Kapitel 18 - Ich war schon um die Mitte des Jahres 1898 von München weggezogen und hatte ...

Kapitel 18 - Ich war schon um die Mitte des Jahres 1898 von München weggezogen und hatte mein Domizil in Wien aufgeschlagen. Dort konnte meines Bleibens nicht länger sein. Wie schon angedeutet, hatte mich eine Frau an den Rand des Verderbens gebracht, und hätte ich nicht das unheilvolle Band mit einem leidenschaftlichen Entschluss durchschnitten, so wäre es mit mir zu Ende gewesen. Vier Jahre hatte ich dumpf und flammend in einer erotischen Sklaverei verbracht, namenlos erfüllt, unbedingt hingegeben, dabei geschändet und missbraucht im Innern; meine ganze Natur war davon versengt und angefault, meine moralische Existenz bedroht, meine bürgerliche schwankte schon, Freunde kehrten sich ab, Wohlwollende verschlossen mir ihr Haus, Verleumdung und Klatsch besudelten meinen Namen, und so gab es am Ende keine Rettung als Bruch und Flucht.

Vielleicht hätte ich mich nicht aufzuraffen und die Fesseln zu zerreißen vermocht, wäre nicht ein junges Mädchen gewesen, eine siebzehnjährige russische Jüdin, die wie ein liebendes Madonnchen in meinen verwunschenen Kreis trat und, wenn ich’s recht bedenke, die erste Glückbringerin war. Nur durch ihre Art zu sein, zu lächeln, zu verstehen, eine stummschenkende, ergreifend wahre Art, half sie mir über das Schwere und machte, daß ich vergaß und beharrte. Sie war Tabakarbeiterin, in ärmlichsten Verhältnissen, doch sie hätte eine junge Fürstin sein können; sie war so stolz wie anmutig, so großen Sinns wie gehalten in ihrem Wesen. Rasch, wie wir uns gefunden, verloren wir uns wieder.


Das Leben in Wien und Österreich wirkte wohltätig auf mich durch seine leichtere Form. Da waren Widerstände aufgehoben, die ich bei uns auf Schritt und Tritt gespürt hatte. Die Menschen kamen mir freier entgegen, williger, offener, und wenn es sich auch meistens erwies, daß sie sich durch ihr Entgegenkommen nicht für sonderlich verpflichtet hielten, ja, daß sie gewissermaßen jedem ausgestellten Wechsel auf Verlässlichkeit mit naivem Bedauern bei der Vorzeigung die Anerkennung und natürlich auch die Zahlung verweigerten, überhaupt in listig-unschuldige Verwunderung gerieten, wenn man sich einfallen ließ, aus ihrem Wort die Folgerung des Vertrauens zu ziehen, so war doch der Alltag ohne die verletzende Reibung, der Ton des Verkehrs gutmütiger und unverfänglicher. Man mußte nur wissen; man mußte sich mit einer bestimmten Erfahrung gürten und nicht immer mit dem schmucklosen Anspruch auf den Plan treten. Das lernt sich. Es lernt sich auch bei einiger Schmiegsamkeit in Italien, wo verwandte Fehler den moralischen Hochmut des Deutschen reizen.

Aber dies geht wohl tiefer, und es ist nötig, die Tiefe zu sondieren. Ich lebte ja nicht nur dem Bild und Gedicht; ich war auch, im heimlichen Bewusstsein, darauf angewiesen, den Boden zu erforschen, auf dem es Wurzel schlägt und die Atmosphäre, in der es gedeiht. Ich wusste um die Menschen, die Vorwand waren zur Gestalt, und in die Absonderung, die ich mir hart erkämpfte, drang ihre Welt noch laut genug. Heute steht diese österreichische Welt vor mir, wie ich sie zwei Jahrzehnte hindurch erlebt habe, halb nehmend, halb wehrend.

Ich war als erzogener Deutscher gewöhnt, eben das Deutsche, Land und Volk, als ein Ganzes zu empfinden, unbezweifelbar, in seiner Rundheit und Fasslichkeit erfreulich, in keinem Bezug miss zu verstehen. Hier dagegen war durchaus alles fragwürdig, Land, Volk, Staatsform, Lebensform, Nationalität und Gesellschaft, Überlieferung und Abfall von ihr, Politik und Kunst, Organisation und Individuen. Das Fragwürdige übt Lockung aus, namentlich in seiner Oberflächenschicht, und die Genießer und Ferienbeobachter haben ja nicht versäumt, sich in ihrer Weise daran zu letzen. Aber das immer heftigere Gegeneinander der verschiedenen Kräfte führte zum Verhängnis. Eine von Jahrhunderten legitimierte Bedrückung, die unter der Flagge von Schlichtung und Ausgleich selbstsüchtige Herren- und Hausmachtpolitik trieb, konnte nicht ohne Einfluss auf das öffentliche und private Leben bleiben. Die mit träger Geduld vollgesogene Masse war solange Spielball und Opfer einer herzlosen Regierungsmaschinerie gewesen, solange betört und betrogen von einem System, das sich aller verfügbaren Kräfte schlau zu versichern wusste, um sich im gegebenen Zeitpunkt, der Versprechungen und Verträge nicht achtend, mit frivolem Achselzucken ihrer zu entledigen, solange das Mittel zum Zweck für eine Minderzahl von Mächtigen, an deren Vorrechte es glaubte oder zu glauben gezwungen wurde, solange bevormundet in seinen geistigen und religiösen Bedürfnissen, so sehr daran gewöhnt, gierige Ansprüche zu erfüllen: der Kirche, des Hofes, der Aristokratie, des Großgrundbesitzes, daß keine Menschenweisheit dies zum heilsamen Ende lenken konnte.

Österreichische Art wurde im Reich mit einer gewissen nachsichtigen Geringschätzung betrachtet. Wenn irgendein Berliner Bruder Liederlich nach Wien kam, irgendein Spießbürger, der in seiner heimischen Langeweile anspruchsvoll geworden war, und vom süßen Schaum des südlicheren, flinkeren Lebens genippt hatte, fand er sich zum dauernden Zensor über Land und Menschen befugt. Jedes Urteil war Vorurteil. Das geschmackvolle und bestechende Kostüm der Metropole, angeborene Ritterlichkeit und Gastlichkeit der Bewohner täuschte über die Wunden und Abgründe. Man war nicht scharfsichtig, man war nicht genau, man nahm es nicht ernst. Ob es sich um Buch oder Bild handelte, um Lehre oder Kunst, die von dort ausging: man nahm es nicht ganz ernst. Außer bei Musik und Schauspielerei; da lag Unwidersprechliches vor, unwiderlegliche Meisterschaften, die waren Verdienst und ureigenste Blüte, wenn schon nicht selten beide durch Üppigkeit und gar zu unbeschwerte Heiterkeit dem gründlicher veranlagten Stammesgenossen sich verdächtig machten, wo es gerade noch erlaubt war, Verdacht zu hegen. Kurz, man hatte seine Einwände, seine Klauseln und Abstriche auf der großen Merktafel. Ich habe selbst Erfahrung darin. Von der Zeit an, wo ich meine Bücher in Österreich schrieb, war ich in den Augen von vielen meiner deutschen Kritiker gesunken. Man konnte mich, logischerweise, nicht mehr ganz ernst nehmen. Auch nahe Freunde unkten, warnten und verübelten es mir, daß ich bei den „Phäaken“ sesshaft geworden war.

Dass ich durch das allgemeine wie durch das Wesen einzelner empfindlich zu leiden hatte, will ich nicht leugnen. Heute, wo die Zerstörung am Tage liegt, der deutsche Teil der Nation ins Mark getroffen ist, seine Kräfte verwirtschaftet, seine Hilfsquellen erschöpft sind, weiß jedes Kind Bescheid. Mich bedrückte die Ahnung lange zuvor. Denn ich sah, es war kein Mittelpunkt und keine Gemeinsamkeit; das bis zum Zynismus offene Bekenntnis der sich selbst spürenden Unzulänglichkeit widerte mich; es widerte mich der Taumel, die Zermürbung, der geistlose Despotismus, die Zuchtlosigkeit. Schäden wurden nicht erkannt oder, wenn erkannt, so verschwiegen; die Politiker waren durch Parteirücksichten gehemmt, wobei eine perverse Jovialität selbst ihre Gehässigkeit abstumpfte; die Schriftsteller in ihrer Mehrzahl waren nicht unabhängig oder, wenn unabhängig, so einseitig an Sexualität, Theater und überschminkte Gesellschaftlichkeit verdingt, was bis zu niedrigem Klatsch und grinsender Felonie ausarten konnte. Keine menschliche Betätigung fand einen Widerhall, kein höheres Interesse selbstlose Zustimmung; wer Wege abseits vom Trivialen und Beliebten suchte, war verfemt, und jede Tätigkeit, die eine innere, fernere Folge haben sollte, wurde besudelt oder schlechthin verlacht.

Aber der Deutsche hätte sich durch das Wissen um die Schatten und Laster, das ja oft von dorther rührendes Eingeständnis war, nicht beirren lassen dürfen. Er hat durch seine Überheblichkeit im Entstehen vernichtet, was sicherlich einmal bestimmt war, ihn reicher, voller, ausgeglichener zu machen. Er hätte Erbe eines blühenden Besitzes sein können; jetzt wächst ihm, bestenfalls, ein geplünderter zu. Liebe zu erwecken hat er nirgends verstanden, so auch hier nicht. Er achtet die Herzen nicht, er zertritt sie plump, indem er ihnen Vorschrift einbläut. Dieses Österreich, ich sehe von den Menschen ab, in seiner Fülle von beseelter Landschaft, heroischer und idyllischer, zarter und gewaltiger, einschmeichelnder und grandioser, der Durchsichtigkeit und Weichheit seiner Atmosphäre, seiner Helligkeit, seiner Unverbrauchtheit, könnte wohl in manchem Betracht heilend, erneuernd und umwandelnd auf deutsches Wesen wirken; ich möchte sagen musikalisierend, wenn das Wort gelten darf. Mich wenigstens hat es geheilt, erneuert und umgewandelt, als ich, ein Gebrochener, dort Aufnahme fand. Es hat mich, vielleicht durch seine Landschaft, vielleicht durch seine Luft, vielleicht durch seltene Menschen auch, die mir begegnet sind, gelehrt, was Form ist, Zucht der Sinne, Rhythmus der Linie. Draußen hatte ich die Pfeiler gesetzt, hier konnte ich die Bogen wölben.

Was nun die Menschen im allgemeinen betrifft, so ist ihnen, im guten wie im schlimmen, etwas Naturhaftes eigen, Wechsel und Laune der Natur, Unbedingtheit und Bildsamkeit. Ein leiser Hauch von Orient weht um sie; von uralten germanischen, römischen, keltischen Elementen sind sie getragen; die Nähe slawischer Welt und stellenweise Durchblutung von ihr hat den Charakter vielfach erweitert und vertieft; Traditionen der Vergangenheit sind noch tragfähig; das Individuelle ist noch nicht überzüchtet, das Typische noch nicht leer; es ist noch Gebärde da, Maske, Spiel, Dunkelheit in der Entwicklung, Geheimnis in der Beziehung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude