Halt den Mittelweg!

Ihr habt wohl zuweilen von dem Wode gehoert, dem wilden Jaeger, der des Nachts durch Wald und Feld streunt und ruft Hallo! Hoho! Halt den Mittelweg! halt den Mittelweg! Dieser war vormals vor langen langen Zeiten ein grosser Fuerst im Sachsenlande, der viele Burgen und Schloesser und Doerfer und Forsten hatte. Er liebte von allen Dingen in der Welt am meisten die Jagd und lebte mehr in den wilden Waeldern, als auf seinen Schloessern und war ueberhaupt eines jaehen und wuethigen Gemuethes und ein rechter Zwingherr. Dieser Fuerst hat, als er noch lebte, das begangen, was einem keiner glauben will und was jeder fuer eine Fabel erklaert aus der alleraeltesten und allergrausendsten Heidenzeit. Ein Hirtenknabe hatte in seinem Walde einen jungen Baum abgeschaelt und sich aus der abgeschaelten Rinde eine Schalmei gemacht. Diesem armen unschuldigen Knaben hat der Unhold den Leib aufgeschnitten und das Ende des Gedaerms um einen Baum gebunden, und nun hat er den Knaben solange um den Baum treiben lassen, bis das Gedaerm aus dem Leibe gewunden und der Knabe todt hingefallen war, und dazu hat er gerufen: Das ist die Schalmei, worauf du blasen sollst; das hast du fuer dein Pfeifen. Einen Bauer, der auf einen Hirsch schoss, der ihm sein Korn abweidete, hat er ohne alle Barmherzigkeit lebendig auf den Hirsch festschmieden und das wilde Thier so mit ihm in den Wald laufen lassen. Da ist das geaengstete Thier mit dem armen Mann so lange gelaufen und hat ihm Leib und Haupt und Schenkel an den Baeumen und Straeuchen so lange jaemmerlich zerquetscht und zerrissen, bis zuerst der Bauer todt war, dann auch der Hirsch hinstuerzte. Fuer solch greuliche Thaten hat der ungeheure Mann endlich auch seinen verdienten Lohn bekommen. Er hat sich auf der Jagd mit seinem Pferde den Hals gebrochen, welches durchgegangen und so gewaltig gegen eine Buche gerannt ist, dass es den Augenblick todt hinfiel, dem Reiter aber an dem Baum das Gehirn in tausend Stuecke zerstob. Und das ist nun seine Strafe nach dem Tode, dass er auch noch im Grabe keine Ruhe hat sondern die ganze Nacht umherschweifen und wie ein wildes Ungeheuer jagen muss. Dies geschieht jede Nacht Winter und Sommer von Mitternacht bis eine Stunde vor Sonnenaufgang, und dann hoeren die Leute ihn oft Wod! Wod! Hoho! Hallo! Hallo! schreien; sein gewoehnlicher Ruf ist aber Wod! Wod! und davon wird er selbst an manchen Orten der Wode genannt.

Der Wode sieht fuerchterlich aus und fuerchterlich ist auch sein Aufzug und sein Gefolg. Sein Pferd ist ein schneeweisser Schimmel oder ein feuerflammiges Ross, aus dessen brausenden Nuestern Funken spruehen. Darauf sitzt er, ein langer hagerer Mann in eiserner Ruestung, Zorn und Grimm funkeln seine Augen und Feuer fliegt aus seinem Angesicht; sein Leib ist voruebergebeugt, weil es immer im hallenden sausenden Galopp geht; seine Rechte schwingt eine lange Peitsche, mit welcher er knallt und sein Wild aufjagt oder auch auf das verfolgte hauet. Wuethende Hunde ohne Zahl umschwaermen ihn und machen ein fuerchterliches Getose und Geheul; er aber ruft von Zeit zu Zeit drein Wod! Wod! Hallo! Hallo! Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg! Seine Fahrt geht meistens durch wilde Waelder und oede Haiden und in der Mitte der ordentlichen Strassen und Wege darf er nicht reiten. Trifft er zufaellig auf einen Kreuzweg, so stuerzt er mit Pferd und Mann und Maus fuerchterlich ueber Kopf und rafft sich weit jenseits erst wieder auf; doch auch die, welche er jagt, duerfen diesem Kreuzwege nicht zu nah kommen.


Und was fuer Wildpret jagt er? Unter den Thieren alles diebische und raeuberische Gesindel, welches zur Nachtzeit auf Mord und Beute schleicht, Woelfe, Fuechse, Luechse, Katzen, Marder, Iltisse, Ratten, Maeuse und von den Menschen Moerder, Diebe, Raeuber, Hexen und Hexenmeister und alles, was von dunklen und naechtlichen Kuensten lebt. So muss dieser Boesewicht, der im Leben so viel Unglueck anrichtete, es gewissermaassen im Tode wieder gutmachen. Er haelt, was die Leute sagen, die Strasse rein; denn wehe dem, welchen er bei naechtlicher Weile auf verbotenen Schleichwegen oder im Felde und Walde antrifft, und der nicht ein gutes Gewissen hat! Wie mancher muss wohl zittern, wenn er sein Hoho! Hallo! Halt den Mittelweg! Halt den Mittelweg! hoert! Denn gewoehnlich jagt er, was er vor seine Peitsche kriegt, so lange, bis es die Zunge aus dem Halse streckt und todt hinfaellt. Am strengsten ist der wilde Jaeger gegen die Hexen und Hexenmeister; diesen ist der Tod das gewisseste, wenn er sie einmal in seiner Jagd hat, wenn sie nicht etwa eine Alfranke oder eine Hexenschlinge finden, wo sie durchschluepfen moegen, denn dann sind sie fuer das Mal frei. Alfranke ist ein kleiner Strauch, der im Walde steht und im ersten Fruehlinge gruent und sich gern um andere Baeume schlingt und rankt und dabei oft eine Schlinge mit einer Oeffnung macht, wodurch etwas schluepfen kann. Eben so wachsen einzelne Zweige von Baeumen oft so wundersam zusammen, dass sie ein rundes Loch einer Schlinge gleich bilden, oft weit genug, dass ein Ochs durchschluepfen koennte; wie viel leichter ein Mensch! Das nennt man eine Hexenschlinge oder einen Hexenschlupf; denn wann sie in der Noth ein solches treffen und dadurch wischen, darf niemand sie anruehren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Märchen und Sagen