Schlussbetrachtung

Die Reformation Luthers ist nicht nur ein wichtiges Ereignis auf kirchengeschichtlichem Gebiete, sie ist auch eine epochemachende Begebenheit in der gesamten menschlichen Entwicklung, sie ist eine Epoche der Weltgeschichte. Nach der mittelalterlichen Anschauung, die im Wesentlichen altrömisch und altjüdisch war, nur dass sie sich dazu christlicher Gewandung und christlicher Staffage bediente, galt der Mensch als Mensch nichts. Er war in zwei gesonderte Teile, in Leib und Seele, geschieden, und jener war nur vorhanden, um zu Gunsten dieser gegeißelt, abgehärmt und vernichtet zu werden. Ja die Ertötung des Fleisches kam nicht einmal der Seele während des Erdenlebens zu Gute, sondern sie sollte auch erst nach dem Tode zur Herrlichkeit gelangen. Ebenso galt das Volk als Volk nichts, denn die Volkstümlichkeit gehörte der Seite des Irdischen an und verschwand hinter der allgemeinen Schablone des römischen Kirchenwesens.

Man hat das Judentum die Religion der Entsagung, das Christentum die Religion des Genusses genannt. Dieser Ausspruch schließt eine tiefe Wahrheit in sich ein. Der Mensch soll sich jedes Bedürfnis befriedigen, denn die Bedürfnisse sind ebensosehr Gaben Gottes, wie die Mittel zu ihrer Befriedigung. Er darf sich unbefangen jedem Genusse hingeben, den die Natur ihm darbietet, er darf in jedes Verhältnis eintreten, das ihm sein irdisches Dasein reicher und angenehmer zu machen im Stande ist, sofern er es nur mit reinem Herzen tun kann und sein sittliches Leben dadurch nicht gefährdet wird. Die Entsagung als solche führt in einen knechtischen Zustand, der unschuldige Genuss dagegen zur Freiheit. Die Verwandtschaft des alten Griechenlands mit dem evangelischen Deutschland beruht auf der gleichmäßigen Anerkennung dieses Grundsatzes. Die römische Kirche aber hatte die Hallen der Freiheit, welche der Heiland dem Menschengeschlecht geöffnet, wieder verschlossen. Sie hatte das jüdische Prinzip der Entsagung von Neuem zur Geltung gebracht, und deshalb ist das Papsttum nichts weiter, als die altjüdische Hierarchie in christlich kirchlichen Formen.


Der Papst hat sich den Statthalter Gottes, den Stellvertreter Christi auf Erden genannt und auf diese Qualitäten die Lehre von seiner Unfehlbarkeit und seiner Machtvollkommenheit über alle weltlichen Gebiete und Verhältnisse gegründet. Folgen wir in gewissem Sinne diesen päpstlichen Anschauungen! Jeder evangelische Christ soll Statthalter Gottes und Stellvertreter Christi auf Erden sein, er soll sich als Kind Gottes fühlen und im Dienste des Vaters arbeiten. Was er auf Erden zu vollbringen strebt, soll er als die Sache Gottes ansehen, wie es Luther getan hat, und in diesem Falle darf er sich als das Maß aller Dinge betrachten und die Eigenschaften der Unfehlbarkeit und der Machtvollkommenheit über das Weltliche für sich in Anspruch nehmen. Er dient in diesem Falle der Wahrheit, denn er dient Gott, welcher die Wahrheit ist. In der römischen Kirche war der Begriff der Wahrheit ganz verloren gegangen. Man glaubte mit einigen nur buchstäblich gefassten Aussprüchen der heiligen Schrift, und besonders mit den Autoritäten der Vergangenheit, in aller Erkenntnis des Ewigen und Zeitlichen völlig auszureichen, man diente traditionellen Wahrheiten und meinte damit die ewig gegenwärtige und ewig junge, frisch quellende Wahrheit zu besitzen. Wahrheiten sind aber nicht die Wahrheit, ja sie führen nicht einmal zu dieser hin. Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten, heißt: aus dem lebendigen Gottesgefühl heraus das Ewige und Endliche mit Ehrfurcht und Begeisterung anschauen und es vermitteln. Dienen wir der Wahrheit, so dienen wir Gott, gleichviel, welche Stellung wir dabei zu überkommenen Wahrheiten einnehmen.

Luther hat das große Verdienst, den Begriff der Wahrheit wiederentdeckt und die Gegenwart Gottes im Menschen, die uns der Heiland verkündet hat, wiederhergestellt zu haben. Damit hat er zugleich die Vorstellung des Menschlichen und Nationalen wieder wachgerufen, er hat die schneidend harte und kalte Trennung zwischen Leib und Seele aufgehoben und den Menschen wieder zu einem Individuum, zu einem unteilbaren Ganzen, zu einer Einheit erhoben. Er hat den Menschen als solchen ohne Rücksicht auf Stand, Rang, Geburt u. s. w. zum Herrn der Schöpfung proklamiert und ihn ermuntert, das Licht des Geistes und der Wahrheit, das er als Kind Gottes in sich anzuzünden befähigt ist, leuchten zu lassen, damit Gott durch sein Erdendasein auf bewusste Weise ebenso verherrlicht und verklärt werde, wie er auf unbewusste durch die Natur verherrlicht und verklärt wird.

Wenn die römische Kirche diesen Posaunenruf des ewigen Geistes als eine revolutionäre Emanzipation der sündigen Subjektivität brandmarkt, so mag sie es, haben. Sie hat diesem Geistesrufe doch selbst ihr Ohr öffnen müssen, und die Reformation ist mit Geistestritt auch durch das Leben der romanischen Völker hindurchgeschritten. Was in Frankreich, Spanien und Italien auf dem Gebiete der Kunst, in Poesie, Musik, Malerei und Skulptur, geschaffen worden ist, haben jene Länder der reformatorischen Anschauung zu danken, dass der Mensch vor allem Andern Mensch ist, und dass sein höchster Stand, sein höchster Rang, sein höchster Beruf darauf beruht, sich als reinen Menschen, als eingebornes Kind Gottes, als Verkünder der ewigen Liebe und Wahrheit zu beurkunden und zur Erscheinung zu bringen.

Die Kinder der Welt sind klüger in ihrem Geschlechte, als die Kinder des Lichts. Der römische Geist des Mittelalters, der durch den reformatorischen Sturm mächtig erschüttert, fast besiegt und dem Untergange nahe gebracht schien, raffte sich zusammen, konzentrierte in dem Jesuitismus seine ganze ihm noch gebliebene Kraft, machte Front gegen die neue Lehre von dem Menschen und triumphierte in zwei Kriegen, im Schmalkaldischen und im Dreißigjährigen. Das deutsche Volk sank zurück in Aberglauben, Unwissenheit und Knechtschaft, und die gespenstigen Gestalten einer grauen Vorzeit verdüsterten mit ihren dunkeln Fittigen das Licht des aufgegangenen Tages. Teils gewann das römische Papsttum selbst wieder mehr und mehr Raum in Deutschland, teils nahm auch das Luthertum eine römische Färbung an. Eine Orthodoxie, die geradezu unsittlich genannt werden kann, weil sie dem Gebote Gottes und der Natur des Menschen widerspricht, beherrschte die Welt; und Politik, Wissenschaft, Kunst, Gewerbe, kurz, alle menschlichen Tätigkeiten folgten derselben entgeistigten Richtung. Geist Luthers, wohin bist du geflohen! Du bist entwichen, weil man dich nicht mehr verstanden und dich deshalb gemisshandelt hat. Nur dein endliches Teil, das der Verwesung angehört, Namen, Form und Buchstaben hält man fest und feiert sie.
Die Geschichte ist die Lehrerin der Menschen! Was sollen wir aus der Geschichte Luthers lernen? Er hat sich frei gemacht von der römischen Knechtschaft; tun wir das auch und nehmen wir uns ihn dabei zum Vorbilde! Er hat sich frei gemacht um seiner Seligkeit willen, um Gottes willen. Und was er errungen hat, das war kein irdisches Gut. Seine persönliche Befreiung war zugleich die Befreiung des deutschen Volkes, ja es war die Befreiung der Menschen.

Wir Deutschen haben aber nicht nur Luther, wir haben noch einen zweiten Heroen, einen andern Sohn der Wahrheit und Reformator, der uns als ein leuchtendes Feuerzeichen in unserer Nacht vorangeht. Er stammt nicht von einem Bauerngeschlecht, sondern er ist im Purpur geboren. Er hat sich auch nicht auf kirchlichem Gebiete bewegt, sondern auf dem des Staates; aber er ist nicht weniger ein Reformator gewesen und hat nicht weniger zur Befreiung des deutschen Volkes vom römischen Joche beigetragen; denn er hat der Seele Luthers einen Leib geschaffen, einen Staat, der sich in einem siebenjährigen Kriege als das tüchtige Rüstzeug zum Schutze der Wahrheit und der reformatorischen Freiheit bewährt hat.

Lasst uns auf Luther und Friedrich den Großen zurücksehen, aber lasst uns nicht bloß an der äußeren Seite der Personen und Begebenheiten haften! Blicken wir durch die Erscheinung in das Wesen hinein, und wir werden Antwort erhalten auf die Fragen des Tages; wir werden Aufschluss und Kraft gewinnen zur Überwindung der Schwierigkeiten und Bedrängnisse, die uns umgeben.

Das Luthertum ist in seinem wesentlichen Bestande gegen alle inneren und äußeren Feinde, gegen jede weltliche und geistliche Macht durch seinen göttlichen Ursprung gesichert, und namentlich gegen die Anfeindungen der römischen Kirche, weil diese nicht nur aus fremder Volkstümlichkeit hervorgegangen, sondern auch selbst auf diesem fremden Grunde und Boden einem überwundenen Standpunkte angehört. Das Lebendige ist aber ein Höheres gegen das Tote, und da es sowohl Gesetz der Natur wie Gesetz des Geistes ist, dass das Höhere immer den Sieg davon trägt über das Niedere, so haben wir für den Bestand des Luthertums nichts zu fürchten. Es wird in Folge der zunehmenden intellektuellen Bildung der deutschen Völker noch manche Umwandlung im Äußeren erleben, aber sein tiefstes Wesen, der Grundsatz, welchen Luther gegen den Kardinal Cajetan geltend gemacht hat, kann nur in immer größerer Läuterung zur Anwendung gebracht werden.

Dennoch dürfen wir die Hände nicht in den Schoß legen, wenn wir den Sieg des deutschen Volksgeistes über den römischen nicht noch auf lange Zeit hinausschieben wollen, sondern müssen, wie Luther getan, mit wahrer Begeisterung ununterbrochen an der Sache Gottes und an unserer Seligkeit fortarbeiten. Dies kann aber nur geschehen, wenn wir aufrichtiger der Wahrheit dienen und ihr ausschließlicher huldigen, als wir es bisher getan haben. Am Ende des vorigen Jahrhunderts war die ganze Tätigkeit des deutschen Volkes einseitig auf die Erkenntnis der Wahrheit gerichtet, und das kirchliche wie das christliche Leben wurde darüber bei Seite geschoben. Durch die Drangsale, welche der französische Machthaber über unser Volk herbeiführte, wurden wir von einer rein wissenschaftlichen zu einer religiösen Richtung zurückgeführt, und wie lebendig und gehaltvoll diese neu erwachte Frömmigkeit ursprünglich auch war, allmählich veräußerlichte sie sich und wir gelangten in einen Zustand der Kirchlichkeit, der dem römischen nicht sehr fern liegt. Statt eines lebendigen Christentums haben wir vorherrschend ein totes Kirchentum, statt wahren Glaubens, der für das Werk des Heilandes begeistert, einen sogenannten historischen Glauben, der nur an dem Buchstaben festhält. Es ist also an der Zeit, dass wir wieder anfangen, der Wahrheit zu huldigen, und nicht mehr bloß der christlichen Liebe, die meist nur dem Scheine nach Liebe ist. Das Christentum und die Lehre Luthers ist nicht so schwach und ohnmächtig, dass sie nicht das energische Licht einer im Glauben begründeten Kritik sollte aushalten können.

Außerdem fordert es die Menschenwürde, die Ehrfurcht, die wir vor uns selbst haben müssen, dass wir mehr der Wahrheit dienen, als allen Vorteilen der Erde, allen Rücksichten der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit. Das Licht des Evangeliums, das der Heiland entzündet und das Luther von Neuem angefacht hat, soll von uns in seinem erleuchtenden und erwärmenden Glanze erhalten werden. Alle Menschen haben den Beruf, Gott in ihrem Erdendasein zu offenbaren und zu verherrlichen, aber der Deutsche hat als evangelischer Christ diesen Beruf in höherem Grade. Verschließen wir uns daher nicht vor der Erkenntnis, dass es jetzt an der Zeit ist, vor Allem dem Gotte der Wahrheit zu dienen, wie es Luther zu seiner Zeit auch getan hat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben