Abschnitt 1

Schwerin


Die Neustadt Schelfe.


Die alte Stadt Schwerin reichte gegen Norden nur bis an die jetzige Scharfrichter- und Friedrichsstraße, in deren Richtung Mauern, Wälle und Gräben gingen; an der Stelle, wo beide Straßen zusammenstoßen, stand das Schelfthor mit starken Thürmen. Das große Feld von dem Schelfthore bis zum Werder hieß seit den ältesten Zeiten die Schelfe, wahrscheinlich von dem Schilfe so benannt; denn vom Ziegelsee her bis gegen den jetzigen Schelfmarkt erstreckte sich ein tiefer Sumpf der sich hier in zwei Arme theilte, deren einer sich über die jetzigen Wasserstraßen und die Apothekerstraße nach dem Pfaffenteiche, der andere über die Taube- oder Lehm-Straße gegen den Ziegenmarkt und über diesen hinaus nach dem Großen See hinzog. Durch den letztern Sumpfarm ward die Schelfe in zwei Theile getheilt: in die kleine Schelfe zunächst der Stadt und die große Schelfe vom jetzigen Ziegenmarkt bis zum Werder. Den Werder (d. i. Insel) oder Schelfwerder erhielt bei der Bewidmung des Bisthums Schwerin am 9. September 1171 der Bischof zu seinem Tafelgute.

Die kleine Schelfe ward schon früh bebauet, während die große Schelfe lange Ackerland blieb. Schon in den nächsten Jahren nach der Stiftung des Bisthums schaueten die Domherren lüstern nach den schönen Fluren in der Nachbarchaft ihrer Kirche und Höfe und schon im 12. Jahrhundert besaßen sie, wahrscheinlich durch Geschenk des Grafen Guncelin I. von Schwerin, die Hälfte der kleinen Schelfe und hatten die große Schelfe und die Bisschofsmühle durch Ausdeutung der Stiftungsurkunde des Bisthums an sich zu bringen gewußt. Zum Danke für den Sieg bei Bornhöved (22. Jul. 1227), wie man sagt, stiftete der Graf Heinrich I. von Schwerin im J. 1228 die Kapelle zu Ehren des Heil. Nicolaus aus der Schelfe, mußte aber die Ausführung des Werkes seinem Sohne Guncelin III. überlassen. Im J. 1238 weihete des Erzbischofs Gerhard II. von Bremen Stellvertreter Arnold, welcher im Mai d. J. im Lande war, die Kirche, für welche ihr Pfarrer Rudolph eine Hufe zu Wittenförden erwarb. Bei dieser Gelegenheit schenkte der Graf Guncelin III. dem Dom-Capitel 12 Höfe auf der Schelfe, deren einer, an der davon benannten Pfaffenstraße belegen, zur Wohnung des Dom-Dechanten bestimmt ward, welcher die Aufsicht über die Nicolai-Kirche führte. Derselbe Graf und andere Begünstiger der Kirche schenkten dem Dom-Capitel später noch mehrere Hausstellen und wie der Reichthum des Doms sich mehrte und der Gottesdienst in demselben sich ausbreitete, erhielt die Schelfe immer mehr Wohnungen für die zahlreichen untergeordneten Geistlichen des Doms, welche andere Bewohner nach sich zogen. Bald war auf der Schelfe eine kleine Stadt entstanden, in welcher die Domherren wegen ihres bedeutenden Besitzes, um so mehr da ihnen schon seit alter Zeit die Hälfte des Grundbesitzes gehörte, die erste Rolle spielten. Mancherlei Irrungen wurden am 6. Dec. 1284 durch einen Vergleich zwischen dem Grafen Helmold II. und dem mächtigen Bischofe Hermann I., Grafen von Schladen, völlig gehoben. Der Dom erhielt durch diesen Vergleich die ganze, kleine und große, Schelfe, den Ziegelsee und die Aue mit dem medeweger See als Eigenthum zugesichert; die Bewohner der Schelfe blieben jedoch in großer Abhängigkeit von der Altstadt. Schon in den ältesten Zeiten lagen auf der Schelfe ein großer und ein kleiner Weinberg.

Jetzt dehnte sich die neue bischöfliche Stadt auf der Schelfe immer mehr aus, so daß sie schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts mitunter die Neue Stadt oder Neustadt Schwerin genannt ward; bald waren 3 Straßen ganz bebauet: die Pfaffenstraße bis zur jetzigen Apothekerstraße, die Steinstraße, und in ihrer Verlängerung: Ritterstraße, bis zur Nicolai-Kirche, und die Fischerstraße, in welcher seit den ältesten Zeiten die Fischer wohnten, jetzt Münzstraße, bis zum Amte oder Hintenhof. Mehr als diese 3 Straßen waren aber bis aus die neuern Zeiten nicht angebauet. Es wohnten hier Domherren und Vicare, mehrere Ritterfamilien aus Höfen, z. B. die von Lützow auf Eickhof, die von Raven auf Stück, die von Sperling u. A., und viele gewerbetreibende Bürger; auch hatte schon seit dem Mittelalter ein eigener Vogt (Schelfvogt) oder Richter seinen Sitz auf der Schelfe.

Auf der Schelfe hatte schon im Mittelalter der Bischof zwei Bauhöfe oder Ackerhöfe, den großen Bauhof oder Hintenhof, an der Stelle des jetzigen Amtes, und den kleinen Bauhof, der Nicolai-Kirche gegenüber an der Ritterstraße, am Ende der Schelfstadt. Obgleich in dem Vertrage vom J. 1284 bestimmt war, daß auf der Schelfe keine Befestigung angelegt werden solle, so errichtete doch der Herzog Albrecht in dem Successionskriege wegen der Grafschaft Schwerin im J. 1358 hier eine Festung ,,Burg Neu-Schwerin“ oder „Schelfburg“, in welcher 31 Ritter lagen, welche jedoch die Stadt viele Monate lang vergeblich belagerten.

Mit der Reformation verlor die Neustadt Schelfe ihre Bedeutsamkeit; die Wohnungen der Geistlichen gingen nach und nach an Bürger über. Die Nicolai-Kirche stand seit der Einführung der Reformation lange wüst, bis sie im J. 1589 wieder neu eingerichtet ward und einen eigenen Prediger erhielt, jedoch nur als Tochterkirche des Doms. Während des dreißigjährigen Krieges verfiel die Kirche aber immer mehr und mehr. Durch den westphälischen Frieden ward die Neustadt im J. 1648 fürstliches Eigenthum. Auf der Schelfe standen damals 7 Höfe, 35 Vollhäuser, 15 halbe Häuser und 33 Buden.

Die jetzige Neustadt oder Schelfe aber ist fast ganz ein Werk des Herzogs Friederich Wilhelm (1692 – 1713), der in seinem Minister, Grafen von Horn, einen gleichgesinnten Diener hatte. Dieser Fürst, in eifrigem Streben für Lebhaftigkeit und Gewerbthätigkeit, namentlich für Errichtung von Fabriken und Manufacturen, beschloß, um so mehr da die Allstadt allerdings etwas eng ward, auf der Schelfe eine neue Stadt zu gründen und in ihr vorzüglich die Gewerbthätigkeit zu befördern. Am 9. März 1705 ertheilte er den Kammerräthen, dem Landrentmeister Sturm und dem Capitain und Baumeister Rentz den Auftrag zur Ausführung der Bebauung der Schelfe. Die Seele der Ausführung war der Capitain Rentz, die schriftlichen Arbeiten verfertigte zum großen Theile der Kammerrath Varenius, an der Spitze der Ausführung stand der IngenieurCapitain von Hammerstein. Am 26.Junii 1705 erschien eine herzogliche „Declaration“ über den Anbau der Schelfe und zugleich erklärte der Herzog die Schelfe ,,nunmehr zu einer rechten, neu angelegten Stadt“ und versprach einen eigenen Magistrat zu bestellen und ein Rathhaus zu erbauen, eine Kirche aufzuführen und ihr eigene, selbstständige Prediger zu geben, Vieh- und Jahrmärkte anzuordnen und den bürgerlichen Verkehr auf alle mögliche Weise zu befördern. Nachdem sofort der Plan der neuen Stadt abgesteckt war, wurden erst die wüsten Stellen in den alten Straßen bebauet. Noch im J. 1705 ließ der Herzog das Manufactur-Haus in der jetzigen Amtsstraße bauen. Mehrere Privatleute gründeten noch im J. 1705 größere Häuser, wie der Landrentmeister Sturm in der Fischerstraße, welches Haus im J. 1758 zur Münze eingerichtet ward und der Münzstraße den Namen gab. An der Stelle des jetzigen fürstlichen Palais auf der Neustadt an der Steinstraße bauete der Kammerrath Schultz unter dem Herzoge Friederich Wilhelm einen großen Hof, welchen der Herzog von dem Erbauer erwarb und seinem Bruder Christian Ludwig gab (1708 „Prinz Ludwigs-Hof“). Späterhin erhielt es die prinzessin Charlotte Sophie (†1810), Wittwe des Prinzen Ludwig, für welche der Herzog Friederich im J. 1779 das jetzt noch stehende Palais an derselben Stelle neu aufführen ließ. Die davon benannte Palaisstraße (,,Quergasse“) ward schon im J. 1701 durchgebrochen. Nachdem schon seit dem J. 1698 der Herzog an dem Spielzaun-Damm hatte arbeiten lassen, ward seit dem J. 1705 die Arbeit daran eifriger fortgesetzt und im J. 1707 ein Thor (,,Spielthor“) auf demselben errichtet und die Landstraße aus der Neustadt über diesen Damm eröffnet. Daraus ward die Gegend um die Kirche und nach dem Spielthore hin (die Landreiterstraße) bebauet. Im Anfange des J. 1708 ward die alte Nicolai-Kapelle abgebrochen und am 6. Mai 1708 von dem Herzoge Friederich Wilhelm, in Gegenwart seiner Gemahlin und seines Bruders Christian Ludwig, der Grundstein zu der neuen Schelfkirche unter der Kanzel gelegt. Der Erbauer dieses Werkes mit seinem geschmackvollen Thurme war der Capitain Reutz. Im J. 1711 war die Kirche fertig; kurz vor der Vollendung, im J. 1711, starb der Capitain Rentz und ward auf des Herzogs Befehl mitten in der Kirche begraben; an seine Stelle ward der bekannte Bau-Director und Kammerrath Storm aus Frankfurt a. O. berufen.

Am 13. Julii 1713 starb der Herzog Friederich Wilhelm zu Mainz auf der Rückreise von Schlangenbad und ward in der Schelfkirche beigesetzt. Unter der unruhigen Regierung des Herzogs Carl Leopold ruhete die Fortsetzung der Arbeit an der Neustadt, bis im J. 1735 sein Bruder Christian Ludwig, als kaiserlicher Commissarius und Landes-Administrator seine Residenz zu Schwerin nahm, nachdem der Herzog Carl Leopold durch die Reichs-Executions-Truppen aus Schwerin vertrieben war. Bei dieser Gelegenheit mußte die Neustadt eine kurze Belagerung (6-8 Febr. 1735) aushalten, indem der Herzog am Spielthor und auf dem Windmühlenberge (an der Ecke der Mühlen- und Apothekerstraße, wo in den ältesten Zeiten der kleine Weinberg, später der Judenkirchhof, darauf seit ungefähr 1710–1734 eine Windmühle gewesen war) Batterien gegen die Batterie der Belagerer auf dem Kläterberge hatte aufführen lassen. Der wohlgesinnte Herzog Christian Ludwig (†1756) war auf die Verschönerung Schwerins und die Hebung der Neustadt, namentlich die Ausführung des Werkes seines Bruders, eifrig bedacht. Unter ihm würden namentlich die Apothekerstraße (durch des Apothekers Gesenius Garten) mit den Querstraßen, die Bergstraße (auf dem ehemaligen großen Weinberge) oder der Stephansberg (von dem Erbauer des ersten Hauses, Koch Stephans) und die Werder- Allee oder Werderstraße angelegt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mecklenburg in Bildern 1844