Abschnitt. 1

Erster Brief.
Genthod bei Genf. 12. Jan. 1788.
Bonnet schlug mir vor, meinen Aufenthalt bei ihm noch um einige Tage zu verlängern, mein geliebter Bonstetten! Du wirst daher deine kleine Reise wohl allein machen müssen.

Er fährt in den Morgenstunden fort, seine Werke mit mir zu lesen. Jetzt sind wir bei den Naturbetrachtungen. Ich lese laut, und wo es einer Erläuterung bedarf, giebt er mir dieselbe mit der Klarheit und Präzision, die ihm in so hohem Grade eigen ist. Lange verweilten wir gestern bei der Weidenraupe (Phaloena Cossus. L.) und dem von Lyonnet darüber geschriebenen Werke, mit welchem ich bei dieser Gelegenheit zuerst bekannt wurde. Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist merkwürdig. Lyonnet, der mit der brennendsten Leidenschaft für die Naturgeschichte, ungewöhnliche Beharrlichkeit, hohe Ruhmbegierde und scharfen Beobachtungsgeist verband, nahm sich vor, eine ganz neue Bahn zu betreten, und ein Werk aufzustellen, welches in jedem Betrachte einzig wäre. Er verfiel zuerst auf die Blattläuse; dann auf die Polypen: aber, durch eine der wunderlichsten Launen des Zufalls, wurde bei jenen Bonnet sein Nebenbuhler, und bei diesen Trembley. Nun kam es darauf an, einen Pfad ausfindig zu machen der, durch die auf demselben vereinigten Schwierigkeiten, ihn vor jedem Folger sicher stellte. Er erreichte diesen Zweck durch die Zergliederung der Weidenraupe. Aber kein Zeichner wollte die dazu nöthigen Tafeln übernehmen, weil Lyonnets-Forderungen zu übertrieben schienen, als dass nicht ein jeder dadurch hätte zurückgeschreckt werden müssen. Er lernte daher selbst zeichnen, und brachte es in kurzer Zeit so weit, dass er im Stande war, die unglaublich schweren Zeichnungen mit einer Feinheit und Genauigkeit auszuführen, die alle Künstler und Kenner in Erstaunen setzte. Da es ihm mit den Kupferstechern gieng wie mit den Zeichnern, und auch kein einziger von ihnen sich Geschicklichkeit genug zutraute, dem viel verlangenden Manne Genüge zu leisten, so lernte er auch diese Kunst, und brachte es bald zu jenem hohen Grade von Vollkommenheit, der die Kupfertafeln zu seinem Werke vor allen ähnlichen auszeichnet: Lyonnets Bildnis verdiente die Unterschrift: Man kann was man will, mit mehrerem Rechte, als die Figur jenes längst vergessenen Kraftmannes in Lavaters physiognomischen Fragmenten. Folgender Zug gehört noch ganz eigentlich zur Charakteristik dieses außerordentlichen Mannes.
Ein Seiltänzer im Haag, dessen seltene Geschicklichkeit vom ganzen Publikum angestaunt wurde. Reizte Lyonnets Nacheiferungstrieb so lebhaft, dass er ausrief: Dieser Mensch hat nicht mehr Muskeln als ich, und ist nicht anders gebaut; auch ich muss können, was Er kann. Sogleich ließ er ein Seil in seinem Hofe ausspannen, und übte sich mit so eiserner Beharrlichkeit im Seiltanzen, dass er zuletzt seinen bewunderten Meister weit hinter sich zurückließ.


Außer Haller und Bonnet haben vielleicht nur sehr wenige Gelehrte Lyonnets Werk ganz durchgelesen. Auch macht des letztern vortreflicher Auszug daraus, diese Lektüre, die, selbst für einen leidenschaftlichen Naturforscher, zu den herkulischen Arbeiten gehört, ziemlich entbehrlich. Unter Lyonnets Nachlass befand sich auch ein Manuscript über den Schmetterling der Weidenraupe, nebst den dazugehörigen Zeichnungen, dessen Bekanntmachung aber schwerlich zu hoffen ist.

Heute kam ein Brief aus Lissabon, dessen Verfasser gesonnen ist Bonnets analytischen Versuch in das Portugiesische zu übersetzen. Wie tief er in den Sinn seines Autors eingedrungen sey, erhellt, unter andern, auch daraus, dass er ihn für einen Spinozisten erklärt. Sogar dieser aus dem gröbsten Unsinn zusammengewebte Brief soll beantwortet werden; denn Bonnet blieb, wie Leibnitz, nie eine Antwort schuldig.

Mit großem Interesse las ich Bonnets Charakteristik derjenigen Gelehrten mit welchen er Briefe wechselte. Sie ist seiner Korrespondenz angehängt, die schon aus vielen Bänden besteht; von der aber, mit seinem Willen, nie etwas ins Publikum kommen wird. Nur mit Hallers Briefen, vielleicht den wichtigsten und reichhaltigsten von allen, wollte er eine Ausnahmt machen; das Manuscript lag auch wirklich schon zum Drucke fertig, als unvorhergesehene Hindernisse die Herausgabe desselben vereitelten. Der große Haller theilte ihm beinahe alles mit, was er in einem Zeiträume von 25 Jahren beobachtete, entdeckte, berichtigte, widerlegte und veranlasste; zum Beispiele, seine Entdeckungen über die Generation, Nachrichten von den Salzwerken in Bex, Darstellungen der Versuche die Sümpfe im Gouvernement von Aigle auszutrocknen, und eine Menge anatomischer, physikalischer, historischer, und moralischer Untersuchungen.

Der Briefwechsel mit dem schwedischen Naturforscher von Geer begann im Jahre 1746. und der mit dü Hamel, dessen Physik der Bäume Bonnet allen seinen Schülern, zur Entwickelung und Uebung ihres Beobachtungsgeistes, sehr angelegentlich empfiehlt, im Jahre 1750.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Matthissons Briefe