Magdeburg und Eisenach. 1497 — 1501.

Im Jahre 1497, als Martin im 14. Jahre stand, verließ er das väterliche Haus und die Mansfelder Schule und zog nach Magdeburg, wo die Franziskaner eine Currendschule für unbemittelte Knaben hielten. Es scheint, dass er für diesen Aufenthalt wenig Unterstützung empfangen hat, wenigstens deutet darauf eine Geschichte, die er mehrmals erzählt, und die sich vermutlich hier zugetragen hat, obwohl sie sich auch schon zu Mansfeld begeben haben könnte, was aber dasselbe beweisen würde. „Wenn Gott uns versuchet, lasset er mancherlei Hindernisse vorfallen, dass wir ihm nicht stracks unter Augen sehen: gleich als wenn Einer kurzweilig mit einem Würmlein spielt und ihm, wo es auf der Erde kreucht, etwa ein Rüthlein oder Sträuchlein vorwirft, dass es nicht könne fortkriechen, dahin es gern wollte, sondern muss sich mancherlei Weise hin und her wenden und an allen Orten versuchen, wie es doch endlich davonkommen möchte. Aber dies Spiel göttlicher Gnade und seines Wohlgefallens verstehen wir von Anfange nicht, und die Wohltaten und Gnade selbst, so uns begegnet und vor Augen gestellet wird, deuten wir zu unsern Schrecken und Verderben. Und widerfähret uns eben dasselbe, das mir vor Zeiten, da ich ein kleiner Knabe war, und meinen Gesellen, mit denen ich die Partecken gesammelt, davon wir uns bei unserm studio erhalten möchten, auch begegnet ist. Denn da wir zu der Zeit, als in der Kirche das Fest von der Geburt Christi gehalten wird, auf den Dörfern von einem Hause zum andern umhergegangen, und in vier Stimmen die gewöhnlichen Psalmen vom Kindlein Jesu, geboren zu Bethlehem, zu singen pflegten, geschah es ungefähr, dass wir vor eines Bauern Hof, so an einem Orte allein und am Ende des Dorfes gelegen war, kamen, und da uns der Bauer singen hörte, kam er heraus und fragete mit groben bäuerischen Worten, wo wir wären, und sagte: Wo seid ihr, Buben? und brachte zugleich etliche Würste mit, die er uns geben wollte. Wir aber erschraken vor den Worten sehr, dass wir alle von einander wegliefen; wiewohl wir keine rechte Ursach wussten, darum wir hätten erschrecken mögen, und der Bauer uns die Würste mit gutem geneigten Willen darreichte und geben wollte; außer dass vielleicht unsere Herzen furchtsam gewesen von täglichem Dräuen und Tyrannei, so zu der Zeit die Schulmeister mit den armen Schülern zu üben pflegten, und so viel desto leichter von solchem plötzlichen Schrecken scheu geworden sind. Endlich aber, da wir in der Flucht waren, rief uns der Bauer wieder, und wir legten die Furcht ab und liefen herzu und empfingen von ihm die Partecken, so er uns reichete.“

Das Wort Partecken ist von dem lateinischen particulae abgeleitet und heißt Teile oder Stückchen, z. B. Brodes, das die vor den Türen singenden oder bettelnden Schüler als Almosen empfingen. Luther hat dies Handwerk viel getrieben und verteidigt daher noch später diesen Brauch. Er sagt: „Keiner verachte mir die Gesellen, die vor den Türen panem propter Deum sagen und den Brotreigen singen. Ich bin auch ein solcher Parteckenhengst gewest und habe das Brot vor den Häusern genommen, sonderlich zu Eisenach, in meiner lieben Stadt.“


Er war mit einem Schulgenossen Johann Reinecke, dem Sohne eines wohlhabenden Bürgers in Mansfeld, der später selbst ein angesehener Bürger uud Hüttenmeister wurde, mit dem er auch bis zum Tode in Freundschaft und brieflichem Verkehr blieb, nach Magdeburg gewandert; aber es findet sich nicht, dass ihm von diesem seine drückende Lage erleichtert wurde, und derselbe muss hier wohl in gleich dürftigen Verhältnissen gelebt haben. Zu der äußeren Not gesellte sich auch noch Krankheit, denn Matthias Ratzeberger, sein späterer Hausarzt in Wittenberg, erzählt von ihm, was er gewiss aus seinem eigenen Munde vernommen hat, dass er in Magdeburg an einem hitzigen Fieber krank darnieder gelegen habe, und fährt dann fort: „Als er nun großen Durst leiden musste, und man ihn, das Trinken in währender Hitze entzogen, begiebt's sich einmal an einem Freitage, dass Jedermann nach Essens zur Predigt ist gangen und ihn im Hause gar allein gelassen. Als er sich nun des Durstens nicht länger hat wissen zu erwehren, kreucht er auf Händen und Füßen abwärts in die Küche und ergreift daselbst ein Gefäß mit frischem Wasser, trinket dasselbe mit großer Lust aus und machet sich also schwach auf Händen und Füßen wieder in sein Losament, das er kaum hat erreichen können, ehe das Volk wieder aus der Kirchen ist kommen. Auf diesen Trunk ist ihn ein harter Schlaf ankommen, und das Fieber hernach gar außen blieben.“

Der wissenschaftliche Unterricht, den der Franziskanerschüler zu Magdeburg genoss, war gewiss umfassender, als der zu Mansfeld; allein sehr fördernd und einflussreich muss er doch nicht gewesen sein, sonst würde Luther später, wo er sehr viel von seiner Entwicklung und seinem Bildungsgange spricht, dessen erwähnt haben, was durchaus nicht geschieht. Selbst von einem bedeutenden Eindrucke des mächtigen, zum Hansebunde gehörigen und in höchster Blüte stehenden Magdeburg, dessen 40.000 Einwohner zu den gebildetsten von Norddeutschland gehörten, ist nirgends die Rede, und die düstere mönchische Richtung, die er in Mansfeld angenommen hatte, blieb in ihm vorherrschend. Das freiere, großartigere bürgerliche Leben und die kaufmännische Welt blieben ihm gänzlich verschlossen, und seine späteren Erinnerungen beziehen sich ausschließlich auf klösterliche und kirchliche Vorfälle und Erscheinungen. Von den großen Entdeckungen der Spanier und Portugiesen, von Amerika und Indien ist nie ein Wort erwähnt, und doch ist anzunehmen, dass diese Begebenheiten in dem Magdeburger Kaufmannsstande eine große Aufregung veranlasst haben werden.

Der drückende Mangel, mit welchem der verschüchterte Knabe in Magdeburg zu kämpfen hatte, bestimmte ihn, die reiche und blühende Handelsstadt zu verlassen und nach Mansfeld zurückzukehren, nachdem er daselbst kaum ein Jahr dem Schulunterricht obgelegen hatte. Es wurde im Rate der Familie beschlossen, dass er sich nach Eisenach wenden sollte, wo auch gute Schulen waren, und wo, was hier hauptsächlich ins Gewicht fiel, viele Verwandte, namentlich der Mutter, lebten, welche ihm die Beschaffung des Unterhalts erleichtern konnten. Er zog vermutlich zu Anfang des Jahres 1498 dahin und trat in die lateinische Schule der Georgenkirche, welcher der Meister oder Rektor Trebonius vorstand, als Schüler ein. Rücksichtlich des Unterrichts selbst scheint ihm dieser Wechsel sehr günstig gewesen zu sein; denn obwohl dies nicht ausdrücklich gesagt wird, so geht doch aus der ganzen Art, wie Luther sich später über seine Entwicklung äußert, deutlich hervor, dass er hier bedeutende Fortschritte gemacht habe. Allerdings beschränken sich die Kenntnisse, von deren Wachstum und Erweiterung die Rede ist, nur auf die lateinische Sprache; allein dies war auch vornehmlich der Gegenstand, mit dem ein junger Mann vertraut sein musste, der die Universität besuchen wollte. Dazu kam, dass der Vorsteher Trebonius einer freieren Anschauungsweise des Lebens zugewendet war und die Schüler mit mehr Humanität behandelte, als es die düstern Mönche zu tun pflegten. Luther rühmt von ihm, dass er die Schüler beim Eintritt in die Klasse mit Abnahme seiner Kopfbedeckung begrüßt, und dass er zu seinen Schulgehilfen, die dies nicht taten, gesagt habe: es sitzen unter diesen Knaben Leute, aus welchen Gott Bürgermeister, Kanzler, Doctores und obrigkeitliche Personen macht, ob Ihr es auch jetzo nicht sehet: Ihr sollet sie darum billig ehren.

Die äußere Lage des Knaben war dagegen um nichts besser, als in Magdeburg. Die Verwandten konnten oder wollten nichts für ihn tun, und er war rücksichtlich des Erwerbes seines Unterhalts hauptsächlich wieder auf die Unterstützung fremder Leute angewiesen. Er musste sich sein Brot als Currendschüler vor den Türen der Häuser ersingen und erbetteln. Diese Zustände wirkten so verdüsternd und niederdrückend auf ihn, dass er daran dachte, nach Hause zurückzukehren, die Beschäftigung mit den Wissenschaften aufzugeben und Bergbauer zu werden, was sein Vater war. Indessen sollte ihm nun eine freundlichere Sonne aufgehen. Eines Tages hatte er vor drei Türen herbe Zurückweisungen erlitten, was ihn mit der tiefsten Niedergeschlagenheit erfüllte. Der Chor, in welchem er sang, ging weiter und stellte sich vor dem Hause Konrad Kottas, eines wohlhabenden Bürgers, auf. Die Frau dieses Mannes, Ursula Kotta, war schon früher auf ihn aufmerksam geworden, und hatte „um seines Singens und herzlichen Gebets willen in der Kirche eine sehnliche Zuneigung zu dem Knaben“ gefasst. Sie rief ihn herein, befragte ihn nach seinen Verhältnissen, von denen sie bis dahin nichts gewusst hatte, beschenkte ihn reichlich und nahm ihn nach einigen Tagen in ihr Haus, aus welchem er auch vor seinem Abgang zur Universität nicht wieder schied. Dies war ein großer Glückswechsel. Der arme, traurige Knabe begann ein neues Leben; seine natürliche Heiterkeit kehrte zurück, ohne dass dadurch seiner frommen, ernsten Gesinnung Eintrag geschehen wäre. Er lernte nur um so eifriger und zeichnete sich durch Fleiß und gutes Betragen vor seinen Mitschülern aus, so dass er auch der Liebling seiner Lehrer wurde. Die gute Frau Kotta behandelte ihn wie ihr eigenes Kind und ließ ihn auch, da sie seine Freude an der Musik wahrnahm, im Flötenspiel und im Tonsatz unterrichten. Auch das Schlagen der Laute, womit er seinen Gesang begleiten konnte, scheint er hier zuerst getrieben zu haben, und die Liebe zu Musik und Gesang blieb durch sein ganzes Leben so vorherrschend in ihm, dass er sich in ihrem Lobe nicht erschöpfen kann. Er stellt die musikalische Bildung der religiösen rücksichtlich ihres Einflusses auf sittliches und frommes Leben gleich. Sie sei eine kostbare Gottesgabe und vertreibe, was schon die Propheten gewusst hätten, viele Anfechtungen; sie sei einem betrübten Menschen das beste Labsal, dadurch das Herz wieder zufrieden, erquickt und frisch werde; sie gebiete und regiere die menschlichen Affekte, sie schrecke die Hochmütigen, flöße den Rasenden Ruhe und Frieden, den Gehässigen Sanftmut ein und gebe die prophetischen Gaben und den Trieb zu allen Tugenden.

Die Musica, sagt er ferner, sei den bösen Geistern unleidlich und bewirke, was sonst die Theologie allein bewirkt, dass sie Ruhe und einen fröhlichen Mut verleihe, weshalb auch der Satan, ein trübseliger Geist, der Traurigkeit, Sorge und unruhiges Lärmen stiftet, aller Musica Feind ist und vor ihrem Klang ebenso fliehet, wie vor dem göttlichen Worte, besonders vor dem Gesang geistlicher Lieder und Psalmen.

So wurde dem jungen Luther durch seine gütige Pflegemutter das Gebiet der Kunst eröffnet, auf dem er bis zu seinem Tode heimisch blieb. Am Meisten aber ist er und sind wir Alle der vortrefflichen Frau unsern Dank schuldig, dass sie in ihrem Zöglinge das Gefühl für die Würde und Rechte der Frauen erweckte. Bis dahin hatte er nur die allgemein herrschende und von Geistlichen und Mönchen täglich neu begründete Ansicht vernommen, dass der Weg zum Himmel nur durch ein eheloses Leben führe. Er sagt später noch: „Da ich ein Knabe war, weiß ich, dass wegen des gottlosen und unreinen ehelichen Lebens der Ehestand dermaßen berüchtigt war, dass ich dafür hielt, ich könnte ohne Sünde an das eheliche Leben nicht wohl gedenken. Denn das hatte man allen Menschen also eingebläuet; es hielten auch Alle dafür, dass, wer da in einem heiligen, Gott angenehmen Stande leben wollte, der müsste außer der Ehe leben und das Gelübde des ehelosen Standes leisten.“ Diese, dem deutschen Wesen, wie dem Christentum gleich widersprechende Auffassung hatte Frau Kotta gewiss aus seinen Reden wahrgenommen, und sie sagte daher einst in seiner Gegenwart, wie er selbst berichtet: „Es ist kein lieber Ding auf Erden, denn Frauenliebe, wem sie in Gottes Furcht mag werden.“ Dies Wort fiel ihm tief ins Gemüt, und er hat sich bis in seine spätesten Jahre daran erinnert und damit beschäftigt und in Folge davon in der evangelischen Kirche die Frauen und das eheliche Leben so wieder zu Ehren gebracht, wie sie damals in der römischen Kirche in Verwerfung und in Unehren gehalten wurden. So wurde Frau Ursula nicht nur die leibliche, sondern auch die geistige Wohltäterin ihres Zöglings, und wohlbegründet verbreitete und erhielt sich die Sage: Gott habe sie nach Martins Aufnahme in ihrem Hause mit seltenem Glücke gesegnet. Sie starb 1511.

Am 17. Juli 1501, als er beinahe 18 Jahre alt war, verließ Luther das schön gelegene, an Geschichte und Sagen reiche Eisenach, worin er so viel Gutes gelernt und genossen, wo er so viele Samenkörner in sein Gemüt und in seinen Geist aufgenommen hatte, die erst später zu fruchtbaremLeben erwachsen und erblühen sollten, wo ihm zuerst die Welt in einem milden, erfreuenden und erwärmenden Lichte erschienen war. Voll von Hoffnungen war er dahin gekommen, aber sie hatten sich bald als trügerisch gezeigt. Von Neuem fiel er der Sorge und dem Elende und der Traurigkeit anheim, und schon war er im, Begriff gewesen, seinen Gelehrten-Beruf aufzugeben, als das fromme Auge einer edlen deutschen Frau den Genius ahnend erkannte, der in dem armen, verdüsterten und unansehnlichen Currendeknaben seinen Träger gefunden hatte. Zeitlebens nannte er Eisenach nicht anders als: „meine liebe Stadt.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben
Abb. 008. Das Lutherhaus zu Eisenach.

Abb. 008. Das Lutherhaus zu Eisenach.

Luther, die Schule

Luther, die Schule

alle Kapitel sehen