Einleitung

Ich will kein Leben Martin Luthers in dem Sinne eines neuen Historikerbuches versuchen. Es liegt so, dass erstlich die „Biographien“ Luthers keiner Vermehrung um eine solche bedürfen, die von vornherein mit der Beengung ihres Raumes zu kämpfen haben würde. Unter jenen sind mehr als eine solche, die in jedem gebildeten Hause gelesen werden sollten. So vor allem die neue zweibändige von Professor Adolf Hausrath, mit ihrer herzhaft und beherrschend in das Geistesgeschichtliche wie in das Menschliche eindringenden Lebendigkeit und mit ihrer wundervoll plastischen Künstlerkraft. Daneben bleibt dem auf Volkstümlichkeit im gebildeten Sinn zugeschnittenen Buche von J. Köstlin, das neben seiner größeren Biographie einhergeht, oder dem „Martin Luther“ von Professor Max Lenz, einer mehrmals wieder aufgelegten Festschrift der Stadt Berlin von 1883, immer ihr Wert bester Erfüllungen des Zwecks. Ferner darf, auch in diesem noch so engen und eigentlich auf das Allbekannte begrenzten Rahmen der Nennungen, Fr. v. Bezolds „Geschichte der deutschen Reformation“, ein Buch von eindringender Feinheit und hoher Schönheit, nicht übergangen werden. Ebenso gemeinverständlich wie trefflich ist Georg Buchwalds „für das deutsche Haus“ geschriebene Lebensbild des Reformators, und sehr reizvoll A. E. Bergers „kulturgeschichtlicher“ Luther. Blicken wir über diese und noch einige geistig anmutigere und zugänglichere Bücher hinaus, so tut sich eine unermessliche Literatur auf, die beständig wie das Meer in Bewegung bleibt, Welle sich vor Welle heben lässt und ebenso Verschiedenartiges wie das Meer an den Strand des Tages wirft, neben Muscheln und reinem Quarz nicht gar selten auch Wrackgut und -faulige Fische, als Ergebnis des nicht fehlenden Begehrens, auch Widerwärtiges aus einem Elemente oder Material aufzurühren, in welchem doch kein Schmutz zu finden ist bis auf den tiefsten Grund hinab.

Stillstehen und zu Ende kommen wird diese Wellenbewegung, diese Forschung und Abhandlungenliteratur auf absehbare Zeit nicht können, wenn überhaupt jemals. Deshalb wäre es nicht ohne Berechtigung, wenn ein sich streng die Aufgabe stellender Historiker sagen würde: es ist jetzt nicht die Zeit, ein zusammenfassendes Buch über Luther zu schreiben. Wir fühlen unvermindert, was zuvor noch zu tun ist, erschauen durch jedes tüchtige, sich mit dem Biographischen beschädigende Werk nur vermehrt die Fragen, die zu beantworten sind. Aber wann einmal wird man aufhören, sich das sagen zu müssen? Vollbringungen, wie die Lutherschen, die lebendig in sich weiterdauern, können überhaupt nicht absehbar zu Ende erkannt und beurteilt werden. Es ist hier nicht wie bei den großen Ereignissen der Naturwissenschaft oder der Geographie, sondern es handelt sich um Verhältnisse des Menschlichen und der menschlichen Gemeinsamkeiten in ihren höchsten ideellen Betätigungen und Bedürfnissen. Und ehe diese nicht selbst in mathematisch absolute Formeln gebracht werden können, wird der menschliche Geist auch nie zum Abschluss darüber gelangen, wie er über ein wichtiges Vorhergegangenes denkt und disputiert. Hier dauert die Erkenntnis immer weiter und vermehrt sich, verzweigt sich, subtilisiert sich nur. Wann werden wir denn, um andere Beispiele zu nehmen, die endgültige, von allen Subjektivitäten gelöste Formel in der Hand haben, wie über die Absichten Cäsars und seine sie unterbrechende Ermordung zu denken sei? Oder über die Umwandlung des germanisch fundierten großen Königreiches Karls des Großen in ein, die römisch-christlichen Traditionen voranstellendes Kaisertum? Wann wird das prägende Wort gefunden sein, durch das sich die Wesensart des klassischen Quellenentums ein für allemal bezeichnen lässt? Und dabei haben die Urteile über das und vieles andere schon unzählige Male „festgestanden“. Gerade erst, indem man zeitlich noch wieder abrückt, geraten sie ins Schwanken und in die Variation. Man muss nur auch nicht meinen, wenn man klarstelle, ,,wie es eigentlich war“, so sei damit das weitere Fragen erledigt. Man sagt doch nur nach bestem Können, wie es wirklich war. Neue Zeiten bringen neue Maßstäbe, vermehren die älteren durch solche, die man vorher nicht hatte und noch gar nicht hatte finden und voraussehen können. Indem die großen Auffassungen über religiöse und öffentliche Dinge zu neuen Standpunkten und neuen Wertungen gelangen, ergeben sich immer auch verwandelte Gesichtspunkte für die Beurteilung eines Mannes, der so gewaltig wie Luther in diese Dinge eingegossen hat. Und damit neue Wissenswürdigkeiten über die Notwendigkeiten und Bedingungen seines Tuns. Um es ganz simpel zu sagen, die eine Zeit urteilt zum Beispiel, Luther blieb auf halbem Wege stehen, und die andere findet danach wieder: er ging viel zu weit. Das sind Stimmungen. Aber damit es Wertvolleres, Objektiveres wird, sind dann wieder neue Untersuchungen über Zeitumstände, Sachlagen und Motive vorzunehmen, bis in alles Persönlichste hinein. Dabei ist mit jenen zwei Wendungen — er ging zu weit oder ging nicht weit genug — längst nicht das Letzte und Tiefste der hier die Menschheitsgeschichte beschäftigenden Probleme angedeutet.


Was in diesem Bändchen versucht werden soll, ist ein Bildnis inmitten, aber auch innerhalb seiner Zeit. Es muss sich enger, als. es sonst der Autor gewohnt ist, von der vorliegenden Literatur, auch der handlichen, abhängig fühlen, weil deren gesteigerte Eigenschaften und Werte dies bedingen, um hier nicht verloren zu bleiben. Unser Bildnis des Reformators möchte anschaulich, wie in den beigefügten Illustrationen, auch im Worte sein, von unverkümmerter Leibhaftigkeit und so geführtem Umriss, wie er dem Format entspricht. Im „Standpunkt“ sucht es die Wiedergabe des geklärten gegenwärtigen Wissens über den großen Reformator und die Reformation, ohne in der Würdigung den persönlichen Ausblick zu engen. Bei einem Bande Luther in diesen Monographien rechnet man mit Lesern, die mehr als unterhalten sein wollen. Dies gab mir die Zuversicht, manches Gesagte etwas verdichten zu dürfen, um die ohnehin erweiterte Seitenzahl des Bandes recht für Inhalt auszunutzen. Wo das Vorher und Umher hier den Rahmen der Darstellung sprengen würde, verweise ich auf meine Deutsche Geschichte. Aus ihr mag wohl auch die eine oder andere Wendung in diese anders ausgespannte Erzählung herüberflattern, deshalb, weil man manchmal etwas nicht besser zu sagen hat, als man es schon einmal gesagt hat. Ähnliches ist ja auch der hauptsächliche Grund, weshalb der allgemein verwertende Darsteller sich veranlasst sieht, die gebotene und dankbar geübte Berücksichtigung der vorhandenen Literatur zuweilen zum wörtlichen Zitat, unter höflicher Reverenz der Gänsefüßchen, zuzuspitzen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther