Kapitel 05 - Schwer und dunkel waren die Jahre des Werdens. Um von der Unbill und dem Gefühl ...

Kapitel 05 - Schwer und dunkel waren die Jahre des Werdens. Um von der Unbill und dem Gefühl erlittenen Unrechts nicht erdrückt zu werden, flüchtete ich mich gern in die Vorstellung, daß der Weltgeist für mich im stillen wirkte. Es war ziemlich wunderbar, daß ich an der kerkerhaften Wirklichkeit nicht zerschellte.

Ich hatte den Forderungen, mit denen man meine Natur vergewaltigen wollte, nur Trotz entgegenzusetzen, schweigenden Trotz, schweigendes Anderssein. Zwei Freunde halfen mir, jeder in seiner Weise. Beide waren Juden, beide spielten eine typische Rolle in meiner Entwicklung.


Der eine war ein schlanker, großer, blondlockiger Mensch, mit einem Antinouskopf. Es war der Sohn einer reichen Witwe und besaß eine ansehnliche Bibliothek. Die Stunden unseres Beisammenseins und die Beschäftigung mit den Werken der Dichter waren erstohlen, ihr Gepräge war Schwärmerei. Mit unersättlichem Hunger nahm ich Vers und Prosa in mich auf, Gestalt und Szene. Alles war mir schaurig heilig, was in diesem Bereich webte; zwischen dem Alltäglichen und der Region der Hingabe und Ergriffenheit war nur eine schmale Brücke, die heimlich passiert werden mußte; hier war Kälte, Angst, Beengung, Kahlheit, Dumpfheit; dort Glut, Innigkeit, Passion; und Wort, Bild, Traum waren die Altäre eines verschwiegenen Dienstes. Möglich, daß der Freund mit mir von mir hingerissen wurde; er war weich, sentimental, eitel auf seine Schönheit; mir war er eine Zeitlang Idol. Wie ich zum Kaufmann bestimmt, wollte er Schauspieler werden, und da ich den künftigen Garrick der deutschen Bühne in ihm erblickte, war die Tragödie unser eigentliches Feld. Der Ehrgeiz erwachte in mir, meinem bewunderten Garrick ein Shakespeare zu werden, und ich ging selbst an die Verfertigung von Trauerspielen. Ich kannte keine Richtung oder Schule; es war Sturm und Drang in mir, aus mir, Pathos und Überschwang aus eigenen Quellen, erfundene Welt voll Mord, Blutdurst, Raserei; und der Freund glaubte. In seinen Augen hatte ich schon die Unsterblichkeit erlangt. Als uns das Geschick voneinander getrennt hatte und ich in die Fabrik des Onkels nach Wien gekommen war, hielt ein enthusiastischer Briefwechsel das Feuer lebendig, und in zahlreichen, umfangreichen Episteln gab ich ihm Rechenschaft von allem, was ich schrieb und dachte. Er aber verlosch bald. Ich merkte, daß ihm meine intransigente Haltung unbequem wurde, denn er hatte paktiert. Statt meinen geistigen Qualen wenigstens Echo zu sein, erschöpfte er sich in rührseligen und verlogenen Schilderungen seiner Liebesabenteuer, und eines Tages, als er wieder lang und breit von der Leidenschaft zu einer Artistin geschrieben hatte, beschloß ich, nicht mehr zu antworten und habe dann auch nie wieder von ihm gehört.

Der andere Freund war der Sohn eines Handelsmannes in Gunzenhausen, der in München die Rechte studierte, drei Jahre älter als ich war, und den ich stets in den Ferien zum Genossen hatte, schroffer Gegensatz zu jenem ersten. Im Wachstum zurückgeblieben, zwerghaft klein, war ihm der durchdringendste jüdische Verstand gegeben, eine Fähigkeit, die Schwächen und Blößen der Menschen wahrzunehmen und zu geißeln, die mich ihn fürchten ließ. Meine dichterische Neigung verfolgte er mit beißendem Spott, namentlich, wenn junge Mädchen dabei waren, vor denen er zu glänzen liebte, und denen seine Witzworte in Heinescher Manier, seine Belesenheit und Schlagfertigkeit imponierten.

In dieser kleinen Welt war er das große Licht, die letzte Instanz der Kritik, während ich als Poetaster und haltloser Schwärmer, der nicht einmal den Weg humanistischer Bildung einschlug, eine mitleidswürdige Figur machte. Durch nichts konnte ich mich vor ihm behaupten, durch keine Anstrengung, keine Verheißung, keinen Hinweis; er zerpflückte mir Wort und Leistung, verdächtigte das Bestreben sogar, und doch war ihm zu gefallen, von ihm gebilligt zu werden mein schmerzliches Bemühen. Nicht bloß, daß er Misstrauen in meiner Umgebung säte, rief er auch Schwanken in mir selbst hervor, und eingeschüchtert von seiner Beredsamkeit und Argumentierungskunst, der scheinbar unbeugsamen Strenge seines Urteils, der Überlegenheit seines Wissens und der Bosheit seiner Zunge, betrachtete ich ihn als Richter und Führer. Als er sich endlich zur Anerkennung meines Werbens und Kämpfens herbeiließ, legte ich in einer wichtigen Stunde die Entscheidung über mein Schicksal in seine Hand. Das kam so:

Meine Situation im Hause meines Onkels war unhaltbar geworden. Ich entsprach den Erwartungen nicht. Ich zeigte mich bei der mir zugewiesenen Arbeit lustlos und unverlässlich, entschlüpfte bei jeder Gelegenheit dem starren Kreis, um im Verborgenen einer Neigung zu frönen, die für befremdlich, schädlich, ja verbrecherisch geachtet wurde; die Tage verbrachte ich in einer verworrenen, ja somnambulen Gemütsverfassung, die Nächte, oft bis zum Morgengrauen, fiebernd, berauscht, entselbstet vor meinen Manuskripten. Dass ich da lauter leeres Stroh drosch, ist nicht zu bezweifeln, aber es handelt sich in solchen Epochen der Entwicklung weniger um Qualität als um Intensität. Die Folgen waren häusliche Auseinandersetzungen, Vorwürfe der Undankbarkeit, Besserungsversuche, Strafmandate, Predigten, Hohn. Dass in meinem abirrenden Treiben irgend Vernunft und Zukunft liegen könne, von der Möglichkeit des Broterwerbs zu schweigen, wurde gar nicht erwogen; mein Onkel, ein gütiger, einfacher, obwohl schwacher Mensch, Einflüssen ausgesetzt, die ihm mein Bild verzerrten, Arbeits- und Erwerbssklave, drohte, mich mit Schimpf davonzujagen, und allerdings mußte es mir als das Schlimmste erscheinen, meinem Vater wieder zur Last zu fallen, oder, wie es später auch kam, in einer Provinzabgeschiedenheit als Bureauschreiber meinen Unterhalt zu verdienen.

Es war da ein langjähriger Hausarzt, zugleich Hausfreund, der eine eigentümliche geistige Ähnlichkeit mit meinem Freund hatte. Scharfer Kopf, scharfes Auge, skeptischer Verstand, literarisch unterrichtet, gleichfalls Jude, war er wie das Ebenbild von jenem aus älterer Generation, nur daß er mehr Welt und mehr Bonhomie besaß. Derselbe Typus heute hat überhaupt nichts mehr von der Welt und Bonhomie. Es kann bei oberflächlichem Urteil bedünken, als hätte der Typus an Positivität des Geistes gewonnen, was er an Gutmütigkeit und Schliff verloren hat. Aber das ist nur Schein. Zieht man die Hülle weg, so steht ein Leugner da, jetzt wie vordem, ein Entgötterter, ein Opportunist aus still nagender Verzweiflung, deren Wesen ihm freilich selber unbekannt ist. Seltsam, mit der nämlichen Rückhaltlosigkeit wie an den jungen Mann schloß ich mich an den älteren an, um in genau der nämlichen Art enttäuscht zu werden. Die spezifisch jüdische Form von Weltklugheit ist mir im Laufe meines Lebens vielfach verhängnisvoll geworden, weil ich mit völlig anders eingestellten Sinnen unvermögend war, die praktischen Nutz- und Nahzwecke auch nur wahrzunehmen, dabei aber mit der äußeren Verantwortung häufig, mit der inneren immer beladen wurde.

Die Beweise meines Talents, die ich dem Arzt lieferte, wurden von ihm verworfen und verlacht, waren dann auch in Gesellschaft das Ziel seiner geistreichen Sticheleien. Doch ließ er sich zu Besprechungen mit mir herbei und gab mir den Rat, zu studieren. Die Frage war nur, ob der Onkel die Mittel dazu bewilligen würde, und er versprach, ihn dazu zu überreden. Indessen wandte ich mich, bezaubert von der neuen Aussicht, an meinen Freund in München, schilderte ihm, wie die Dinge lagen, schrieb vorgreifend, daß ich möglicherweise auf die Unterstützung meines Verwandten zählen könne und fragte, ob er mich aufnehmen, ob er mir beistehen, mich zum Examen vorbereiten würde. Die Antwort war über Erwarten herzlich und ermunternd; das Bild eines gemeinsamen Wirkens und Strebens, das er, der sonst so kühl abwägende, mir machte, war so verführerisch, daß ich plötzlich die Geduld verlor, mit dem Onkel und seinen Beratern weiter zu verhandeln und eines Nachmittags im Mai 1890 heimlich meinen Koffer packte, auf den Bahnhof ging und mit fünfzig oder sechzig ersparten Gulden nach München flüchtete.

Ich entsinne mich noch sehr gut der nächtlichen Fahrt im Personenzug, weil ich mich während ihrer ganzen Dauer in einer Stimmung befand und ihr gemäß handelte, die nicht oft wiedergekehrt ist in meinem Leben. Ich saß in einem trüb erleuchteten Wagen dritter Klasse, zusammen mit etwa dreißig Menschen, Bauern, Kleinbürgern, Arbeitern, auch Frauen und Mädchen, und vom Beginn der Fahrt an, die ganze Nacht hindurch, hielt ich die Leute mit ausgelassenen Späßen, lustigen Geschichten und unbedenklichen Hanswurstiaden in fortwährendem schallenden Gelächter, in das auch die Schaffner einfielen. Alle die lachenden, feuchten Augen waren gespannt, dankbar-entzückt auf mich gerichtet, und ich erinnere mich noch eines mageren alten Bauern, der vor Lachen förmlich weinte, und einer Frau mit einem Korb, die mir von Zeit zu Zeit Äpfel zusteckte und meine Hand tätschelte. Ich hatte Vergnügen daran, zu beobachten, wie die Traurigkeit, Bitterkeit, Wundheit in mir im selben Maße wuchsen, in dem ich mein harmloses Publikum zu vermehrtem Beifall hinriss. So frech in die lebendige Antithese stellt man sich nur unter dem Antrieb jugendlich-selbstgefälliger, selbstbetrunkener Menschensucht und Menschenflucht, aber es ist wohl auch eine Empfindung außerordentlicher Einsamkeit dabei im Spiel gewesen.

Mein Freund, der Student, hatte gehofft, daß der reiche Onkel, den er respektierte, mich mit Geldmitteln ausgerüstet und mit seinem Segen hatte ziehen lassen und war natürlich nicht erbaut, als es sich herausstellte, daß ich von der Krippe weggelaufen sei und um Gnade erst betteln müsse. Halbgezwungen machte er noch einmal den Fürsprecher meines unbesonnenen Unternehmens, und es wurde mir ein sehr geringes Monatsgeld bewilligt, so gering, daß es mich kaum vor dem Hunger bewahrte und von geregelter Arbeit und sorglosem Studium nicht die Rede sein konnte. Die Laune meines Mentors wurde daher immer finsterer; ich wurde ihm zur Last, er wusste nicht, was er mit mir beginnen sollte und suchte sich der Verantwortung zu entledigen; er hielt mir meine Vermessenheit vor, meine Dumpfheit, den Mangel an Willenskraft und prophezeite mir Untergang. Im Kreis seiner Kommilitonen, in den er mich bisweilen brachte, galt ich als traurig-komische Person, Wildling, armer Teufel, nach studentischen Begriffen unebenbürtig, Gegenstand der Geringschätzung auch insofern, als ich nicht zu trinken imstande war, und binnen kurzem sah ich mich in einer viel übleren Lage als vor der Flucht aus dem Hause des Onkels. Unter dem Schein der Obsorge und Voraussicht beging mein Freund die Verräterei, vor seiner Reise in die Ferien an meinen Onkel zu schreiben, daß ich es mit den neuen Aufgaben nicht ernst nehme, und daß er infolgedessen meinem Tun und Treiben nicht länger Vorschub leisten wollte; die akademische Laufbahn sei mir nach seiner Überzeugung verschlossen. Darauf wurde die Geldunterstützung, die ich bis dahin bezogen, eingestellt, und ich befand mich im Zustand der Hilflosigkeit und Verlassenheit, die noch um das Gefühl des Zweifels an der Zukunft vermehrt wurden, als ich an einem der Tage steigender Bedrängnis, beladen mit einem voluminösen Epos in Blankversen zu einem der berühmtesten Dichter Münchens wallfahrtete, um ein Urteil, einen Fingerzeig, ein tröstliches Wort von ihm zu empfangen. Das Gegenteil trat ein. Der große Mann, der sich mir kühl und majestätisch gab, riet mir ernst, mich wieder dem Kaufmannsberuf zuzuwenden, wozu ihm wahrscheinlich die Beschaffenheit meines Opus guten Grund bot. Ich zürnte ihm nicht, denn ich war schon damals instinkthaft davon durchdrungen, daß in den Jahren der Entwicklung Werk und Gewirktes viel weniger zu zeugen vermögen als der Mensch, das Schicksal, das er auf sich nimmt und der Weg, den er geht. Hierzu bedarf es aber eines anderen Blickes als den in ein dickleibiges Manuskript und eines anderen Verhältnisses, als dem zwischen gefeierter Autorität und schüchternem Scholaren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mein Weg als Deutscher und Jude