Kapitel 08 - Erlebnis will mit Freiheit behandelt sein, sonst bleibt es dem Zufälligen verhaftet oder ...

Kapitel 08 - Erlebnis will mit Freiheit behandelt sein, sonst bleibt es dem Zufälligen verhaftet oder ans Eitle verdingt. Da eine eigentliche Lebensbeschreibung hier nicht beabsichtigt ist, sondern nur Darstellung eines schicksalhaften Konflikts, genüge als Zusammenhängendes der bisherige Bericht, der lediglich aufzeigen soll, wie ich geworden, und auf welchem Boden ich gewachsen bin. Der Weg wird nun schmaler und bestimmter, die Richtung energischer sein müssen, Gebot der Verknüpfung hat zurückzutreten gegen die Folge und Stufung des Entscheidenden.

Obwohl ich meine Ehre und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine Pflicht zu tun und das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, wozu bisweilen keine geringe Selbstüberwindung nötig war, gelang es mir nicht, die Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erringen, und ich merkte bald, daß es mir auch bei exemplarischer Führung nicht gelungen wäre, daß es nicht gelingen konnte, weil Absicht dawider war. Ich merkte es an der verächtlichen Haltung der Offiziere, an der unverhehlten Tendenz, die befriedigende Leistung selbstverständlich zu finden, die unbefriedigende an den Pranger zu stellen. Von gesellschaftlicher Annäherung konnte nicht die Rede sein, menschliche Qualität wurde nicht einmal erwogen, Geist oder auch nur jede originelle Form der Äußerung erweckte sofort Argwohn, Beförderung über eine zugestandene Grenze hinaus kam nicht in Frage, alles, weil die bürgerliche Legitimation unter der Rubrik Glaubensbekenntnis die Bezeichnung Jude trug. Aber dies ist ja hinlänglich bekannt, niemand hat sich schließlich mehr darüber gewundert, auch ich war von vornherein mit der Situation vertraut, was ja an sich schlimm genug ist und eine beständige Trübung der allgemeinen Lebensstimmung herbeiführen muss.


Auffallender, weitaus quälender war mir in dieser Beziehung das Verhalten der Mannschaften. Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Hass hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Hass.

Jeder redliche und sich achtende Jude muss, wenn ihn zuerst dieser Gifthauch anweht und er sich über dessen Beschaffenheit klar zu werden versucht, in nachhaltige Bestürzung geraten. Und so erging es auch mir. Kam hinzu, daß die katholische Bevölkerung Unterfrankens, reichlich durchsetzt mit einem unerfreulichen Schlag noch halb ghettohafter, handelsbeflissener, wuchernder Juden, Krämer, Trödler, Viehhändler, Hausierer, einer dauernden Verhetzung preisgegeben war, an Urbanität und natürlicher Gutherzigkeit weit unter benachbarten Stämmen stand und das Andenken an Brunnenvergiftungs- und Passahschlachtungsmärchen, bischöfliche Bluterlässe, mörderische und gewinnbringende Judenverfolgungen noch lebendig im Sinne trug.

Es geschah, daß ich zu einem jungen Menschen in förderliche Beziehungen trat; wenn dann die gewisse Enthüllung unvermeidlich war, zog er sich entweder vorsichtig zurück, oder er gab sich eine Weile unbefangen, um schließlich doch ein schwer bekämpfbares Misstrauen durchblicken zu lassen, oder er ließ mich verstehen, daß er in meiner Person eine Ausnahme statuiere und sich seines begründeten Vorurteils zu meinen Gunsten entäußere. Das war dann das Beleidigendste von allem. Eher noch können wir es ertragen, daß das Individuum in uns für minderwertig proklamiert wird, als die Gattung; eher noch darf der Charakter verdächtigt werden, als die Geburt; gegen jenes kann man sich retten, man kann den Irrtum beweisen, oder wenigstens sich einbilden, ihn widerlegen zu können; gegen dieses sind alle Argumente und Beispiele machtlos, und der gehütetste innerste Spiegel des Bewußtseins trübt und befleckt sich.

Als ich nach der Entlassung vom Militärdienst nach Nürnberg kam, wo man mir eine schlechtbezahlte und untergeordnete Stellung in einer Kanzlei angeboten hatte, war ich in einem wesentlichen Teil des Verhältnisses zur Welt schon gelähmt. Die Verbindung, die der Stolz in einem mit der Furcht vor Erniedrigung eingeht, ist für die Sittlichkeit und Freiheit des Handelns die schädigendste. Ist das errungene Gefühl des eigenen Wertes unverlierbar geworden, so rettet vor der Verbitterung nur die Isolierung, der Entschluss, sich suchen und finden zu lassen, die Sehnsucht nach dem, der suchen und finden wird. Es ist das Wunderbare der Jugend, daß sie am Menschen nie ganz zu verzweifeln vermag, eher wirft sie sich selbst weg, als daß sie aufhört, an den Menschen, dies geträumte Bild vom Menschen zu glauben. Und so warf auch ich mich weg damals. Ich geriet in schlechte Gesellschaft; ich hatte unhemmbares Verlangen nach geistigem Umgang und stürzte in die Kloake des Geistes, mich dürstete nach Bestätigung, und ich wurde aus mühselig eroberten Festen geschleudert, ich wünschte mir das Wort, das nicht seinen ganzen Gehalt aus Geld, Schweiß und Plage bezieht und wurde von dem besudelnden getroffen, dem, das Geistesart und Geisteshaltung äfft. Mehr ist schlechterdings nicht zu sagen nötig, um die Existenz zu kennzeichnen, die ich durch Jahr und Tag führte; was sollte es frommen, das hässliche Einzelne wieder hervorzuziehen aus dem Grab der Zeit, die in schmutzigen Kneipen verbrachten Nächte, Ekstasen eines ziemlich ideenlosen Rebellentums, jämmerlichen Selbstverlust, Prahlerei mit Armut, versäumte Pflicht, würgende Not, billige Herausforderung des Bürgers. Es ist heute nicht neu und war zu seiner Stunde nicht neu. Auch von dem Ring der traurigen Figuren zu sprechen, lohnt nicht. So trüb oder auch merkwürdig die Schicksale, so mittelmäßig der Zuschnitt im ganzen. In allen Winkelkaffeehäusern der Erde wird von allen malkontenten und impotenten Künstlern, Literaten und verkrachten Studenten, von allen Falstaffs und Pistols, Collines und Hjalmar Ekdals dieselbe Phrase in derselben Manier vom Rausch bis in den Katzenjammer totgeschleift.

Was als Ingredienz zu tieferer Lebensbestimmung vom Treiben jener Jahre für mich blieb, war einerseits die Stadt, Monument des Mittelalters, wie durch Zauberfluch ruhend inmitten tobender Betriebsamkeit, fieberhafter, von Tag zu Tag anschwellender Industrie, Ausgangspunkt fast und werdendes Zentrum des Kampfes zwischen Bürgertum und Proletariat; es ist mir immer symbolisch bedeutend für diese Konstellation erschienen, daß die erste Eisenbahn Europas zwischen Nürnberg und Fürth lief. Andrerseits, im natürlichen Zusammenhang damit, war Anblick und Erfahrung einer schroff geteilten Menschenwelt, Welt von Beschauenden, Stillen, Vergehenden und Welt von Wollenden, Überlauten, Kommenden.

Alles das in begrenztem Kreis, hingestellt wie zum Exempel und Experiment, im Herzen Deutschlands. Die Schalen schwankten vor mir auf und ab. Ich war nicht gesonnen, mein Schicksal an eine von ihnen zu hängen. Von dort wurde mir Zärtlichkeit alter Formen geschenkt, Ehrfurcht vor Überlieferung, Hauch der Geschichte, Innensein, Gabe, das Umfriedete, Geschlossene, Gesicherte zu spüren und zu denken; von hier kam die Vision der neuen Dinge, Begriff und Gesicht verwandelter Zeit, im übrigen freilich Kälte, Kälte der Seelen, Trägheit der Seelen, Verkrustung der Seelen.

Wenn ich mit jenen nun Versunkenen nicht versunken bin, so habe ich es vielleicht einem Menschen zu danken, der im bedenklichsten Augenblick wie ein Retter in mein Leben getreten ist. Ich hatte seine Sympathie erweckt, er beobachtete mich, näherte sich mir, zeigte mir die Gefahr, und seine sanfte, geduldige, liebevolle Überredung bewirkte, daß ich das verrottet-unfruchtbare Treiben verabscheuen und meiden lernte. Was ernsthafter Zuspruch nicht fertig brachte, erreichte er durch kaustischen Humor, durch die beispielhafte Anekdote, denn er war ein unermüdlicher Erzähler und barst von Geschichten. Obwohl selbst in vielfaches Ungemach verstrickt, hamletisch vergrübelt und, da seine zugleich kantig-schroffe und weiblich-sensible Natur ihm jeden vertrauten Umgang erschwerte, auch vereinsamt, schloss er sich werbend, führend, eifersüchtig wachsam an mich an. Er war einer der problematischesten Menschen, denen ich je begegnet bin, und sein Einfluss erstreckte sich über meine wichtigsten Jahre.

Er war sechs oder sieben Jahre älter als ich. Er entstammte einem alten Nürnberger Patriziergeschlecht, das aber völlig verarmt war. Sein Vater war tot, er lebte mit seiner Mutter, einer welthassenden, weltfremden, eigentümlich strengen Frau in einem Verhältnis zwischen Unverträglichkeit und Liebe. Seines Zeichens war er Lithograph, doch mit seiner Art, die sich wie ein Fisch verbiss, hatte er sich literarischen Interessen zugewandt, nicht als Produzierender, sondern als ein mit seiner Gegenwart und den Zeitgenossen leidenschaftlich Hadernder. Er war schlank, hager, sehnig, flink, nervös wie ein Rennpferd, launenhaft, verstand zu imponieren und zu gewinnen, war voller Impuls und Heftigkeit, auch voll List und Witz, und hatte Neigungen zum Aszeten, zum Bücherwurm, zum Homöopathen, zum Sonderling.

Als er, der seine Kräfte in der Heimat verdorren fühlte, nach Zürich gegangen war, wo ihm ein größerer Wirkungskreis in Aussicht stand, war mir zumute, wie einem, den der gute Geist verlassen hat, und mein Trachten war darauf gerichtet, wieder in seine Nähe zu gelangen. Ein Briefwechsel von seltener Intensität, seiner- wie meinerseits, gab nur ungenügenden Ersatz für die lebendigen Stunden, aber es war vorläufig keine Hoffnung auf Wiedervereinigung. Ich hatte indessen das Mündigkeitsalter erreicht, bekam das kleine Restkapital des mütterlichen Vermögens ausgehändigt, fünf- bis sechshundert Mark, in deren Besitz ich mir reich erschien. Ich kündigte meine Stellung, zahlte meine Schulden, fuhr nach München und lebte ein paar Wochen in Sorglosigkeit, was ein vollkommen neuer Zustand für mich war, der sich auch bald rächte, denn eines Tages war der vermeintliche Schatz erschöpft. Ich sah mich nach einer neuen Stellung um, ließ ein Inserat drucken, und es meldete sich ein Generalagent im badischen Freiburg, der mich um Bild und Personalien ersuchte und mich nach geschehener Sendung engagierte. Ich war der einzige Beamte in seinem Bureau und hatte täglich zehnstündige Schreibarbeit zu leisten. Der Mann, in dessen Dienst ich getreten, war hart, karg, hinterhältig, schwer zu befriedigen, im Benehmen von betonter Korrektheit, Allüre des Reserveleutnants. An einem Sonntagmorgen, als ich in die Kanzlei gegangen war, um eine dringliche Arbeit zu erledigen, erschien er gleichfalls, lobte meinen Eifer, sagte aber dann, ich möge die Arbeit lassen und lieber in die Kirche gehen. Etwas erstaunt, ihn über diesen Punkt nicht unterrichtet zu sehen, antwortete ich, was zu antworten war. Sein Gesicht veränderte sich erschreckend. Nach einem bösen Schweigen warf er mir vor, ich hätte ihn absichtlich in Unwissenheit gehalten, es wäre meine Pflicht gewesen, ihm von meiner Konfession im Offertbrief präzise Mitteilung zu machen, er habe an dergleichen nicht gedacht, da ihn meine Photographie und dann auch mein Auftreten getäuscht habe, und als getäuscht müsse er sich auch betrachten. Weiter äußerte er sich nicht, aber er bereitete mir nun, da er nicht wagte, mich kurzerhand auf die Straße zu werfen, die gehässigsten Schwierigkeiten, nörgelte an jedem Federstrich, an jedem Gruß und legte mir aus niedriger Erwartung heraus eine Falle, indem er mir nämlich das gesamte Bargeld der Agentur übergab und darauf rechnete, daß ich, dem er den vereinbarten Ersatz der Reisekosten bisher vorenthalten hatte, in meiner von ihm gewussten Notlage mich an dem Geld vergreifen würde. Es geschah auch wirklich, daß ich, während er einige Tage verreist war, zwei Taler aus der Kasse nahm; ich konnte mir nicht anders helfen in der Bedrängnis. Ich gestand es ihm sogleich und bat, die zwei Taler als Vorschuss zu berechnen. Jedoch er lächelte höhnisch. Er hatte nun den Anklagevorwand, der ihn von mir befreite und entließ mich auf der Stelle.

Es waren schlimme Wochen, die darauf folgten. Unterstandslos irrte ich im breisgauischen Schwarzwald herum, verbrachte Regennächte in den Hütten der Holzfäller und wäre verhungert, wenn ich nicht von einigen Bauern Milch und Brot bekommen hätte, und zwar durch Vermittlung ihrer Kinder. Es waren Kinder aus einem Dorf am Titisee, die in Freiburg die Schule besuchten. Ich begleitete sie häufig am Abend durch den Wald und erzählte ihnen dabei allerlei Geschichten. Dies gewann mir ihre Zuneigung. Aber dann ertrug ich dieses Leben nicht mehr, verkaufte, was ich von meinen Habseligkeiten noch entbehren konnte, einen Rock, ein paar Bücher, meine Uhr und machte mich auf die Wanderschaft nach Zürich, wo ich nach vielen Mühseligkeiten auch glücklich anlangte und vom Freund mit einer Freude empfangen wurde, die mich erschütterte und für alle Leiden entschädigte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude