Der Eisenacher Schüler

Als Martin, der Nächstberufene unter den Geschwistern zur besseren Laufbahn, ins vierzehnte Jahr ging, ward er vom Vater nach Magdeburg geschickt, wohl auf die weithin berühmte Schule der trefflichen „Brüder vom gemeinsamen Leben“. Dann im nächsten Jahr, 1498, kam er nach Eisenach. Früh genug, dass er noch ein starker, lebensfrischer und heiterer Mensch wurde, dass die Triebkraft in ihm sich nicht unrettbar nach innen hinein verknorrte und verwuchs. In Eisenach beginnt sein inneres Gesunden, das zwar nie mehr ein ganz vollkommenes wurde. Es bleibt die Angst und überkommt ihn sein Leben lang in periodischen Rückfällen, sie nimmt nur jeweils die Formen an, die gerade seiner Entwicklung und seinem Leben entsprechen. Er hat wohl die Verschüchterung, an der er litt und sich leiden wusste, frei überwunden zu dem wundervollsten Mut, der sich um die ganze Welt und den Teufel hinzu nicht kümmert. Aber mit der Furcht vor Gott — nicht der schönen Gottesfurcht, so wie er sie dann auslegt, sondern der ganz richtigen, sich qualvoll fürchtenden Seelenangst — hat er, der allzuviel Furcht und Beklemmung als Kind in sich hinein verstaut, noch viel auf eine schreckliche Weise zu ringen gehabt, und bis in sein Alter sind diese Anfälle wieder-gekehrt. Aus ihr muss Martin Luther mit betrachtet, mit verstanden werden. Aus seinen Ängsten heraus ist er „ins Kloster gelaufen“, und insofern mit Recht hat er diesen Entschluss auf seine Eltern zurückgeführt. Aus seinen Selbstverängstigungen um die jenseitige Errettung erkennen wir aber auch die allerwichtigste seiner geistigen Erreichungen noch, die nach unsäglichen Kämpfen neuverstandene Lehre vom reinen Glauben, von der Gnade Gottes und von der Errettung des sündigen Menschen durch sie.

Natur und Menschen tun ihm in Eisenach gut. In den Jahren, da der Sinn eines Knaben und Jünglings für derlei bewusster erwacht, hat er um sich her die Berge, die Wälder. Von dieser Eckwarte des thüringischen Gebirges sieht er über die wellige Höhenlandschaft nach Norden, und weiter zur Rechten erblickt er den unheimlich sich ziehenden verhexten Hörselberg, in späteren Reden des Mannes verwendet er, um Dinge zu bezeichnen, die man nicht gerne roh ausspricht, die Venus- oder Tannhäusermär aus dieser Jugendzeit. Und nachmals, wie er auf der verbauten und halb zerfallenen Wartburg der einstigen thüringischen Landgrafen haust und als Junker Jörg im Walde wieder die Erdbeeren pflückt, versetzt es ihn in die Tage des Eisenacher Kurrendenschülers zurück.


Freilich, Kurrendenschüler. In Magdeburg und Eisenach sein Brot sich verdienen, das muss er selbst, durch Straßensingen mit nutzbarem Gebet für die reichen Leute und durch Bettelalmosen zum Lohn. So müssen's eben viele, und sein Vater kann oder will es anders noch nicht. Aber hier in Eisenach wird ihm alles leicht. Es sind Verwandte der Mutter in der Stadt, und was das Freundlichste und Wichtigste wird, im Hause des wohlhabenden „Kunz Kotten“ gewinnt er Unterhalt und Herberge. Er kommt von der singenden Selbsternährung los, so dass nun auch sein Verhältnis zu Frau Musika, das durch sein ganzes Leben so anmutig dauert, ein freieres und schöneres wird. Der Frau Ursula Kotta ist er mit seiner schönen Stimme, wie durch sein besonderes frommes Wesen aufgefallen, und sie nimmt ihn in das Haus. Das sind sehr ansehnliche Leute in der Stadt, und die Familie der Frau Ursula, die Schalbes, haben auch am Anstieg zur Wartburg das mit Mönchen besetzte Stift der heiligen Elisabeth gegründet. Mit diesen freundlichen Franziskanern hält der junge Schüler guten Verkehr, der ihm noch lange unvergessen lieb und freundlich bleibt. Wir aber mögen wohl eigen hinzudenken, wie sich so die beiden Haupterinnerungen, die für uns die Wartburg hat, an Martin Luther und an die Landgräfin Elisabeth, in Beziehung setzen, in eine solche, die als denkwürdige Vorstellung all die Pracht des Gegensatzes — der guten Werke dort und des stärkeren Glaubens hier, des Verwelkens im Erleiden oder des Erstehens zu eichentrutziger Mannhaftigkeit — zu überdauern vermag.

Auch mit der Schule söhnt sich in den guten drei Eisenacher Jahren der verprügelte Knabe aus. Diese Lehrer sind Menschen, sind gebildet und daher freier, sind geistvoll heiter, sie haben wirklich die Achtung vor dem lernenden und werdenden Knaben, welche den Eltern und Erziehern einzuprägen sich der spätere Luther so angelegen sein lässt. Ja, der Rektor der St. Georgsschule, Trebonius, lüftet sein Barett, wenn er in die Klasse tritt ; etwas Halbakademisches stellt sich dieser Mann dabei vor und sagt es auch: er grüße auf den Bänken die Bürgermeister und Kanzler und Doktoren — das sind die Professoren — der zukünftigen Generation.

Bürgermeister, Dr. juris utriusque, Kanzler und erster Beamter der gnädigsten gräflichen Herrschaft zu Mansfeld — als etwas ganz Konkretes dieser Art sieht aber im Geiste auch der ehrbare Bergmann Hans Luther, der seit 1491 zu den Viermännern der Bürgerschaft gehört, seinen gescheiten und fleißigen ältesten Jungen. Diesen Knaben mit den dunklen seelentiefen Augen, in denen wahrscheinlich doch auch er das Besondere las, gleichviel ob er dessen Verdienst nun seiner Pädagogik beilegte oder nicht. 1501 bezog sein Martin die Hochschule zu Erfurt. Sie war die nächstliegende, und dass es so am billigsten wurde, fiel wohl mit ins Gewicht. Sie war aber auch die modernste, wovon der Vater Hans zwar wohl nicht viel verstanden haben wird. Auch unser stiller Martin wird dies kaum im voraus mit seinen innerlich gewendeten Gedanken übersonnen haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther
Abb. 008. Das Lutherhaus zu Eisenach.

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