Kapitel 06 - Es war mir auch damals gar nicht so sehr um Werk und Wirken zu tun, als ich mir in ephemerer ...

Kapitel 06 - Es war mir auch damals gar nicht so sehr um Werk und Wirken zu tun, als ich mir in ephemerer Ungeduld vielleicht selber einbildete. Wonach ich begehrte, war die Menschenwelt, eine Lebensmitte, ein Fundament, um Werk und Gewirktes darauf zu bauen. Fundament hatte ich nicht. Von Anbeginn an nicht, und unheimlicherweise war es nicht ein Wissen von Entbehrung, von dem ich mir bestimmte Rechenschaft hätte ablegen können, nicht die Erkenntnis umschriebener und begrenzter Widerstände, sondern nur ein ahnendes, blindes Ertasten davon, das sich im Bewusstsein und in der Seele kaum formulieren ließ, zur Greifbarkeit sich erst viel später verdichtete. Denk ich zurück, so war es wie ein Herumtappen im leeren finstern Raum, aus dem man erst einen Ausgang finden muss, bevor eine sinnvolle Tätigkeit überhaupt in Frage kommt, ein System der Dinge entstehen kann.

Ich wurde als Mensch nicht als zugehörig gefordert, weder von einem einzelnen, noch von einer Gemeinschaft, weder von den Menschen meines Ursprungs, noch von denen meiner Sehnsucht, weder von denen meiner Art, noch von denen meiner Wahl. Denn zu wählen hatte ich mich ja nachgerade entschlossen, und die Wahl hatte stattgehabt. Von jenen habe ich mich mehr durch inneres Geschick, als durch freien Entschluss geschieden, diese aber nahmen mich nicht auf und an, und mich selber darzubieten, ging gegen Stolz und Ehre. Das Problem entfaltete sich also in seiner ganzen beunruhigenden Wucht.


Das Wort von der Sehnsucht und Wahl darf nicht missverstanden werden. Keine Regentenregung war in mir. Auch Vergesslichkeit nicht und noch weniger Nützlichkeitserwägung. Ich lebte in schmeichelnden, die mir so nahe, so augenscheinliche Wahrheit eigenwillig verschleiernden Ideen von allgemeinem Menschentum; in voller Unbefangenheit, durch Erfahrungen nicht belehrt, noch nicht gedemütigt, Erfahrungen auch sonst schwer zugänglich, schuf ich mir von aller Umwelt idealisch verklärte Bilder, und ein naives Selbstzutrauen, Selbstbetrug hielt mich ab, statuierte Unterschiede der Klasse, Kaste und Rasse, der Herkunft und des bürgerlichen Charakters auch auf mich anzuwenden.

Ich war der Bedingtheit entledigt und nahm es in unheilvoller Täuschung für ein typisches Los, so daß mir die Menschenwelt in lauter einzelne ebenso unbedingte Wesen zerfiel. Hiervon wurde meine Phantasie ins Uferlose, Bodenlose, Firmamentlose gerissen, und ich stand schwach und armselig vor diesem Unbedingten, das mir einerseits Verführung wurde, anderseits Fatum und Gewissensbürde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude