Sprachliches, Schluss

Die niederdeutsche Mundart, welche nach ihrem Erlöschen als Schriftsprache den — mit großem Unrechte — geringschätzigen Namen des Plattdeutschen erhalten hat, ist in der jüngsten Zeit vielfach Gegenstand teils einer besonderen Vorliebe, teils wissenschaftlicher Untersuchung geworden. Es war ein lobenswertes Unternehmen, dass man begann, das Leben und den Geist desjenigen großen Teiles deutscher Nation, welcher sich des Plattdeutschen als Umgangssprache bedient, in ihrer kernigen nnd zugleich sinnigen Ausdrucksweise lyrisch und episch wiederzugeben. Ein überraschender Erfolg hat dies Streben schon gebilligt, welches nicht den Zweck hat, die Volksumgangssprache dem Volke selbst, das sich ihrer bedient, näher zu führen, sondern diesen Zweck erreichen möchte, dass durch das Eingehen in die Weise des Volkes dessen Denken und Trachten, Sitte und Leben den gebildeteren Volksmitgliedern näher geführt und durch das mächtigste Band des Wortes zum wirklichen Bewusstsein gebracht werde. Die Kenntnis von dem zu fördern, was des Volkes Herz erfüllt und durchlebt, ist gewiss ein lobenswertes Unternehmen. Es ist demnach fast gleichgültig, ob das eigentliche Volk die Bedeutung und den Wert der Plattdeutschen Dichtung begreift, genug, wenn die Gebildeten des Volkes sie verstehen. Wo die Anforderungen weiter gehen, da hat man allerdings Recht, sie zurückzuweisen.

Die plattdeutsche Mundart wird aber auch den Platz, dessen sie sich, zuerst schüchtern auftretend, während der letzten Jahre bemächtigt hat, zu wahren wissen. Nicht nur ist es von ganz besonderem Interesse für jeden Gebildeten, wenn er durch das Medium der Worte mitfühlt, was seine Volksgenossen fühlen; sondern es hat sich auch das Plattdeutsche als eine Sprache von ungeahnter Kraft und von einem Reichtume der Wortbildung und Gestaltung offenbart, der sie fähig machte, die hochdeutsche Schriftsprache, welche elendiglich versiechen wollte, aufzufrischen und zu kräftigen. Dem hochdeutschen Gebildeten eröffnete sie eine neue Welt, dem hochdeutschen Volke erneuerte sie die schon ziemlich erschlafften Blutsbande mit seinen westlichen Verwandten, den Holländern und Vlämingern, zu deren Sprache die plattdeutsche Mundart den Übergang bietet.


Sehen wir aber von dieser weiteren Bedeutung der plattdeutschen Mundart ab und betrachten wir sie für sich allein, so tritt sie uns sofort entgegen als eine Sprache voll Leben und Kraft. Das Volk spricht mit dem Munde nur, was ihm im Herzen tönt, es spricht mit dem Worte mitlebend und mitfühlend, es durchlebt, was es spricht. Daher der häufige Gebrauch der Hülfszeitwörter „haben“ und „tun“, mit welchen man die Handlung lebhafter vergegenwärtigt, ergreift und fortführt, als mit dem schleppenden Imperfectum der hochdeutschen Sprache. Dies innigere Herüberziehen und Beziehen der Handlung auf die redende Person ist ein Bezeichnendes für jede Volkssprache. Wie der niederdeutsche Bauer etwas „tun tut“, so „hat“ er es und „ist“ es auch unmittelbar. „Ick hew die leew“, „ick bün die good“ — sind diese Worte nicht von viel drastischerer Wirkung, als wenn ein Hochdeutscher sagt: „Ich liewe ihne“? Reich an Bildern, welche von Gegenständen hergenommen sind, die außer dem Lebenskreise des norddeutschen Volkes liegen, ist seine Sprache nicht. Das erklärt sich leicht aus der Einfachheit und vergleichsweisen Armut des hiesigen Volkslebens selbst, gerade wie durch den größeren Reichtum seines eigenen Lebens und der ihn umgebenden Natur in der Volkssprache des Süddeutschen sich eine Masse von äußerlich ergriffenen Bildern darstellt.

Der Niederdeutsche spricht dagegen mit sehr großer Präzision der Bezeichnung; seine Mundart besitzt viele Synonymen, welche er je nach dem, was er sagen will, wohl zu unterscheiden versteht. Er greift in der Lebhaftigkeit der Rede zu den kräftigeren und lebendigeren Worten, nicht aus Übertreibung, sondern um die Sprache anschaulicher zu machen. Der Vater schlägt seinen Jungen nicht auf den Mund, er „haut ihm aufs Maul“; der Junge geht nicht, er „rennt“, er weint nicht, er „thrant, quarrt, blarrt, rohrt oder hult“, je nachdem er sein Missbehagen mit diesen oder jenen Tönen begleitet. Gerade von diesen Bezeichnungen, welche für das Auszudrückende so charakteristische sind, hat die hochdeutsche Mundart viele verloren, die ihre naturwüchsige Schwester sorgsam bewahrte.

Wenn nun aber auch das Plattdeutsche an Kraft und Lebendigkeit des Ausdrucks dem Hochdeutschen voransteht, so ist doch auch nicht zu verkennen, dass in der gewöhnlichen Rede des Volkes von jenen ihren guten Eigenschaften Manches verloren geht. Der im Umgange so bedächtige Charakter der Leute bleibt hinter der Frische ihres sprachlichen Ausdrucks gewöhnlich weit zurück und wird jener nur zur Zeit einer höheren Erregung völlig gerecht. Der Süddeutsche poltert und wirft seine Worte kräftig nach allen Seiten herum und bricht sie meistens kurz ab. Nicht so unser Norddeutscher, welcher vielmehr jedes einzelne Wort möglichst in die Länge zieht und es mit langsamer Betonung von sich gibt. Seinem Dialekte wirst man deshalb mit Recht vor, dass er die Wörter in die Breite zieht; sie herauszuschreien, wie der Süddeutsche, das versteht er nicht. Unser Landsmann aber hat eine eigene Weise, die einzelnen Silben eines jeden Wortes zu einander hinüberzuziehen und durch Ausstoßen und Verschlucken der Vokale, namentlich des „e“, einsilbige Wörter zu bilden. Dies Verschlucken der Buchstaben ist schriftlich gar nicht zu bezeichnen. Geht man z. B. einem Manne vorbei und grüßt ihn, so empfängt man ein Gebrumme zurück, welches je nach der Zeit sich wie „goon mor'n“ oder „goon aw'nd“ anhört. Das soll heißen: „Guten Morgen“ oder „Guten Abend“, die Hälfte hat man erhalten. Noch schärfer merkt man das Hinüberziehen der Worte zu einander in längerer Rede; wo der Süddeutsche „plaudert“, da — nach seinem eigenen Ausdrucke — „dröhnt“ der Norddeutsche mit einem recht langen „öh“. Dies Wort passt für sein Reden viel besser, als wenn man von einem „singenden Reden“ des Norddeutschen spricht; das Dröhnen Versinnlicht ein gewisses Ziehen des Tons durch die Nase, welches man nicht wohl ein Singen nennen kann. Aber dies näselnde Dröhnen ist den Leuten eigentümlich und charakterisiert sogar ihren natürlichen Gesang; es gibt auch eine gewisse Kunst im richtigen Dröhnen. Soll der Ton beim Gesange recht „sein“ herauskommen, so muss er halb durch den Mund und halb durch die Nase gehen. Dies namentlich in der Kirche, wo eine niederdeutsche Gemeinde in beständigem Räuspern und Schneuzen begriffen ist, um nebst der Kehle auch die Nase offen zu halten. Von einem Küster dagegen, welcher richtig singt, sagt der Bauer: „Nee, dat's keen Singen, dat's Schrien!“

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Wird man im Bilde, welches wir im Vorausgehenden entworfen haben, eine Schilderung der mecklenburgischen Leute erkennen? Ohne Zweifel wird man die Leute, welche wir schildern wollten, nicht in den Städten, sondern dort suchen, wo des Volkes Eigenart und eine gewisse Einheit seiner Charaktergestaltung noch herrschen, auf dem Lande. Nur diese Einheit konnte und sollte dargestellt werden, nicht das einzelne Individuum Zug um Zug in seiner persönlichen Eigenart, sondern die Gemeinschaft aller oder vieler zusammengehöriger Individuen. Eine Volksgruppe aber besteht aus vielen solchen Persönlichkeiten, deren jede vom Gesamtbilde nothwendig mehr oder weniger verschieden sein muss.

Wir haben unbesangen geschildert, was wir so im Volke fanden und haben nicht verhehlt, dass wo Licht, da auch Schatten ist. Licht und Schatten zusammen geben erst ein Bild, aus Kraft und Schwächen bestehen die Menschen, wie sie einmal sind.