandtschaft verspürte ich durchaus nicht. Er war mir vollkommen fremd, in den Äußerungen, in jedem Hauch fremd, und wenn sich keine menschlich-individuelle Sympathie ergab, sogar abstoßend. Viele Juden, die sich Juden fühlen, verhehlen sich dies; einem Pflichtbegriff oder Parteidiktat zuliebe oder um feindlichen Angriffen keinen Zielpunkt zu geben, üben sie Zwang auf sich aus. Das hat in meinem Fall keinen Zweck mehr. Ich rufe auch nicht zur Nachahmung auf und sage nicht, daß es gut war, was ich tat, und wie ich mich verhielt; ich schildere einfach mein Erlebnis und meinen Kampf. Vor wenig Jahren sprach ich einmal mit einem mir befreundeten Jüdisch-Nationalen, einem sehr edlen Mann und vorbildlichen Menschen über das mich Bedrückende und die andern Beirrende. Ich sagte: ist die Ursache des Zwiespalts nicht darin zu suchen, daß Sie ein jüdischer Jude sind und ich ein deutscher Jude? Sind das nicht zwei Arten, zwei Rassen fast oder wenigstens zwei Lebensdisziplinen? Bin ich nicht dadurch ausgesetzter als die meisten, da ich ja nach keiner Seite mich beuge, nach keiner Seite ein Kompromiss schließe und nur, auf einem Vorposten, mich und meine Welt zum Ausdruck bringen, zur Brücke machen will? Bin ich so nicht am Ende nützlicher als einer, der auf eine bestimmte Marschrichtung vereidigt ist?

Er ließ sich auf Erörterung nicht ein und entgegnete lächelnd: Sie sollen sich mit all dem gar nicht quälen; Sie sind Dichter, und als Dichter haben Sie einen Freibrief. Ich erinnere mich, daß mich die Antwort schmerzte und verletzte, denn trotz herzlichen Wohlmeinens lag eine gewisse ausweichende Abschätzigkeit in ihr, als wolle er sagen: wir sind auf dich nicht angewiesen und können auf dich verzichten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude