„Worüber die Glocken gehen, das ist heilig!“ Volkssage aus Alt-Strelitz

„Das schöne Wetter“ — so erzählte mir eine befreundete, liebe Person — „hatte Schwester L... und mich vor die Haustür gelockt; wir freuten uns recht innig des langentbehrten milden Sonnenscheins, denn schon seit geraumer Zeit war es immer gar unfreundliche und nasskalte Witterung gewesen. Heute war's dafür aber auch ein ganz herrlicher, ein prächtiger Tag! Die liebe Sonne schien so erquickend und warm; der Himmel, noch gestern so grau und trübe, wölbte sich so blau und klar über unsrer lieben Stadt; kein Lüftchen regte sich; gleich hohen, ungehindert ins Unendliche entschwindenden Säulen entstieg der Rauch den Schornsteinen der friedlichen Nachbarhäuser, und munter mit einander spielend und neckend, flatterten lustig die kleinen Spatzen auf der Straße und den Dächern umher. Die Natur schien gleichsam mit uns Menschenkindern den heutigen Sonntag feiern zu wollen, denn auch sie hatte sich ja wie wir geschmückt und ein Festkleid angelegt.

Dass noch viele unsere Freude teilten, bewiesen die frohen Gesichter und lebhaften Unterhaltungen der Bewohner unserer Straße, welche in größeren und kleineren Gruppen vor den Türen standen und saßen, um ebenfalls die erquickende, milde Luft einzuatmen. Auch unsere alte Nachbarin, Frau L...., hatte ihr kleines Stübchen verlassen, und auch sie trat eben im einfachen Sonntagsputze, mit zufriedener Miene aus ihrer Wohnung auf die Straße. Dieselbe, eine biedere Alte von etwa 60 Jahren, hat stets eine besonderes Interesse für unsere Familie an den Tag gelegt; schon seit Jahren geht sie fast täglich bei uns aus und ein, und hilft und arbeitet in unserm Hause, wenn wir weiterer Hilfe bedürfen. — Auf unser freundlich ihr zugerufenes „guten Tag!“ kam sie sogleich zu uns herüber und begann in gewohnter treuherziger Weise über Dies und Jenes mit uns zu plaudern.


So mochte es etwa 4 Uhr Nachmittags geworden sein, als plötzlich das Läuten der Kirchenglocken das Nahen eines Leichenzugs ankündigte. Bald erschien auch derselbe. Feierlich und gemessen bewegte er sich durch unsere Straße, hinaus zum Brandenburger Tore, nach dem Friedhofe. Wie es hier in Alt-Strelitz fast immer noch gebräuchlich, eröffneten auch diesmal die Chorknaben den Zug, das schöne Lied: „Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben!“*) unter Leitung des Kantors singend. Dann folgte, von 12 Männern getragen, der mit einem schwarzen Totentuche bedeckte und mit einem Kruzifix und Kranze geschmückte Sarg, und diesem schlossen sich die Leidtragenden mit dem Prediger, die sonstigen Angehörigen und Freunde des Verstorbenen an. — Gerührt hatte die alte Frau ihre Hände zusammengelegt, und stille und in sich gekehrt sah sie gleich uns dem ernsten Schauspiele zu.

*) Bekanntlich von Luise Henriette von Oranien, Gemahlin des großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, gedichtet, — Geb. 1627 zu Haag, gest. 1667 zu Berlin.

Als der Leichenzug schon lange unsern Augen entrückt, die Glocken aber noch immer forttönten, ließ ich zufällig die Äußerung fallen, dass ich eigentlich das Geläute bei solchen Gelegenheiten nicht recht liebe. „Oh Fräulein,“ versetzte darauf eifrig die Alte, „und wenn ich auch das Letzte hingeben müsste, so sollen doch bei meinem Tode und Begräbnisse gewiss die Glocken läuten, denn worüber die gehen, das ist heilig! Zum Beweise, dass dem wirklich so ist, will ich Ihnen doch gleich einmal eine Geschichte erzählen, die sich hier früher zugetragen hat.“ Schwesterchen und ich waren damit einverstanden, wir setzten uns alle Drei auf eine Bank vor unserem Hause, und Mutter L... hub ungefähr also an:

„Wie Sie wohl schon öfter gehört haben, stand in alten Zeiten vor dem Brandenburger Tore ein Galgen. Vor vielen Jahren ist nun einmal in der Nacht ein alter hiesiger Fischer, Namens Eichholz, an demselben vorbei gekommen, gerade als noch der Körper eines Hingerichteten daran gehängt hat. Der alte Mann kam von dem Dorfe Thurow, wo er wohl etwas mehr getrunken hatte, als ihm gut und dienlich war, und so kam es denn, dass er in seiner übermütigen Laune, ohne weiter etwas Arges dabei zu denken, den im Winde Baumelnden spottend aufforderte, doch einmal herunter zu kommen und mit ihm Abendbrot zu essen.

Kaum hatte der Fischer diese frevelhaften Worte ausgesprochen, da stieg auch schon das Gerippe von dem Galgen und kam zu seinem größten Entsetzen geradenwegs auf ihn zu. Schauerlich mit der dürren Hand drohend, sprach es dann mit hohler Stimme: „Bist Du morgen Nacht zwölf Uhr nicht pünktlich wieder hier, so hole ich Dich!“ und damit entfernte es sich wieder.

Halb tot vor Angst und Schrecken, mit klappernden Zähnen und über und über mit Schweiß bedeckt, kam der alte Fischer zu Hause an. Sofort eilte er in seiner großen Not zu dem damaligen Prediger, beichtete selbigem Alles genau und ausführlich, und bat ihn flehentlich um seinen Rat und Beistand. Der Pastor, ein sonst sehr kluger und gelehrter Herr, sann viel hin und her; trotz alles Nachdenkens und Kopfbrechens wusste er aber keine rechte Hilfe ausfindig zu machen und keinen andern Ausweg anzugeben, als dass Eichholz tun müsse, wie ihm der Erhängte geheißen; doch werde er selbst mitgehen und ihn zu retten versuchen.

Am andern Abende spät trat nun mit Zittern und Zagen der reumütige Fischer seinen schweren Gang an. Der Pastor sowie noch einige Freunde begleiteten den Armen und hatten ihn zwischen sich in ihre Mitte genommen, und so schritten, unter dem Geläute der Kirchenglocken, ernst und schweigend die Männer durch die stille Nacht dahin. — Schon von ferne sahen sie im Mondenscheine den Galgen und darunter den Erhängten, wie er grinsend mit den Knochenfingern winkte.

Als die Wanderer dem Hochgerichte ziemlich nahe waren, machten sie Halt. Noch einmal fiel hier der Fischer mit dem Pastor auf die Knie und rief laut Gott um seinen Schutz und Beistand an. Nachdem er nun auch noch das heilige Abendmahl empfangen hatte, gab er gestärkt und gekräftigt dem Pastor und jedem seiner Freunde die Hand zum Abschiede, und ging dann, seine Seele dem Allmächtigen empfehlend, gefasst und ergeben, allein dem Gerippe entgegen. Doch als er dasselbe beinahe erreicht, winkte es ihm zurück und sprach: „Das Gebet und das heilige Abendmahl haben Dich nicht gerettet, wohl aber die Glocken, denn worüber die gehen, das ist heilig; und so kehre denn wieder heim in Frieden, lass aber künftig die Toten in Ruhe!“ Darauf ist das Gerippe verschwunden und der alte Fischer unangefochten wieder mit seinen Begleitern nach Hause zurücke gekehrt.“

Mutter L... hatte ihre Geschichte beendet; die Kaffeezeit war längst da; sie musste jetzt nun eilen, nach Hause zu kommen, denn schon kam ihr kleines pausbackiges Enkelchen, Lining, angehüpft, um zum Kaffeetrinken zu rufen. Kaum dass die Alte uns noch Adieu sagen konnte, die Kleine hatte Großmutters Hand und Schürze bereits gefasst und zog sie in kindlicher Ungeduld eiligst mit sich fort in das nahe elterliche Haus.“

Besagter Galgen hat früher nicht weit von der Stadt, vor dem Brandenburger Tore, auf einer kleinen Anhöhe gestanden. Noch bis vor kurzer Zeit waren Überreste davon vorhanden; seitdem aber die betreffende Stelle mit zum Chausseebau verwendet werden musste, sind auch die letzten Spuren gänzlich verschwunden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mecklenburgs Volkssagen. Band 1