Kapitel 14 - Elf Jahre nach den „Juden von Zirndorf“ schrieb ich den „Caspar Hauser“. ...

Kapitel 14 - Elf Jahre nach den „Juden von Zirndorf“ schrieb ich den „Caspar Hauser“. Ich halte mich zunächst an diese beiden Beispiele meiner Produktion, weil sie, ohne daß ich damit ein Werturteil geben oder herausfordern will, die polaren Punkte bezeichnen, zwischen denen ich mich suchend und grenzenziehend bewegte, das eine nach der Seite des jüdischen, das andere nach der des deutschen Problems.

Die Figur des Caspar Hauser begleitete mich seit Kindheitstagen. Mein Großvater väterlicherseits, der als Seiler und später als Handelsmann in Zirndorf lebte, hatte ihn in Nürnberg auf dem Vestnerturm noch gesehen und erzählte von ihm wie von einem sehr geheimnisvollen Menschen. So berichteten auch andere von ihm, die einfachsten, nüchternsten Leute, stets wie von etwas sehr Geheimnisvollen, wovon laut zu reden eigentlich von Übel war. Ich kannte die Stätten, wo Hauser sein seltsames Leidensdasein verbracht und geendet, in Nürnberg die Burg, das Tucherhaus, in Ansbach das Gässchen, wo der Lehrer Mayer gewohnt und den Hofgarten mit dem Oktogon, der die schöne Inschrift trägt; alles war diesem Schicksal so zauberisch angepasst, das Gebliebene an Dingen, das noch Währende der Landschaft.


Immer wieder trat der Stoff an mich heran, zufrühest, als ich lernte, Menschen zu formen und sie in mitgeborenen Geschicken kreatürlich wachsen zu lassen und dann an allen Stationen, wo ich glaubte, Fertigkeit und Sicherheit genug errungen zu haben. Doch immer wieder entzog ich mich der Versuchung, als wäre was Heiliges an der Gestalt, was Verletzliches, und ich dürfe mich nicht unbedacht an ihr vergreifen.

Gewisse Bücher, die damals selbständig auftraten, schrieb ich nur wie zur Übung und Vorbereitung, und dem ersten ernsthafteren Versuch ging jahrelanges Studium voraus, bis in alle Ecken und Winkel der einschlägigen Akten und Literaturen. Abermals und abermals wagte ich den Anfang, zog weiten Kreis, zog engen Kreis um das Thema, fand nicht das Fundament, fand nicht die Ruhe, nicht die Kraft, nicht die Erleuchtung, wurde mutlos und ließ wieder ab. Doch bei all dem Probieren und Verzagen, Graben und Verzweifeln wuchs mir die Figur des Nürnberger Findlings unerwartet hoch empor, und sein Schicksal ward mir zum Schicksal des menschlichen Herzens überhaupt. Das Menschenherz gegen die Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier, und wenngleich noch viele Mühsal zu bezwingen war, so blieb doch der Weg im Licht.

Wunderliches begegnete mir während der Arbeit. Als ich bis dorthin gelangt war, wo Clara von Kannawurf in Caspars Leben tritt, die ihm die erste Dämmerahnung der Geschlechtsliebe gibt, verlor ich die Realität unter mir; keine Plage, kein Denken und Erdichten, kein hundertfaches Neu- und Neubeginnen verhalf mir dazu, daß mir die Figur Vision wurde, daß sie Wahrheit und Glaubwürdigkeit erhielt, und ich sah mich zu langer, wartender Untätigkeit verurteilt. Da bekam ich eines Tages den Brief einer unbekannten Frau; sie wandte sich in einer seelischen Not an mich; es war etwas Unüberhörbares im Ton des Schreibens, das Zurückhaltung zur Grausamkeit gemacht hätte; im Begriff, eine Reise zu unternehmen, und da sie mich zu treffen wünschte, verabredete ich mit ihr eine Begegnung auf halbem Wege. Vom ersten Augenblick an waren wir Freunde; sie stand in tragischem Geschick als Frau, als Mutter; in ihrer Erzählung kam zutage, daß sie die Enkelin eines Mannes war, der, in hoher Stellung am badischen Hof, in die Caspar Hauser-Wirren und -Intrigen verwickelt gewesen war, die ja bis zu Volkserhebungen geführt hatten, und daß er, verleumdet und kompromittiert, sich erschossen hatte. Ich war überrascht und eigen berührt, am sonderbarsten durch den tiefen und schmerzlichen Anteil, den die junge Frau noch jetzt an dem Lose des Findlings nahm, Anteil solcher Art, als sei er ein verlorener Bruder von ihr, dessen geschändeten Namen und befleckte Ehre zu reinigen, zu retten ihre vornehmste Aufgabe sei. Sie wusste nichts von meinem Werk; ich gab ihr die Handschrift, soweit sie fertig dalag, ihre Ergriffenheit, als sie sie gelesen, ergriff mich selbst; das leidenschaftliche Interesse in ihr war wie Krankheit und Fieber, Fieber der beleidigten Gerechtigkeit, des Mitleids, der Liebe. Und da hatte ich nun plötzlich Clara von Kannawurf (das allerseltsamste war, daß sie auch mit Vornamen Clara hieß), da stand sie leibhaftig vor mir in der frauenhaften Jungfräulichkeit, wie ich sie geschaut hatte, der kindlichen Reife, der erfahrenen Schwermut, Widerpart einer trägen Welt.

Ich kann nicht leugnen, daß ich an die Veröffentlichung des Buches ungewöhnliche Erwartungen knüpfte, Erwartungen, die einer hegt, dem es endlich gelungen scheint, sich zu beglaubigen. Ich bildete mir ein, den Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen, den Beweis geliefert zu haben, daß ein Jude nicht durch Beschluss und Gelegenheit, sondern auch durch inneres Sein die Zugehörigkeit erhärten, das Vorurteil der Fremdheit besiegen könne. Aber in dieser Erwartung wurde ich getäuscht. Zunächst erhob sich ein übler Zeitungsstreit um die historische Person Caspar Hausers, und ein Platzregen von hämischen Beschimpfungen und dünkelhaften Zurechtweisungen ging über mich nieder, den man des Verbrechens bezichtigte, die alte Lügenfabel von fürstlicher Abkunft des Findlings wieder aufgewärmt und zum Vergnügen eines sensationshungrigen Publikums serviert zu haben. Ich wurde belehrt, daß Professor Mittelstädt in seiner berühmten Schrift und Lehrer Mayer in seiner aktenmäßigen Darstellung, und wer weiß wer noch und wo, längst die Welt davon überzeugt habe, daß Caspar Hauser ein schwachsinniger Betrüger gewesen sei, der die öffentliche Meinung Deutschlands und Europas zum Narren gehabt; daß es eine naive Anmaßung und Unwissenheit sei, das seit einem halben Jahrhundert glücklich begrabene Märchen neuerdings zum Gegenstand der Diskussion und Fehde zu machen, und daß ich mir für meine literarische Stoffgier ein harmloseres Gebiet wählen möge, das weniger geeignet sei, Beunruhigung und Ärgernis zu erregen.

Nun bin ich ja heute wie vordem durchdrungen von der Meinung, daß Caspar Hauser wirklich der prinzliche Knabe gewesen, für den ihn Daumer und Feuerbach und nachher viele andere, die totgeschwiegen oder totverleumdet wurden, gehalten; es sind mir dokumentarische Belege, glaubwürdige Zeugnisse genug zu Aug und Ohr gekommen, andere werden einst aus tückisch verschlossenen Archiven ans Licht treten; die Intrigen reden eine deutliche Sprache; es gibt noch hochgestellte Wissende; manche haben mir ihr Vertrauen geschenkt; ein Zweifel darüber, was die Schreibtischpsychologen so leichtfertig ableugneten, war bei ihnen gar nicht zu finden. Heute wie vordem bin ich davon durchdrungen, daß der Name, das Leben und der Tod Caspar Hausers eine nicht gesühnte Schuld ausmachen, die fort und fort wuchert wie alle nicht gesühnte Schuld.

Alles dies hat mit der Dichtung nur mittelbar zu schaffen. Insofern verfehlten auch die Angriffe ihr Ziel. Ich kannte die Motive, kannte die Werkstätten, wo sie ersonnen und gelenkt wurden. Aber von dem Kleinlichen abgesehen, war mir doch, als ersticke Hall und Widerhall in einer Luft, die nicht trug. Es war mir ja nicht um Geringes zu tun, und ich dachte deshalb, das Geringe müsse zerschellen. Es war mir nicht um Persönliches zu tun, und ich dachte, die Person stehe außer Frage. Es war mir auch nicht darum zu tun, daß der oder jener Beifall zollte, die Leistung anerkannte, das Streben billigte oder pries, ja nicht einmal darum war mir letzten Endes zu tun, daß ich einzelne zu gewinnen, zu erschüttern, Seltene sogar zu erhöhen, zu wandeln vermochte. Man sagt immer, halb zum Trost, halb in der Erkenntnis der menschlichen Durchschnittsnatur, es sei des Erreichten genug, wenn eben einzelne zur Besinnung kämen, wenn ein Werk dazu verhilft, daß unter tausend zehn zum Gefühl des Besseren erwachen, und daß der in eine einzige empfängliche Brust gesenkte Keim tausendfältige Frucht tragen müsse. Das ist wohl wahr, doch inzwischen vergeht viel Zeit, und das Missverständnis tötet den Schwung. Wer zu einer Sache mit Leib und Leben steht, dem kann und mag es nicht genügen, wenn willige Gruppen mehr oder weniger lau sich für ihn erklären; wenn literarisch Mitinteressierte für ihn ins Horn stoßen; auch nicht, wenn vorbereitete aufnahmsfrohe Freunde neue Freunde werben; auch nicht, wenn die sehnsüchtigen Wesen, da und dort unter aller Menschheit zerstreut, ihren Blick auf ihn richten, sei es als zufällig Getroffene, sei es als wählend und sichtend Berührte. Ihm geht es um ein Ganzes, um das volle, breite, tiefe Erklingen einer Welt. Es liegt ja auch in der Art der epischen Kunst. Ihre Fülle zählt auf Fülle der Hörenden; ein Orchester kann nicht in einer Stube spielen. Ihre Wirkung ist eine Mosaik von Teilwirkungen, oft der heterogensten Beschaffenheit, vom Melodischen bis zum grob Handlungsmäßigen, vom Zarten bis zum Brutalen. In Deutschland ist solche Wirkung großen Stils unmöglich, weil zwischen den empfangenden Schichten die geistige Übereinkunft fehlt und über ihnen ein Forum des Geschmacks; die sich zu Richtern aufwerfen, schmeicheln der Halbbildung oder der Mode des Tages, überheben sich in ihrer Befugnis, treiben Parteipolitik; der Berufenen wird wenig geachtet, und sie müssen sich in esoterischer Tätigkeit bescheiden. Je schwächer aber der Anteil eines Volkes an den Hervorbringungen seiner Schöpfer ist, je herzensmatter und unentschiedener, je mehr Schlacke haftet auch den Werken selbst an, je unsicherer wird ihre Haltung, je ungesicherter ihr Sein, je sporadischer ihre Entstehung. Das sind organische Wechselbeziehungen von eherner Gesetzmäßigkeit. Für den Mangel von Einheit und Folge, von Liebe zum Ding und zur Figur, von seelischer Bindung und geistiger Vorurteilslosigkeit bietet keine Sensation Ersatz, kein aufflammender Taumel und gelegentliche Erhitzung; wer sich ohne zureichenden Grund enthusiasmiert, wird notwendigerweise zur Reue und zum Katzenjammer getrieben; er muss morgen schmähen, was er gestern bejubelt, das erscheint ihm als die einzige Hilfe in der Verwirrung, nichts bringt ihn aus dem falschen Geleise, auch seine Götterbilder bedecken sich mit Staub.

Ich erfuhr also, daß ich keinen Fußbreit Boden erobert hatte und erobern konnte, nicht in dem Bezirk nämlich, um den sich’s mir heilig und schmerzlich handelte. Immer wieder mußte ich lesen oder spürte, daß es im Sinnen und Meinen lag: der Jude.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude