Kapitel 12 - In sozialer Hinsicht mußte ich mich als Geächteter fühlen; ich war es auch, denn ...

Kapitel 12 - In sozialer Hinsicht mußte ich mich als Geächteter fühlen; ich war es auch, denn ich lebte so. Wer aus der Tiefe emporkommt, neigt, wenn er eine gewisse Höhe erlangt hat, gern dazu, seine finsteren Erfahrungen mit einem Goldsaum zu umbrämen. Er vergisst die Niedrigkeit um so bereitwilliger, als sie ihn gezwungen hat, niedrig zu sein, niedrig zu denken, niedrig zu handeln. Das ist unvermeidlich, und der es leugnet, lügt. Es erfordert im günstigsten Fall eine lange Zeit und lange sittliche Arbeit, damit die Seele von dem Schmutz und Unrat gereinigt wird, mit dem sie beworfen worden ist, mit dem sie sich bedeckt hat. Es ist geradezu eine Erneuerung nötig, und erst, wenn Erneuerung stattgefunden hat, wird Sinn und Frucht des Leidens offenbar. Der Mensch in der Qual ist gar nicht fähig, Erfahrungen zu machen und Resultate zu ziehen; ein angstvoller Geist kann weder lehren noch formen. Der Zuschauerirrtum, der dem Elend zeugende Macht zuschreibt, entsteht daher, weil die zahllosen im Elend Versunkenen keinen Einwand gegen dieses freche Luxusdiktat erheben können. Entkommt einer der Gefahr, so darf er die Gefahr preisen; der Gesicherte bescheide sich, selbst wenn er die rühmt, die für ihn ihre Haut zu Markte tragen.

Am Rand der Gesellschaft stehend, haarbreit neben dem Abgrund, galt ihr meine Sehnsucht. Das Verlangen, von ihr aufgenommen und anerkannt zu werden, als Gleicher unter Gleichen, überwog jedes andere. Die Frage, ob Jude oder Deutscher, war zunächst unwichtig geworden gegen die, wie ich zu den Menschen kommen konnte. Mir ahnte manchmal, als sei ich im Begriff, das abzuzahlen, was am Judentum als Schuld und Odium hing, ich für meinen Teil, und als werde das irgendwie augenscheinlich und beweisbar werden. Es trat eine Reihe von Zufällen ein, von Frist zu Frist, die meiner materiellen Engnis kein Ende bereiteten, wohl aber der nachtschwarzen Hoffnungslosigkeit, vor allem das verschlossene Tor sprengten, vor dem ich geharrt und gewacht hatte und Wege des Geistes freigaben.


Ich wurde Sekretär bei einem sehr geschätzten Schriftsteller, der, obwohl nicht mehr jung, die Sache der Jungen zu seiner Sache gemacht hatte und dadurch allerdings mit der angeborenen Begabung in Zwiespalt geriet, die ihn mehr in bürgerlich-behagliche Bahnen wies. Er diktierte mir seine Romane und Erzählungen, und als ich es nach einiger Zeit wagte, ihm eigene Arbeiten zur Prüfung vorzulegen, zeigte er eine Überraschung, an der ich merkte, daß ich nicht taube Nüsse klopfte. Es war der erste Mensch, der mich ermunterte, der erste überhaupt, der mich als Dichter uneingeschränkt ernst nahm, und das bedeutete für mich soviel wie Rettung und Erlösung. Aber er tat mehr. Er warb und wirkte für mich und jene sehr unfertigen, sehr fragwürdigen Gebilde; er scheute nicht Spott und Abwehr, ja Spott und Abwehr reizten ihn zu bedingungslosem Enthusiasmus, und als Heißsporn, der er war, begab er sich in Fehden; ich wurde unversehens ein Objekt von Für- und Widermeinung, was mich eher verzagt als stolz machte.

Aber die Brücken betrat ich, die mir geschlagen waren, und schnell sah ich mich in die Verwirrungen der Welt gerissen. Das heißt ich nahm für Welt, was nur ein Zerr- und Scheinbild der Welt war; sie täuschte Freiheit, Weite und Würde vor, und sie war gebunden, eng und platt. Als ich längst keine Illusionen mehr über sie hatte, war doch das, was ich hier unter Welt verstehe, nicht auffindbar, und je größer mein Bemühen um sie, mein Verlangen nach ihr wurde, je schattenhafter erschien mir ihre Existenz. Und gleichwohl war sie mir notwendig, wenn nicht meine eigene Existenz eine schattenhafte sein sollte.

Der Kreis des literarischen Lebens umfing, damals wie heute, bei uns wie bei jeder Nation, Repräsentanten aller Stände und Schichten. Es liegt nahe, an eine Auslese der Besten und Fähigsten zu glauben; dem ist nicht so. Es liegt nahe, an eine Gemeinschaft zu glauben, die sich auf höherer Ebene zusammengefunden hat als der breiten Alltagsfläche und die, eben durch die vollzogene Auslese, durch Tun wie durch Sein vorbildlich ist. Dem ist nicht so. Es hat sich keine Auslese vollzogen, es ist keine Gemeinschaft entstanden, es ist ein zufälliges In-, Mit- und Gegeneinander mehr oder weniger begabter, mehr oder weniger guter, mehr oder weniger zielbewusster, ehrgeiziger oder verbitterter oder entzündlicher Einzelner. Es sind in der Mehrzahl Entlaufene, Entgleiste, sozial Verwundete und Kranke; Exponierte alle. Ihrem Zirkel, ihrer Erde sind sie alle entflohen, nicht um frei zu sein, sondern freischweifend, ob es nun Proletarier, Bürger oder Aristokraten sind. Sie bauen daher nicht auf einem gegebenen Fundament; sie müssen sich das Fundament erst errichten, und zwar jeder für sich und auf seine Weise. So vergeuden sie von vornherein Blut, Kraft und Geist für etwas, das Voraussetzung und Mitgift sein sollte. Sie zersplittern sich, ummauern sich, keiner hat die Bindung mit dem Volk, den Rückhalt an ihm, ja, das Volk beargwöhnt und verleugnet sie, es ist keine Mitte da, keine Übereinkunft, kein Vertrauen vom einen zum andern, nicht einmal Respekt vor der Arbeit oft, und auch wo wahrhaft Berufene sich vereinen, bilden sie Partei und hochmütige Sippe.

Genossen hat man bald, solche, die dasselbe meinen wie du, sogar dasselbe sagen. Aber sich im Redeaustausch vertragen und die geistige Kontinuität bewahren, ist zweierlei. Eifersucht lauert stets unter der Schwelle, Kleinlichkeit, Neid und Spott. Die Erfolglosen und die Erfolganwärter machen geschlossene Phalanx gegen die, die den mindesten Vorsprung haben, und es bedarf schon einer überwältigenden Persönlichkeit, um den Zweifel der Unsachlichen, die sich sachlich gebärden, niederzuschlagen. Dieser Zweifel kommt aus Verzweiflung oder führt zu ihr, und die Verzweiflung wieder weist auf mangelnde Zucht und Mangel der Idee, Mangel der Übereinkunft und Mangel der Verantwortung. Ich erlebte es, daß frenetische Begeisterung um einen Namen lärmte, der sich dann nur in einen lebendigen Menschen zu verwandeln brauchte, um Abkühlung und Einschränkung hervorzurufen. Fremdheit hielt stand; Distanz allein gab Glorie und bewahrte sie, sonst wurde alles zur Politik des Augenblicks missbraucht.

Ich selbst werde wohl nicht besser gewesen sein. Die Luft, die man atmet, färbt die Haut. Aber es wurmte mich die verlorene Illusion. Es wurmte mich das kleine Maß, das die Wirklichkeit mich anzulegen zwang. Es wurmte mich das Nichtbesserseinkönnen und Nichtbesserwerdenkönnen, und es wurmte mich schließlich die Maske, die ich tragen mußte, wenn höherer Wille und höhere Rücksicht Dissimulation forderten. Die lernt sich schwer, und in ihrer feinsten Form ist sie dann doch wieder ein Gebot der Menschlichkeit; nichts ist roher und zweckloser, als mit dem Wahrheitsanspruch und der Wahrheitsfackel Gemüter zu beunruhigen und zu verwirren, die nur in Dämmerung und Täuschung noch ein unsicheres Glück genießen. Das zu vermeiden und doch, in einem andern Sinn, wahr zu sein, ist eine Aufgabe für sich, die allerdings aus dem Bezirk des Literarischen heraus in den der Selbsterziehung und der Liebe tritt. Auch Liebe ist nicht angeboren, auch Liebe muss man lernen.

Die Entmutigung, die mich oft inmitten des Höllenkessels von Geistigkeit und Herzenstaubheit, Anmaßung und wesenloser Opposition überfiel, die Scham über alle die polternden, stolpernden Selbste, zu denen nun auch ich mich jetzt zählte, in denen ich aber von fern die entrückten Bewohner eines magischen Gartens gesehen hatte, veranlassten mich bisweilen zu der Frage, ob die enge Aufsässigkeit, der Brothader im Ringen um allgemeine Ziele, die provinzielle Dumpfheit und das brutale Strebertum, das Misstrauen und vorgesetzte Missverstehen, wo es um Werk, um Vollkommenheit, um Ineinanderwirken, um Ideenhaftes ging, um Gedanken und Gestalt, ob das eine deutsche Eigentümlichkeit, deutsche Krankheit sei, oder ob es ein Ergebnis des Metiers als solchem war, die dunkle Kehrseite, und in anderen Ländern nicht anders als hier. Ich machte die Bekanntschaft eines jungen französischen Schriftstellers, und mit ihm erlebte ich folgendes: Ich hatte mich ihm genähert, wir hatten fruchtbare Gespräche miteinander geführt, und bei einer schicklichen Gelegenheit gab er mir ein von ihm verfasstes Buch mit einer freundschaftlichen Widmung. Kurze Zeit darauf geriet ich in eine drückende Notlage, in der mein letztes Hilfsmittel dieses Buch war, das ich beim Antiquar für ein paar Groschen veräußerte. Mit ein paar Groschen konnte ich zwei bis drei Tage leben. Da wir in demselben Hause wohnten, war ein Zusammentreffen mit dem Franzosen trotz meines schlechten Gewissens nicht zu vermeiden, und von einem bestimmten Tag an bemerkte ich, daß sich sein Benehmen gegen mich verändert hatte; er hatte etwas Traurig-Scheues und Stumm-Vorwurfsvolles, wenn er mir begegnete; ich wusste seine Miene und Haltung nicht zu deuten, zog mich selber zurück, bedauerte die Entfremdung, und erst, als er abgereist war, löste sich mir das Rätsel auf ebenso peinliche wie überraschende Weise. Er hatte nämlich zufällig bei dem Antiquar, bei dem ich es verkauft hatte, sein Buch gefunden, noch mit der Widmung, denn nicht einmal soviel Klugheit und Takt hatte ich in meiner verhärtenden, verrohenden Bedrängnis aufgebracht, dies Zeichen einer persönlichen Beziehung vorher zu verlöschen. Er hatte gewartet bis zu seiner Entfernung aus der Stadt; nun schickte er mir das Buch wieder und mit ihm einen Brief. Dieser Brief war ein Dokument zartester Delikatesse und zugleich vornehmster Gesinnung; es ist mir kaum je ein ähnliches unter die Hände gekommen; es hat mich auch kaum je ein Mensch auf so profunde Manier belehrt und auf so feine beschämt. Was mich zu dem hässlichen Schritt getrieben, hatte er erraten; daß er sich verletzt gefühlt, verschwieg er; zum Vorwurf machte er mir den Mangel an Vertrauen. Er schrieb ungefähr: „Kommen Sie nach Paris. Es gibt dort vielleicht manches, worüber Sie sich zu beklagen haben werden, manches, was in Ihrem Vaterland anziehender, solider, gesünder ist, aber eines werden Sie dort unter den Leuten von Geist und Menschen unseres Berufs finden, was ich in Deutschland in einem schmerzlichen Grad vermisst habe: wahre Kameradschaft, Courtoisie, unbedingte gegenseitige Achtung!“

Es ist mir dies später bestätigt worden. Die Kenntnis romanischen Geistes- und sozialen Lebens lässt es von innen her verstehen. Das deutsche Wesen ist Zerstückung; Zerstückung bis ins Mark; deutsche Entwicklung geht von Ruck zu Ruck; Epochen des Reichtums und der Blüte münden jäh in eine Ödnis; große Erscheinungen sind unbegreiflich abseitig; zwischen bewegten Teilen fehlen Vermittlungen und Übergänge, so daß an ein lebendiges Glied ein totes angenietet und Kaste von Kaste durch unübersteigliche Mauern geschieden ist. Ein Zentrum gibt es nicht und hat es nie gegeben, die vier Jahrzehnte des geeinten Reiches haben nicht einmal eines der Verwaltung geschaffen; der Künstler, der Dichter, konnte er nicht als Beamter subordiniert werden, so war er ein verlorenes Individuum, und seine Position hing vom Ungefähr des ökonomischen Gelingens ab. Die eine Schicht der Gesellschaft verdammt, was die andere preist; Traditionen brechen über Nacht, Bildung vernichtet das Bild, Gelehrsamkeit die Lehre, Gesinnung den Sinn, Erfolg die Folge, Liebhaberei die Liebe, Betriebsamkeit den Trieb.

Alles dies erfuhr ich und mußte es erfahren, da es ja meiner Natur auferlegt war, daß sie sich sozusagen des ganzen Körpers bemächtige. Ich war nun dem umrisslosen Dämmern entwachsen; ich hatte mir meine Formen, meine Inhalte zu suchen; was von ihnen mitgeboren war, bedurfte der Relation zum Realen und der Ergänzung in ihm. Es zeigten sich Aufgaben; ich fühlte mich zum Epiker berufen; als solcher bestand ich mit meiner Zeit und durch meine Zeit. Symbol und Idee wurden von der Inspiration, der Phantasie gegeben; Farbe, Schwung und Leidenschaft kamen vom Blut her, von der Anschauung, der inneren Temperatur; wie aber war es um das Außen bestellt, um alles das, was mir Nahrung, Anlass, Gerüst, Baugrund, „Stoff“ sein sollte? Da gab es weder eine Einheit noch eine Form, weder ein Übereinkommen noch ein organisch Entstehendes. Stück um Stück, Person um Person, Stadt um Stadt, Staat um Staat setzte sich deutsches Leben mittelpunktlos zusammen. Der Franzose braucht nur hinzuschreiben: Paris, und er hat, eingeschlossen in eine Wortnuss, ein Ungeheures von Begebenheit und Entfaltung, das Siegel gleichsam für die Tatsache Gesellschaft, für die Tatsache Nation, für die Tatsache Frankreich. Er besitzt damit eine ganz bestimmte Menge von Voraussetzungen, und zwar erlesenen Voraussetzungen, die schon in den Händen und Geistern der vor ihm Gewesenen ihre Distinktion, Gestalt, Glaubwürdigkeit und gültige Prägung erhalten haben. Dem Engländer liegt eine seit Jahrhunderten gebahnte Straße öffentlichen und privaten Lebens vor, unumstößliche Konventionen; der Italiener ist gedeckt durch Beziehungen zu großer Vergangenheit, die ihn immer noch trägt, durch mitwirkende Landschaft, mitwirkende Sprache und als Schaffender der Ehrfurcht auch des Geringsten im Volke fast stets gewiss; in Russland wird Überlieferung und fertige Lebensgestalt ersetzt durch eine eigentümliche Freiheit und Urbanität der Führung: Mensch steht unmittelbar gegen Mensch, bizarr selbstverständlich und verwirrend oft, da ein kastenmäßiges Sichabschließen und Standesunterschiede in unserem Sinne nicht existieren und nie existiert haben.

Der Deutsche allein muss „dichten“, wenn er gesellschaftliche Gebundenheit und Gliederung, wenn er Gesellschaft überhaupt, wenn er Schicksale in bezug auf Gesellschaft darstellen will. Weicht er dem aus, so zerfließt ihm alles im Unbestimmten, Zufälligen, Phantastischen. Entweder seine Wirklichkeit wird unglaubwürdig, weil übersteigert, krampfhaft vereinfacht, willkürlich umgebogen, oder sie bleibt klein, unmaßgeblich und ohne typische Prägung. So ist auch, was sich im „Wilhelm Meister“ als Gesellschaft zeigt, durchaus „gedichtet“, Synthese, Übertragung, Schema. Keine Literatur schleppt solchen Ballast von Entwicklungsgeschichten, Sonderlingsgeschichten, Zuständlichkeiten, poetischen Kuriositäten mit sich wie die deutsche. Größe, Charakter, Bedeutung können dem deutschen Roman in seiner höchsten Stufung immer erst durch den Schöpfer verliehen werden, der in viel weiterem Ausmaß, als man ahnt, Erfinder, Verdichter, Dichter sein muss. Der deutsche Roman ist in erster Linie individuell (meist auch provinziell), während der englische oder russische in erster Linie national ist und daher auch für die Nation repräsentativ.

Niemals kann auch ein deutscher Dichter, und nun gar ein Romandichter (den Begriff gibt es erst seit zwanzig Jahren, vordem haben die Professoren nicht gestattet, daß man einen Romanschreiber Dichter nenne), im selben Sinn die Nation repräsentieren wie etwa Balzac Frankreich, Dickens England, Tolstoi Russland repräsentiert hat. Der deutsche Epiker hängt in der Luft, er spielt im Dasein des Volkes keine Rolle, und zwingt er das Augenmerk und die Herzen dennoch zu sich, so spürt er zugleich einen sonderbaren öffentlichen Widerstand, eine ebenso sonderbare heimliche Abwehr, als ginge dies gegen den Ernst und die Würde.

Die Schwierigkeit, vor der ich mich sah, war gewaltig. Wie sollte ich eindringen in die vielfach abgegrenzten Zirkel? Wie über die flache Wahrheit des bloßen Sehens hinaus zur tieferen der Anschauung gelangen? Ich stand an der Peripherie; Hunderte wie ich dorthin verwiesen, setzten darein gerade ihre Ehre, ich aber hatte da nichts zu suchen, ich brauchte die Mitte oder wenigstens das Segment, ein Mittleres, einen Durchschnitt, den einfach seienden Menschen und seine noch nicht in Spiegeln aufgefangene Bewegung; ich brauchte Anschluss, menschliche Wirkung, soziale Erfahrung, eine Tragfläche, ein umschlingendes Band. Statt dessen fand ich mich zurückgeworfen und isoliert unter dreifach erschwerenden Umständen: als Literat; als Deutscher ohne gesellschaftliche Legitimation; als Jude ohne Zugehörigkeit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude